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Mein Nachbar, das Monster
Im Treppenhaus begegnete mir der neue Mieter von nebenan. Ein eher unscheinbar wirkender Typ, leicht untersetzt mit Brille und Geheimratsecken. Obwohl wir nur wenige Sätze miteinander wechselten, beschlich mich ein ganz eigenartiges Gefühl. Wenn mich jemand gefragt hätte: „Warum magst du deinen Nachbarn denn nicht?" Ich hätte es nicht einmal begründen können. Es war mehr ein Bauchgefühl, eine Abneigung die ich mir selbst nicht so recht erklären konnte. Aber je länger ich darüber nachdachte ... es waren seine Augen! Obwohl sein Mund lächelte, blieben seine Augen ausdruckslos. Er besaß einen finsteren Blick und war mir vom ersten Augenblick an unsympathisch.
Seufzend erinnerte ich mich an seinen Vormieter, den stets freundlichen, älteren Herrn Anton. Wir pflegten einen netten, nachbarschaftlichen Kontakt. Man war sich gegenseitig behilflich. Während ich ab und zu Botengänge für ihn übernahm, kümmerte er sich im Gegenzug um meine Blumen und den Briefkasten, wenn ich einmal verreist war. Mit zunehmenden Alter wurde Anton leider immer gebrechlicher und zog es schließlich vor, in ein Altersheim zu gehen. Seitdem wohnte ich nun Tür an Tür mit Bernd Hansen und musste mich wohl oder übel damit abfinden. Mir war gar nicht wohl dabei. Tagsüber war ich in meinem Büro so ausgelastet, dass mir kaum Zeit blieb, einen Gedanken an den neuen Nachbarn zu verschwenden. Auf dem Weg nach Hause fiel er mir aber zwangsläufig wieder ein und hoffte inständig, von einem Zusammentreffen mit ihm verschont zu bleiben.
Es war an einem wunderschönen, sonnigen Freitag Nachmittag, Ende Juli.
Nach einer anstrengenden Arbeitswoche wollte ich es mir noch ein wenig auf meiner Terrasse gemütlich machen. Ich bewunderte die Farbenpracht meiner blühenden Topfpflanzen, erfreute mich an der Fülle der Hänge-Begonien; zupfte hier und da welke Blüten und Blättchen ab. Schließlich nahm ich ein gutes Buch zur Hand und rückte meinen Liegestuhl zurecht. Dabei fiel mein Blick zufällig auf den - nur wenige Meter entfernten - Kinderspielplatz. Da entdeckte ich plötzlich meinen mysteriösen Nachbarn, Bernd Hansen! Er saß dort auf einer Bank und stierte zu einem kleinen Mädchen, das auf einer Schaukel wippte. Wie angewurzelt saß er da und seine ganze Aufmerksamkeit galt dem kleinen Mädchen. Was zum Teufel machte er da? Ein merkwürdiges Verhalten! Der ganze Typ war mir sowieso suspekt. Ich sah mich um. Gerade am Wochenende war der Spielplatz eigentlich immer sehr belebt; einige andere Erwachsene saßen auch dort unten. Ich entdeckte auch ein paar bekannte Leute. Frau Meyer aus dem Stock über mir war da, aus dem Nachbarhaus Frau Werner mit ihrem Mann und noch zwei ältere Damen, die eine Straße weiter wohnten. Ich musste mir keine Sorgen machen. Bernd Hansen war unter Aufsicht. Zufrieden nahm ich auf meinem Liegestuhl Platz. Etwa eine halbe Stunde später hatte ich Lust auf eine Erfrischung und erhob mich wieder, um das Getränk zu holen. Ein kurzer prüfender Blick nach unten zeigte mir, dass er inzwischen wohl Kontakt zu dem Mädchen aufgenommen hatte. Sie zeigte ihm gerade eine Puppe und er lächelte das Kind an. Jetzt sprach er sogar mit ihr und die Kleine klatschte in die Hände und tanzte fröhlich um ihn herum. Sahen andere denn nicht, wie er sich immer mehr an die Kleine “ranmachte“? Warum nahm eigentlich sonst niemand Anstoß daran? Niemand schien sich dafür zu interessieren. Keiner der anwesenden Erwachsenen nahm Notiz davon. Warum nur beschlich mich schon wieder so ein unangenehmes Gefühl? Ich zog mich ein wenig in den Schatten zurück, um unbemerkt zu bleiben. Mein Nachbar hatte nur Augen für das Kind. Was um ihn herum geschah, davon bekam er nichts mit. Unentwegt beobachtete er sie. Normal war das nicht!
Plötzlich machte sich ein erschreckender Gedanke in meinem Kopf breit und ließ mich nicht mehr los! Ich versuchte den Gedanken - wie eine lästige Fliege - zu verscheuchen. Es gelang mir nicht!
Ich rührte mich nicht von der Stelle, behielt den Nachbarn im Auge und wartete, was weiter passieren würde. Eben wurde die Kleine von anderen Kinder mitgezogen. Völlig unbekümmert lief sie hinter einem kleinen Jungen her zur Rutschbahn und stieß dabei kleine, glückliche Jauchzer aus. Mein Nachbar verfolgte das Mädchen mit seinen Blicken. Ich empfand die ganze Situation Angsteinflößend.
"Julia, Julia", ertönte da eine Stimme und das Mädchen lief auf eine junge Frau zu, stürzte sich in ihre Arme und schmiegte sich fest an sie. Gemeinsam verließen sie dann Hand in Hand den Spielplatz. Erleichtert atmete ich auf! Die Kleine winkte noch einmal über die Schulter zu dem Mann auf der Bank zurück, was ihrer Mutter jedoch entging. Mit langsamen, fast schleppend wirkenden Schritten, entfernte sich auch mein Nachbar vom Kinderspielplatz.
Durch meinen Türspion sah ich ihn kurz darauf in der gegenüberliegenden Wohnung verschwinden.
Am nächsten Tag war ich schon früh auf den Beinen und nachdem ich ein paar Wochenendeinkäufe getätigt hatte, zog es mich wieder auf die Terrasse. Einige Kinder tummelten sich bereits auf dem Spielplatz und es herrschte ausgelassenes Treiben. Fröhliches Kinderlachen drang zu mir herüber. Der Vorfall gestern hatte mich beunruhigt. Immer wieder warf ich einen Blick auf den Spielplatz. Was, wenn meine Vermutung stimmte? Die Kinder wären in Gefahr! Durch mein "Wissen" fühlte ich mich für die spielenden, unschuldigen Kinder verantwortlich. Ich würde ein Auge auf den Knaben haben. Und tatsächlich! Ich musste gar nicht lange warten, da sah ich ihn um die Ecke kommen. Spätestens jetzt machte ich mir wirklich Sorgen! Das "Monster", wie ich ihn insgeheim nannte, ließ sich auf einer der zahlreichen Bänke nieder, die rund um den Kinderspielplatz gruppiert standen. Teilnahmslos und in vornübergebeugten Haltung saß er da. Er schien erst aus seiner Lethargie zu erwachen, als unverhofft die kleine Julia die Szenerie betrat. Mir wurde bewusst, dass er anscheinend nur auf dieses Kind gewartet hatte! Ich verspürte eine leichte Gänsehaut, die sich vom Hals zur Schulter, bis über meine Arme ausbreitete. Als ich hörte, wie er die Kleine mit ihrem Namen ansprach und zu sich rief, gingen sämtliche Alarmglocken bei mir an. Er zog ein kleines, buntes Päckchen aus seiner verschlissenen Jeans und überreichte es dem Mädchen. Die Kleine wickelte das Geschenk aus und ein undefinierbares "Etwas" glitzerte in der Sonne. Ich konnte nicht erkennen, was es war. Sie strahlte ihn an und und er tätschelte etwas unbeholfen ihren Kopf. Kurz darauf verschwand er ebenso schnell, wie er gekommen war.
Vorsichtshalber blieb ich noch auf meiner Terrasse und wartete, bis irgendwann auch endlich die Mutter der Kleinen erschien. Wäre es nicht meine Pflicht, sie zu warnen? Mein schrecklicher Verdacht nahm in meinem Kopf immer mehr Gestalt an. Alles passte zusammen! Diese kalten Augen, das Umhergeschleiche bei den Kindern. Das alles ließ nichts Gutes verheißen. Irgendwo in meinem Hinterkopf tauchte das Wort "Pädophile" auf und ließ mich nicht los. Meine Gedanken überschlugen sich und kreisten um den Mann von nebenan. Noch gab es keine Beweise und vorläufig würde mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als ein wachsames Auge auf ihn zu haben!
Am Sonntag regnete es und der Kinderspielplatz blieb verwaist.
Trotz des schlechten Wetters sah ich das "Monster" mit übergestülpter Kapuze wieder am Spielplatz herumlungern. Unter dem Schutz eines Baumes rauchte er eine Zigarette und blies kleine Kringel in die Luft. Was mochte in seinem kranken Hirn vor sich gehen? Mich fröstelte! An diesem Abend konnte ich schlecht einschlafen. Ich suchte nach einer Lösung meines Problems. Wem sollte ich mich anvertrauen?
Konnte man (sollte man!?) jemanden nur aufgrund eines Verdachts anzeigen?
Noch lange wälzte ich mich ruhelos im Bett hin und her, aber der ersehnte Schlaf wollte und wollte sich nicht einstellen.
Der Montag war wieder strahlend schön. Ich sehnte den Feierabend herbei, damit ich endlich meinen "Spionierposten" einnehmen konnte. Auf meiner Terrasse angekommen, traute ich meinen Augen kaum! Bei dem Bild, das sich mir bot, fühlte ich eine leichte Übelkeit aufsteigen. Die kleine Julia hockte fröhlich plappernd neben dem "Monster" und er hielt ihre kleinen Händchen in seinen Pranken. Hatte dem Kind denn niemand beigebracht, dass man mit fremden Männern nicht sprechen und schon gar nichts von ihnen annehmen durfte? Mir war ganz elend zumute. Was mochte der Kerl im Schilde führen? Die Sorge um das Kind ließ mir keine Ruhe. Ich musste mit allen Mitteln verhindern, dass er der Kleinen etwas zuleide tat. So schnell ich konnte, verließ ich meine Wohnung und lief den beiden entgegen. Als ich dort völlig außer Puste ankam, war von dem “Monster“ nichts mehr zu sehen. War er auf mich aufmerksam geworden und fluchtartig von der Bildfläche verschwunden? Erschöpft ließ ich mich auf eine Bank sinken. Die kleine Julia hüpfte selbstvergessen, auf einem Bein balancierend, vergnügt im Sandkasten herum. Das Geschenk des “Monsters“, ein kleines goldfarbiges Herzchen, baumelte um ihren Hals und hüpfte bei jeder Bewegung mit ... auf und ab.
Ein junges Pärchen - einen Kinderwagen vor sich herschiebend - steuerte auf den Spielplatz zu. Ich kannte die Frau. Sie arbeitete beim Supermarkt hier um die Ecke als Kassiererin. Ihr etwas älterer Sohn kam mit einem Ball angesprungen und warf ihn seinem Vater zu. Nach einer Weile gesellten sich noch zwei weitere Frauen dazu. Eine davon war Frau Werner aus dem Nachbarhaus. Sie unterhielten sich miteinander und sahen dabei ihren spielenden Kindern zu. Ich musste mit jemanden darüber reden, wollte wissen, ob mein Nachbar und sein merkwürdiges Verhalten vielleicht doch aufgefallen war. Ich fasste mir ein Herz und ging hinüber. Noch etwas unschlüssig, wie ich das Gespräch beginnen sollte, stand ich etwas verlegen vor ihnen. Frau Werner begrüßte mich zuerst und stellte mich dann den anderen vor. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und fragte: „Entschuldigen Sie bitte, kennt jemand von Ihnen vielleicht zufällig meinen Nachbarn, Herrn Hansen?“ „Ja sicher, den armen Bernd kenne ich gut!“ , antwortete eine Dame, die mir als Frau Becker vorgestellt wurde. Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. „Entschuldigung, was meinen Sie mit der arme Bernd?“ , fragte ich nach. Einen Moment zögerte sie, aber dann siegte die angeborene Klatschsucht fast aller Menschen. Was sie dann erzählte, erregte mein Mitleid. Das Leben konnte grausam sein! Von dem tragischen Schicksal meines Nachbarn hatte ich ja keine Ahnung. Er hatte selbst eine kleine Tochter, die vor knapp einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war. Kurz danach erlag seine Frau einem Krebsleiden.
Bernd Hansen verlor die Orientierung bis ... ihm die kleine Julia begegnet war. Die Dame erzählte weiter, er hätte ihr ein Foto seiner verstorbenen Tochter gezeigt und dass sie eine verblüffende Ähnlichkeit mit der kleinen Julia habe. Die Zuneigung, die ihm die Kleine entgegenbringe, gäbe ihm Kraft.
Langsam, ganz langsam kehre ein wenig Lebensfreude zurück.
Drei Wochen später gab es nur ein Gesprächsthema ...
In einem Waldstück nicht weit vom Kinderspielplatz entfernt,
hatte man die Leiche der kleinen Julia gefunden.
Missbraucht und erdrosselt.
Nach dem mutmaßlichen Täter Bernd Hansen wird gefahndet.
Er hatte ALLE getäuscht!