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Mein Sohn
Ein Vogel flog vorbei. War es ein Falke? Ein Adler? Ich wusste es nicht. Aber ein Raubvogel war es, sein Schnabel war gebogen und scharf. Ein schreckliches Gefühl von Verlassenheit kam über mich, Wut erfüllte mich bis tief ins Herz. Wie wenn der Vogel mir gezeigt hätte, dass ich nur ein kleines Nichts war. Ich schrie, schrie wie ein Schwein in Todesgefahr. Meine Hände umfassten die kalten Gitterstäbe, die mich davon abhielten, wieder saubere Luft zu atmen. Mich davon abhielten wieder frei zu sein. Hier drin war die Luft grauenhaft. Es roch nach Schweiss und nach Blut, nach Kot und Urin. Die Luft war stickig und heiss. Mir schwindelte. Ich setzte mich auf die Pritsche. Sie war hart, doch immerhin konnte ich mich hinlegen. Nicht, dass ich nicht schon bessere Betten gehabt hätte. Ich lachte. Lachte wie eine Verrückte, ich lachte mich selber aus. Schlussendlich lag ich auf der Strohmatte. Ausgepumpt und müde. Meine Schultern zuckten, ich atmete schnell und unregelmässig. Tränen liefen über meine eingefallenen Wangen. Alle schrecklichen Erlebnisse kamen wieder über mich; und niemand war da, der mich hätte trösten können. Ich fragte mich wohl zum hundertsten Mal, von wem das Kind sei. Mein Kind. Mein Sohn, den sie mir genommen hatten. Ich wollte nicht heulen, wollte stark sein. Aber erneut verscheuchte ein Tränenausbruch alle meine Gedanken. Ich keuchte, weinte und schrie wie es nur eine hilflose Mutter tut. Das rostige Schloss an der Tür klackte, als jemand einen Schlüssel hineinsteckte. Ich drehte mich auf den Rücken und schloss die Augen. Niemand sollte mich sehen und denken, ich hätte Angst vor meinem Schicksal. Das stimmte nämlich nicht. Ich hatte keine Angst um mich. Nur um meinen Sohn. Die Tür quietschte. Ich sah nicht hin, doch ich versuchte mit meinen Ohren zu hören. Sie waren zu dritt: Die Wache und die zwei Henker. Jemand kam auf mich zu, die anderen beiden unterhielten sich gedämpft. "Steh auf!", knurrte der Mann der mir am nächsten war. "Na wird's bald?!" Langsam öffnete ich die Augen und setzte mich auf. Die Wache packte mich am Arm und schleppte mich zur Tür. Dort griffen mir die Henker unter die Arme und zogen mich mit. Meine Füsse wollten mich nicht mehr tragen. Doch die Männer schleiften mich auf dem kalten Lehmboden weiter. Die Gesichter meiner Mörder sah ich nicht, sie verschwanden im Schatten ihrer Kapuzen. Der Steinkorridor war nicht lang, aber dunkel und kalt. Dann traten wir aus einer Tür. Die Sonne blendete mich. Ich sah den Strick hängen. Sah die Menschenmasse. Ich musste eine Treppe hochsteigen, auf eine hölzerne Bühne. Jede Bewegung schien dreimal so lange zu gehen, jedes Bild verlangsamte sich vor meinen Augen. Ich spürte, wie einer der Henker mir die Hände auf dem Rücken zusammenband. Spürte, wie mir der Andere die Schlinge um den Hals legte. Ein Mann öffnete eine Rolle Pergament und begann abzulesen, weshalb ich hier stand. Ich sah hinaus in die Menschenmenge. Ich wusste ja, weshalb mir diese kratzige Schlinge um den Hals lag. Mein Blick bedachte kurz jede Person auf dem überfüllten Platz. Das Kinn hatte ich angehoben, ein leises, verführerisches Lächeln lag auf meinen Lippen und meine Augen sprühten Funken. So war ich oft dagestanden. Vor verabscheuungswürdigen, respektlosen Männern. Plötzlich blieben meine Augen auf einem Mann ruhen. Als er meinen Blick bemerkte, senkte er den seinen und lief rot an. Er erkannte mich wieder. Er fühlte sich schuldig, oh ja. Doch nicht nur seinetwegen sollte mein Leben jetzt zu Ende sein. Mein Gehirn schwirrte. Der einzige Gedanke den ich noch klar fassen konnte, war die Erinnerung an meinen Sohn. Der Mann hatte fertig gesprochen und trat zurück. Das Volk drängte sich näher ans Geschehen. Ich schloss die Augen. Da hörte ich eine helle Stimme von weit weg: "Mama!!!" Ich öffnete die Augen, sah einen Jungen aus einer Gasse stürmen und spürte im selben Augenblick keinen Boden mehr unter den Füssen. Ich wollte ihm noch etwas zurufen, doch zu spät. Ich fiel nicht weit, das Seil fing mich auf. Ich hörte nicht einmal mehr das Knacken, als mein Genick brach.