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Mein letzter Arztbesuch
Vor genau einem Jahr bin ich das letzte Mal zu einem Arzt gegangen. Dieses Schlüsselerlebnis steht mir heute deutlich vor Augen.
***
Mein Kopf dröhnt, meine Nase läuft, ich fehle jetzt schon zwei Stunden in der Firma und wenn ich meinem Chef bis zum Mittag keine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlege, wird mir ein Tagelohn abgezogen. 'Wirkt schneller als Kündigung', sagt mein Chef immer. Also schleppe ich mich zum Medcenter. Als ich in den gediegen und ansprechend gestalteten Empfangsraum komme, werde ich an dem schweren Mahagonitresen sofort bedient. Eine modisch gekleidete und gestylte Arzthelferin mit Modelfigur empfängt mich:
"Guten Tag, Ihre Chipkarte."
Ich gebe ihr die Karte und sie schiebt sie in einen Schlitz an ihrer Tastatur. Nach kurzem Blick auf den Bildschirm offeriert sie mir:
"Sie sind berufstätig, also können sie frei wählen. Bei der bevorzugten Behandlung für 50 Euro beträgt Ihre Wartezeit im Augenblick 3 Minuten. Ich kann Ihnen auch die Standardbehandlung anbieten. Die Wartezeit im First-Class-Room für Erwerbstätige beträgt zur Zeit drei Stunden. Sie bezahlen dann 10 Euro."
"Und wenn ich gar nichts bezahlen möchte?" schniefe ich.
"Wollen Sie sich zu den Erwerbslosen gesellen? Dann können Sie sich im Wartesaal anstellen. Sie haben im Augenblick gute Aussichten, heute Abend noch dranzukommen. Wenn es nicht klappt, bekommen Sie morgen früh einen reservierten Platz in der Warteschlange. Aber denken Sie bitte daran, dass ihr Platz verfällt, wenn Sie die Schlange verlassen."
Ich fühle mich zu miserabel um lange zu warten, also nehme die Spezialbehandlung für 50 Euro. Ich habe auch schon auf den Holzstühlen im First-Class-Room gesessen. Aber die weichen Sessel sind für die Menschen mit bevorzugter Behandlung reserviert. Da werden sie nicht so schnell abgenutzt. Tatsächlich dauert es nur zwei Minuten, dann werde ich schon von einem weiteren Schwestern-Model in den Aufnahmeraum gerufen. Sie hat wahrscheinlich schon meine Akte auf dem Bildschirm, denn sie fragt mich gleich:
"Möchten Sie wieder zu Dr. Bronkmann? Sie waren dieses Jahr schon zweimal zur Behandlung, da bezahlen Sie mit Rabatt für den Fünf-Minuten-Check nur 75 Euro. Ich kann Ihnen heute auch ein ganz besonders Schnäppchen anbieten, ein Sechs-Minuten-Gespräch bei Professor Doktor Doktor Hergolzmeier-Lübenstedt für sagenhafte 150 Euro statt der üblichen 560." Sie schaut mich erwartungsvoll an.
"Ich brauche nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, also Rein-Raus reicht mir völlig."
"Was bitte?"
Jetzt habe ich sie aus dem Konzept gebracht. Sie hat bitte gesagt! "Ich möchte nur schnell rein zum Arzt, meine Bescheinigung bekommen und schnell wieder ins Bett."
Jetzt lächelt sie sogar.
"Sie sind tatsächlich ein Mensch", stottere ich.
Sofort wird sie ernst und schaut mich strafend an: "Private Gespräche sind nicht gestattet. Ich habe etwas besonders Preiswertes für Sie. Unser junger Assistenzarzt ist wirklich sehr geschickt und sie bezahlen nach Zeit: zwei Euro pro Minute zuzüglich fünf Euro für die Bescheinigung."
"Das nehme ich." Ich darf gleich durch die Tür Vier weitergehen. Hier erwartet mich der junge Assistenzarzt. Er schaut auf seinen Bildschirm. "Eine AU, bezahlt haben Sie. Machen Sie den Mund auf. Sagen Sie A. Ich schreibe Sie für fünf Tage krank. Oder möchten Sie eine Verlängerung um drei Tage für 50 Euro?"
"Danke, mehr als fünf Tage kann ich mir gar nicht leisten, der Lohnabzug steigt in meiner Firma jeden Tag um zehn Prozent."
Der Arzt hört mir ohne Bezahlung ohnehin nicht zu, gibt mir die Bescheinigung und weist schweigend auf die Ausgangstür.
Dort wartet schon ein Supermodel auf mich: "Sozialmedizin können Sie sich beim Sozialcenter abholen. Aber wir empfehlen Ihnen das wirkungsvolle Schnupfenspray für 12,90 Euro und die ökologischen Kautabletten gegen Husten für 17,80 Euro. Oder beides im Bundle mit einem Päckchen Salbeitee zum Inhalieren für glatte 25 Euro."
"Danke, ich habe noch alle Medikamente."
"Dann unterzeichnen Sie die Rechnung. Hier ist Ihre Chipkarte. Kommen Sie bald wieder." Und schon bin ich wieder draußen. Keine zehn Minuten habe ich gebraucht. Es ist schon toll, wie effizient das Gesundheitsmanagement geworden ist. Und es hat seine Vorteile, dass die Bankkarte jetzt auch Versichertenausweis ist. Man braucht nur eine Karte mitzunehmen und das bisschen Bargeld kann man im Sparstrumpf lassen. 59 Euro hat mich der Arztbesuch gekostet. Das sind nur 20 Euro mehr, als ich heute netto verdiene. Wo finde ich für die vier Tage, die ich krank geschrieben bin, einen Aushilfsjob, um meine Haushaltskasse wieder aufzufüllen. Mitleidig schaue ich auf einige elende Gestalten, die an der Hauswand liegen? Kranke, die zu schwach sind, sich in der Warteschlange beim Arzt oder beim Sozialcenter anzustellen. Als ob ihnen hier jemand helfen würde.
Jemand fasst mich am Ärmel und flüstert: "Rezepte, Krankenscheine, Gutscheine für Arztbesuche? Alles garantiert echt und billig." Als ich nicht weitergehe, klappt er sein Jackett auf und zeigt mir verstohlen seine Schätze. "Nur 20 Euro für eine goldene Chipkarte. Da lohnt es sich wieder, krank zu sein."
Ich lasse ihn stehen und denke: 'Nein, krank sein ist einfach zu teuer geworden.' Und da kommt mir die Idee meines Lebens.
Ich bringe die Bescheinigung zur Firma und entfalte eine Betriebsamkeit wie seit Jahren nicht mehr. Einen Tag benötige ich für das Ideenkonzept, meine Bank von der Idee zu überzeugen dauert nur vier Stunden. Geschäftspartner suchen, Verträge abschließen, einen alten Bus auf Raten kaufen, Plakate drucken. Alles läuft problemlos und dann strömen die Anmeldungen und ich beschließe, nicht mehr zur Arbeit zu gehen. Soll mein Chef mir doch kündigen.
***
Jetzt nach einem Jahr habe ich vier gut ausgestattete Reisebusse mit jeweils 80 Plätzen laufen. Jeden Morgen geht die Fahrt am ZOB los. Vor allem Rentner drängeln sich um die Plätze. Wer unsicher ist, kann im Reisebüro nachfragen und die freundliche Dame erklärt ihm:
"Sie bekommen den Tagesausflug nach Polen mit Meditours für 50 Euro. Alles inklusive."
"Und was wird mir da geboten?", fragt der unentschlossene Besucher, der offensichtlich stark verschnupft ist. "Eigentlich benötige ich nur eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung."
"Aber so bequem und preiswert bekommen Sie nirgendwo Ihre Bescheinigung. Schon auf dem Hinweg nehmen freundliche polnische Schwestern mit guten Deutschkenntnissen Ihre notwendigen Daten auf. Die Fahrt dauert nur zwei Stunden und für Notfälle ist auch ein Mediziner an Bord."
"Der stellt die Bescheinigung aus?"
"Nein, die ärztliche Untersuchung erhalten Sie am Ziel. Sie bekommen einen individuellen Zeitplan mit Ihren Daten für Arztbesuch und Mittagessen. In der freien Zeit können Sie sich im Kino verschiedene Filme anschauen. Am Nachmittag gibt es dann noch Kaffe und eine kleine Vorführung preisgünstiger Medikamente und Hilfsmittel. Alles ganz freiwillig."
"Aber ich muß heute noch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei meinem Arbeitgeber abgeben:"
"Das ist gar kein Problem. Sobald der Arzt die Bescheinigung ausgestellt hat, wird sie über eine sichere Datenleitung an Ihren Arbeitgeber übermittelt. Sie müssen nicht einmal zur Firma fahren, sondern können diesen Tag in Ruhe genießen."
Der Frager zieht noch einmal die Nase hoch und kauft ein Ticket. Auch er wird satt und zufrieden nach Hause zurückkehren und bald wieder mitfahren wollen.
An den Busfahrten ist nicht viel zu verdienen, aber das stört mich nicht. Die Menge bringt das Geld. Mit den Ärzten und Gastwirten habe ich langfristige Verträge und von den Verkaufsveranstaltern bekomme ich eine Gewinnbeteiligung. Die sind alle ganz heiß auf meine Meditours. Natürlich gibt es Nachahmer, aber so billig wie ich kann es keiner.
Professor Doktor Doktor Hergolzmeier-Lübenstedt kommt in meine Villa, wenn ich einen Arzt brauche. Man gönnt sich ja sonst nichts.