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mein lyrisches Ich und Ich
„Verpiss dich, du bist ein Klischee! Ich will was Ordentliches erleben, darüber kann ich nicht schreiben!” Du schaust mich überrascht an.
Der Alte aber, dem meine Worte gelten, lacht nur und fiedelt weiter auf seiner Geige. Die Jahre zogen tiefe Furchen durch sein Gesicht, solcherart, wie ich sie bisher nur bei den Bewohnern ländlicher Gebiete sah. Sie sind tiefer und charaktervoller, als die unserer städtischen Artgenossen. Der einäugige Alte zwinkert mir zu, bevor er seinen wilden Tanz um das Lagerfeuer wieder aufnimmt, fiedelnd und kichernd.
Unsere Reise führte uns auf diese Insel, welche für ihre urigen Feste berühmt ist. Nun stehen wir auf dem Gipfel eines Berges und trinken mit den Ureinwohnern auf die Schönheit des Lebens.
Du lächelst mich an. "Dieser Abend ist ein guter Grund auf der Erde zu sein, was?”
Ich schüttele den Kopf.
“Das ist ein Klischee, Mann, so was gibt’s doch gar nicht. Lagerfeuer, griechischer Wein, und zur Krönung: dieser einäugige Geiger... die Realität verarscht uns doch.”
Als ich aufblicke, tanzt du um das Lagerfeuer herum, streckst die Arme zum Himmel und singst mit betrunkenen Griechen melancholische Liebeslieder.
Die untergehende Sonne färbt den Himmel zartrosa, ein paar Vögel gleiten anmutig zum Horizont. Drei wunderschöne Delphine springen gleichzeitig aus dem Wasser und tauchen nach einem atemberaubenden Salto wieder ein.
Die Szenerie hat einen Reiz, der mich in seinen Bann ziehen möchte. Doch bevor der rosa Horizont meine Gefühlswelt assimiliert, springt ein inneres Notfallsystem an.
Ich rülpse zweimal laut, dann erwäge ich meine Hosen herunterzulassen, einfach, um zu prüfen ob der Kitsch an geballter Seltsamkeit zerbrechen könnte. Der Kitsch-Grundlevel ist durch die schöne Feier in der wunderbaren Umgebung hoch.
Wenn ich meinen Hintern entblöße, mir einen Kürbis auf den Kopf setze und griechischer Wein singe, dann würden die Antiteilchen, die so ein Verhalten produziert, mit den Rosamunde-Pilcher-Wirklichkeits-Teilchen kollidieren. Im besten Fall entstände ein Dimensionsriss, der die Welt in den Abgrund zerrte.
Das wäre mal ein Anlass für ein Gedicht: der Weltuntergang. Bestimmt würde es gut werden. Zumindest gäbe es wahrscheinlich niemanden mehr, der das Gegenteil behaupten könnte.
Das einzige jedoch, was untergeht, ist die Sonne. Über den Sonnenuntergang zu schreiben käme aber - aufgrund meiner derzeitigen Ideenlosigkeit - einem lyrischen Selbstmord gleich.
Auf dem Poesie-Grabbeltisch liegen meine Werke bereits in genügender Zahl. Diesen Kelch lasse ich an mir vorüberziehen.
Ärgerlich werfe ich unserem untergehenden Zentralstern einen Stein hinterher.
Dann tippt mir jemand auf die Schulter. Als ich mich umdrehe, sehe ich mein lyrisches Ich.
Es überrascht mich nicht, sie hier zu treffen. „Du bist wegen des kitschigen Abends hier, ne? Kannst gleich wieder gehen, ich hab Migräne.”
Mein lyrisches Ich hebt den mahnenden Zeigefinger, legt ihn an die Lippen und lüpft den Rock, die Nimmersatte.
“Vergiss es, ich gebe doch nicht zu jedem Mist meinen Senf dazu.”
Milde lächelt sie mich an, sie kennt mich besser. Ihr Lächeln zerschmilzt meine Gegenwehr, wahrscheinlich hatte ich nie eine echte Chance.
Bald streicheln meine Hände ihre Haut, die sich wie Seidenpapier anfühlt, bevor ich meinen Füller tief in das Tintenfass stoße, um den neuesten Erguss zu produzieren.
Eine anstrengende Stunde später, von der ein paar Minuten schön waren, geht sie, schwanger mit einem neuen Gedicht.
“Das Kind kannst du gleich auf den Grabbeltisch zu den anderen legen, dass du es weißt - ich werde es nicht anerkennen!”