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Mein rechtes Ohr
Ich bin Rechtsträgerin. Was den Scheitel betrifft. Das bedeutet, dass mein Pony nach links liegt und mein rechtes Ohr frei von Haaren ist. Bei meinem Friseur nehme ich gelegentlich als Modell an Seminaren teil. Dann kostet der Schnitt nichts. Dabei weiß man nie, an wen man gerät. Ich wusste mittlerweile nur: die Friseurinnen und Friseure halten sich mit Vorliebe an meinem rechten Ohr auf. Denn das ist zu sehen, weil der Pony ja links liegt. Und deshalb muss es immer sorgfältig freipräpariert werden, das rechte Ohr. Sehr sorgfältig. Dieses Mal gerate ich an Ali.
Ali hat einen unfassbar erotischen, männlich markanten Geruch und eine unfassbar fiepsige Mickey Mouse-Stimme. Dabei ist es mir ganz egal, wie Ali aussieht. In meiner kleinen bunten Schubladenwelt sind alle Friseure schwul, deshalb muss ich sie nicht auf ihre Attraktivität hin überprüfen. Und so steht Ali dicht neben mir am Waschbecken, denn die befinden sich in meinem Salon hinten an der Wand, steht an meinem rechten Ohr, duftet und redet. Sein erotisierender Wohlgeruch lässt alles in mir prickeln und seine Stimme lässt alles in mir sich zusammenziehen. Ich habe die Augen geschlossen, genieße seine fest zupackenden Hände, die massierenden Finger auf meiner shampoonierten Kopfhaut, das ein bisschen zu heiße Wasser, wie es meinen Nacken hinabtröpfelt und sauge Alis Geruch in mich ein, während ich gleichzeitig tapfer zu ignorieren versuche, wie Mickey Mouse etwas aus Alis Leben erzählt.
Dann nehme ich vor dem Spiegel Platz.
„Wie trägst du deinen Scheitel?“, fragt mich Mickey Mouse.
„Rechts“, sage ich.
„Okay“, antwortet Mickey Mouse und Ali kreuzt die Arme vor der Brust, schiebt ein Bein in den Kontrapost und tippt sich dann mit dem Kamm an die Lippen, die er zu einem ganz entzückenden Schmollmund verzogen hat.
„Mh“, macht Mickey Mouse, „mh, mh, dann trägst du den Pony also links? Und das rechte Ohr bleibt frei? Mh.“
„Genau“, bestätige ich und nestele meine Hand unter dem Umhang hervor, um mich im Nacken zu kratzen, wo Wassertropfen aus meinen Haaren hinperlen.
„Mh, weißt du was wir machen?“, fragt mich Mickey Mouse: „Wir präparieren das rechte Ohr mal frei.“
'Ja, wie immer', denke ich: „Ja, ist gut“, sage ich und reibe es, weil mich jetzt schon die kleinen Härchen dort kitzeln, obwohl Ali noch gar nicht mit dem Schneiden angefangen hat. Der löst sich nun aus seiner Haltung, tritt an mich heran und beginnt, mein rechtes Ohr zu kämmen.
„Also“, fährt Mickey Mouse dabei fort: „Wir machen das so. Und so und so und dann so. Was hältst du davon?“ Schweige und dufte, denke ich. Laut sage ich: „Ja, klingt toll.“ Also fängt Ali an zu schneiden.
Ali widmet sich sehr ausgiebig meinem rechten Ohr. Er kämmt es, zieht daran, dreht es, klappt es um, biegt es nach unten, führt zahlreiche Bewegungen aus, von denen mein Ohr immer erst bei Friseurseminaren wieder daran erinnert wird, dass es sie überhaupt beherrscht. Doch vor allem kämmt er es. Ali kämmt mein Ohr, schneidet dann ein wenig, kämmt es erneut, schneidet wieder etwas, kämmt, schneidet dann nicht, sondern betrachtet es im Spiegel, dann in echt, kämmt. Dann biegt er es wieder um, schnippelt ganz zart an den Haarfransen, kämmt wieder. Nach nicht einmal zehn Minuten ist mein rechtes Ohr warm und rot. Und Ali hört nicht auf es zu kämmen und zu drehen. Dabei duftet er die ganze Zeit wie ein Aphrodisiakum und redet mit seiner Mickey Mouse-Stimme auf mich ein, was ich allerdings nur in Auszügen verstehe, da immer wieder die Schere an meinem rechten Ohr unmittelbar vor der Muschel so laut klappert, als zerreiße jemand Papierseiten direkt in meinem Kopf. Oder er klappt das Ohr wieder zu und schnippelte hinter meinem Trommelfell, was sich anhört, als spiele jemand von innen Golf gegen meine Schädeldecke. Aber ich bin ja Rechtsträgerin. Also tut Ali nur seine Pflicht. Und der Schnitt ist umsonst. Wobei ich ihn fürs Duften vielleicht sogar bezahlt hätte. Ohne reden, selbstverständlich.
Fast zwei Stunden widmet Ali sich meinem rechten Ohr. Natürlich bezieht er auch andere Teile meines Haupthaars in seinen Schnitt mit ein. Doch die meiste Zeit hängt er an meinem Ohr. Dann ist der Look fertig. Ich bedanke mich überschwänglich, bekomme noch zahlreiche Mickey Mouse-Pflegehinweise mit auf den Weg und verlasse dann den Laden. Der liegt in einem zweiten Hinterhof. Mein Ohr glüht.
Als ich die Tür öffne, brandet mir eine entfernte Geräuschkulisse entgegen. Man hört Grölen, Trillerpfeifen, vereinzelt Trommeln, Sprechgesänge. Der Pegel schwillt in dem Maße an, in dem ich mich der Straße nähere. Wie vorhin in meinem rechten Ohr, beim Endspurt auf das Finishing, denke ich. Im vorderen Tordurchgang ist es dann unerträglich laut und es scheint den Zenit noch nicht erreicht zu haben. Als ich auf den Bordstein trete, stehe ich direkt in einer Menschenmenge. Polizisten sind auch da. Der Lärm ist nun überall. Sehen kann ich durch die Menge nichts. Ich tippe einen Passanten an.
„Was ist hier los?“, brülle ich.
„Spacken auf dem Weg zum Naziaufmarsch“, schreit der zurück. Dabei beugt er sich automatisch zu meinem rechten Ohr, wohl, weil über dem linken ja der Pony liegt.
„Ah“, mache ich, doch das hörte er wahrscheinlich gar nicht. Ich beschließe, zu warten.
Dann kommt ein Trupp Leute auf der Straße vorbei. Durch Arme und über Schultern sehe ich kahle Schädel, Springerstiefel, Fahnen mit Rot, Weiß und Schwarz. Es entsteht ein Geschiebe, Polizisten laufen irgendwo hin. Ich drängle etwas, weil ich mehr sehen will, und genau in dem Moment entsteht eine Lücke in der Menschenmenge und ich stolpere direkt auf die Straße. Dabei remple ich einen Glatzkopf an. Ich will mich reflexhaft entschuldigen, doch sofort erscheint mir das unangemessen und ich lasse es bleiben. Der Typ wirbelt zu mir herum und starrt auf mich. Seine Augen sind groß und leicht glasig.
„Du, du Tunte, deutsche Frauen tragen das Haar blond und lang!“, schreit er mir ins Gesicht. Ich klappe den Mund auf, kurz bin ich ziemlich erleichtert, dass auch hier wieder alle meine Vorurteile bestätigt werden. Dann weiß ich nicht recht, wie ich reagieren soll, eher fassungslos oder doch beleidigend oder einfach gar nicht? Ich überlege noch, da kommt eine Frau in blauer Uniform und drückt mich von der Straße wieder auf den die beiden Gruppen trennenden Bürgersteig. Davor entsteht eine Polizeikette.
„Ey, hat das Arsch dich angelabert?“, brüllt jemand in mein rechtes Ohr. 'Das Arsch?' denke ich und drehe mich um. Neben mir steht ein Typ mit dicken Dreadlocks, die er zu einem hohen Turban geschlungen hat. Dazu trägt er einen feinen Anzug, der teuer aussieht, und ein weißes Hemd. Er ist nicht unattraktiv. Ich lächle.
„Geht schon, auf dem Ohr bin ich taub“, schreie ich zurück. Er zieht die Brauen nach oben und macht eine Geste, der ich entnehme, dass er wohl nichts verstanden hat. Stattdessen beugt er sich wieder zu mir und schreit: „Die machen mich total aggro. Echt, ich bin voll angespannt!“ Das sagt er, als würden wir über das Wetter reden. Nun sehe ich, dass er einen kleinen Anstecker in Form einer Regenbogenfahne am Revers trägt. Schade, denke ich. Keine Schublade. Aber vielleicht würde ein Besuch im zweiten Hinterhof bei Ali zu seiner Entspannung beitragen.