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Mein Leben war gestern
Ich werde aus einem Traum gerissen. Da ist ein helles Licht. Es leuchtet so stark, dass meine Augen trotz geschlossener Lider schmerzen. So hell, ich kann sie nicht öffnen. Hände packen mich, zerren an meinen Armen, meinen Beinen. Ich wehre mich nicht, könnte es auch nicht, selbst wenn ich wollte. Egal. Sollen sie mich bringen, wohin sie wollen, was macht das schon?
Ich kann das Öffnen und Verriegeln schwerer Türen hören. Die Geräusche hallen von den Wänden wider wie der Applaus einer tosenden Menge von den Mauern eines Kolosseums. Heute klatschen und toben sie für mich, nur für mich.
Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.
Ich zähle gern, am liebsten von sieben runter, das beruhigt mich irgendwie. Der Grund dafür, falls es denn wahrhaftig einen geben sollte, ist mir entfallen. Ich weiß nur, dass es nun einmal so ist. Wer bin ich schon, diese Tatsache in Frage zu stellen?
Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.
Wir sind angekommen, zumindest denke ich das. Sie haben mich in einen Stuhl bugsiert. Meine Augen schmerzen nicht mehr, das Licht ist verschwunden. Ich kann die Kerle, die mich hierhergebracht haben, atmen hören. Sie atmen schwer. Ihre Atmung stört mich; sie nagt an mir wie ein vom Hunger ausgezehrtes Eichhörnchen an einer Eichel. Ich neige meinen Kopf, halte ihn schräg, als ob ich dadurch diese unangenehmen Geräusche verbannen könnte.
Schließlich bin ich dazu bereit, meine Augen zu öffnen. Ich sitze in einem Zimmer, das nur von einer schmalen Neonröhre erhellt wird. Die Luft ist kühl. In mein Inneres dringt diese Kälte nicht ein, denn dort brenne ich. Mir ist so heiß.
Peschkin? Mir gegenüber sitzt ein Typ mit Haaren auf den Ohrläppchen und zu dicken Augenbrauen. Ich kann mich nicht entscheiden, was von beidem schlimmer aussieht. Er sitzt da, ganz in Weiß, das Hemd bis oben zugeknöpft. Alles ist knitterfrei, makellos. Ich erkenne den Mann, wer könnte schon diese hässliche Visage vergessen? Wie war noch sein Name? Deschel? Dreschel? Ah, Denzschel, genau. Dr. Denzschel. Ein ganz schöner Schwätzer dieser Denzschel.
„Ich weiß nicht Doktor, wie immer schätze ich.“ Die Worte kommen aus mir heraus, ohne dass ich Sie vorher auf ihre Bedeutung hin überprüfen kann. Nachdem ich sie ausgesprochen habe, schaut er mich an, mustert mich wie Vieh. Für ihn bin ich kein Mensch, bin nichts weiter als ein Produkt, das möglichst teuer verramscht werden soll. Peschkin. Ich bin nur eine Ziffer auf einer Liste und er hat auch noch das falsche Klemmbrett dabei. Erniedrigend, aber auch irgendwie amüsant. Ich spiele mit, mal sehen, wie hoch die Gewinnmarge ausfallen wird.
„Fein, fein. Herr Peschkin, nun, Sie wissen, dass Sie schon einmal hier waren. Wissen Sie auch, warum Sie hier sind?“
Seine dunklen Augen haben etwas beunruhigendes an sich. Es ist schwer, diesem Blick standzuhalten, aber ich werde es schaffen. Ich habe schon mit ganz anderen Kalibern getanzt mein Freund, glauben Sie mir.
„Naja, ich weiß nicht Doktor, weil Sie irgendwas wissen wollen, schätze ich?“
„Was genau möchte ich wissen, können Sie mir das sagen? Erinnern Sie sich an unser letztes Gespräch Daniel? Ich darf doch Daniel sagen, oder?“
Er nennt mich Peschkin. Daniel. Ein komischer Kauz, der Herr Doktor.
„Nur zu, wie immer Sie wollen.“
Er starrt mich so eindringlich an, dass ich am liebsten abhauen würde. Aber ich kann nicht, also erwidere ich seinen Blick und denke nach.
„Nein, tut mir leid, nicht wirklich. Ich denke aber, Sie werden es mir gleich verklickern, nicht wahr?“
„Schade, ich dachte wirklich du könntest mir zumindest irgendwas sagen. Um ehrlich zu sein Daniel, haben wir dieses Gespräch bereits geführt, weißt du. Gestern, vorgestern. Davor und auch davor.“
„Dann bin ich wohl kein besonders guter Zuhörer, was?“, bringe ich hervor, während ich mit den Achseln zucke.
„Ganz im Gegenteil Daniel, du bist sehr aufmerksam und stets begierig darauf, meine Fragen zu beantworten.“
Kein komischer Kauz. Ein Lügner und Schleimbeutel. Ein hässlicher, kleiner Schleimbeutel. Es trieft dir ja schon aus den Ohren, buäh! Ich bin hier auf einem Stuhl fixiert, umgeben von irgendwelchen Typen, die allesamt lauter schnaufen als ein wildes Rhinozeros. Du erzählst doch nur Bullshit. Nennst mich Daniel und machst einen auf Kumpel, einfach nur widerlich.
Dr. Schleimbeutel greift in eine Aktentasche, die ihm einer dieser schnaubenden Wilden herüberreicht. Will er mir jetzt Süßigkeiten andrehen?
„Daniel, ich muss dich das jetzt fragen. Lass dir ruhig Zeit über diese Frage nachzudenken, ok? Niemand hier wird dich hetzen. Sagt dir der 8. Juli 1983 irgendetwas. Kannst du mir sagen, was sich damals zugetragen hat?“
8.7.1983. 8, 7, 19, 83. Ich hab’s nicht mit Zahlen oder dem Datum, aber ich weiß, dass das mehr als 30 Jahre her ist. Das weiß ich, weil hinter Dr. Schleimbeutel ein Kalender hängt, der auf den 23. Januar 2018 datiert ist. Warum sollte jemand ein falsches Datum eintragen?
Sommer '83. Mir wird wieder wärmer, regelrecht heiß.
Mein Mund fühlt sich trocken an. Ich starre auf den Kalender vor mir, habe das Gefühl, durch das Papier hindurchgucken zu können.
„Mein Name ist nicht Daniel. Mein Name ist Joe und das wissen Sie. Wollen Sie mich absichtlich provozieren, Herr Doktor?“
„Nein das war nicht meine Absicht, ganz gewiss nicht. Ok, dein Name ist also Joe. Joe, hast du denn einmal einen Daniel getroffen?“
Endlich nennt er mich bei meinem richtigen Namen. Ich nenne ihn ja schließlich auch nicht offiziell Dr. Schleimbeutel, obwohl es so vorzüglich passen würde.
„Nicht dass ich wüsste“, antworte ich, nur um dann hinzuzufügen: „Aber es gab mal einen Fall in unserer Stadt. Es ging um einen Jungen. Bin mir ziemlich sicher, dass der Daniel hieß.“
„Was war das für ein Fall? Was ist passiert?“, höre ich den Doktor fragen, der sich währenddessen voller Interesse nach vorne lehnt.
„Naja, der ist irgendwann einfach verschwunden. Stand ganz groß in der Lokalzeitung, soweit ich mich erinnern kann. Dürfte im Sommer '83 gewesen sein. Jap, bin mir ziemlich sicher, dass es im Sommer war. Ein verflucht heißer Sommer war das gewesen. Viele haben damals von einer Entführung gesprochen. Armer Bengel.“
„Sie können sich nach so vielen Jahren daran erinnern, was damals mit einem Jungen namens Daniel passiert ist?“
„Keine Ahnung, ja. Hat damals eben große Wellen geschlagen. War auch ein Jahrhundertsommer. Sie können sich sicher auch noch daran erinnern, was Sie am 11. September zum Mittag gegessen haben, oder? Warum ist das wichtig? Was wollen Sie von mir?“
Das Gesicht des Doktors entspannt sich und er lehnt sich wieder zurück. Ich bemerke, dass er kaum merklich den Kopf schüttelt.
„Hören Sie zu Doktor. Ich denke der, den Sie suchen, dieser Daniel, ist vor langer Zeit gestorben. Aber was weiß ich schon, huh?“
Ich höre, wie sich die Kerle hinter mir in Bewegung setzen. Sie lösen die Fixierungen und packen mich wieder an den Armen und Beinen. Kurz bevor Sie mich durch die Tür zerren, bleiben Sie stehen, da der Doktor noch einmal zu reden beginnt. Während er seine Brille abnimmt, um sie zu reinigen, tritt er nah an mich heran: „Sie sollten wissen, dass der Junge damals nicht gestorben ist. Die Polizei hat ihn 19 Jahre später gefunden. Leider fand man ihn in einem schrecklichen körperlichen und geistigen Zustand. Er brachte zunächst kein Wort hervor und verhielt sich gegenüber allen, die sich ihm auf wenige Meter näherten, besonders aggressiv. Es wurde nie geklärt, was genau in den 19 Jahren passierte, aber es müssen schreckliche Dinge gewesen sein. Schreckliche Dinge, Joe.“
Er blickt mich wieder so durchdringend an. Mir wird wieder heiß, fürchterlich heiß. Es fühlt sich so an, als ob ich brenne. Kann diese Hitze nicht verschwinden? Hau ab Hitze, na los mach schon! Hau ab!
Heute haben ihm Steve und ein paar weitere Kinder auf dem Weg zur Nachmittagsbetreuung aufgelauert. Nachdem sie Daniel herumgeschubst und alle seine Sachen herumgeworfen haben, hat Steve ihm nun ordentlich eine gelangt.
Während ihm jetzt die Tränen über die Wangen laufen, jagen sie ihn davon. Er zwängt sich durch das dichte Gestrüpp nahe dem Schulgelände und erreicht die dahinterliegende Straße. Heute wird er nicht zur Nachmittagsbetreuung gehen. Das wird natürlich Ärger geben, aber das ist ihm im Moment sowas von egal. Er hat seine Sachen verloren, seine Backe tut weh und es ist heiß. Wieder muss er ein paar Tränen verdrücken.
„Hey mein Junge, was ist denn mit dir passiert?“
Daniel dreht sich um. Ein grauer Van fährt im Schritttempo neben ihm her. Ein älterer Mann hat das Fenster seiner Beifahrertür heruntergelassen und schaut ihn fragend an. „Schule, was? Ich hab die Schule auch immer gehasst, die Kids konnten echt gemein sein. Bist du neu hier? Ich sage dir, irgendwann wird das alles besser, glaub mir, irgendwann lassen sie dich in Ruhe.“ Daniel weiß nicht was er sagen soll, also nickt er nur.
„Hör mal Kleiner, ich weiß wie du dich fühlst. Du bist dreckig, es ist heiß und du hast keine Freunde. Deine Mami und dein Papi werden bestimmt böse sein, wenn du so nach Hause kommst, oder?“ Wieder nickt Daniel und wischt sich dabei die Tränen aus dem Gesicht.
„Pass auf, ich wohne nicht weit von hier. Ich hab Wasser und Seife zu Hause und so ‘nen kleinen Medizinkoffer. Du kannst dich sauber machen und dann gehst du nach Hause, verstehste? Dann kriegste nicht so ’nen Ärger. Hab ich früher auch immer bekommen, is nich so dolle.“
Daniel denkt daran, wie sauer Mama sein wird, wenn sie von der Sache erfährt. Er hat Angst, dass sie wieder an die Schule kommt und er am Ende wieder verprügelt wird. „Wie weit ist es denn bis zu ihrem Haus?“
„Wie gesagt, nicht weit von hier. Vielleicht zehn Minuten. Komm, steig ein und wir kriegen das wieder hin, versprochen.“
Daniel schaut sich noch einmal um, dann klettert er auf den Beifahrersitz.
„Ich bin übrigens Joe, Kleiner“, sagt der Mann, während er Daniel hilft, sich anzugurten. Als er sich zu ihm rüberbeugt, kann der kleine Junge den Atem des Mannes auf seiner Haut spüren. Daniel ist sieben Jahre alt. Es ist der 8. Juli 1983.