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Mein kleines Mäuschen
Es ist Abend. Ein herrlicher Tag neigt sich dem Ende zu, ein für die Jahreszeit ungewöhnlich warmes und sonniges Wochenende. Die letzten Sonnenstrahlen der Abendsonne blitzen durch die Baumwipfel der kleinen Baumallee auf der gegenüber liegenden Straßenseite. Eine sanfte Brise streicht über das frisch gemähte Gras im Vorgarten, das Fenster steht offen und das Lachen der untergehenden Sonne scheint auf die Wand im obersten Zimmer des kleinen Häuschens.
Er steht am Fenster. Die Hände andächtig verschränkt, sein Blick gilt dem atemberaubenden Bild, das sich seinen Augen bietet. Sie leuchten, sein ganzes Gesicht strahlt.
Sie steht am kleinen Bettchen, schaut verträumt hinein. Ihre Augen leuchten.
„Schatz, schau´ dir mal diese kleine Söckchen an, ist das nicht süß? Ein Geschenk des Himmels, was wir da kriegen.“
„Ja, das wird wirklich was ganz besonderes.“, sagt er, während er zum kleinen Bettchen geht. Sie legt ihren Kopf auf seine Schulter, beide schauen sich verliebt voller Hoffnung in die Augen. „Meinst du, dass auch wir endlich mal so ein Glück erfahren dürfen?“, flüstert nachdenklich sie in sein Ohr.
„Bestimmt, mein Schatz, ganz bestimmt. Wir haben dem Herrn da oben nichts getan, auch er wird uns irgendwann Gutes tun.“
Die Sonne ist mittlerweile fast untergegangen. Der rotschimmernde Nebel legt sich schon leicht über den Vorgarten. Beide gehen zu Bett, sie soll sich ausruhen, es dauert nicht mehr lange. Sie legt sich vorsichtig aufs Bett, zieht ihre Bluse aus. Er dreht die Musik leicht auf, legt sich neben sie, streichelt und massiert ihren Bauch. Sie küssen sich.
Ein magischer und sinnlicher Moment. Einer, in dem ihr Glück endlos erscheint.
Am nächsten Morgen fährt sie zum Friedhof, um ihre Eltern zu besuchen. Ihr Vater und ihre Mutter kamen ums Leben, als ein Geisterfahrer in ihr Auto fuhr, beide waren sofort tot. Da war sie gerade mal 12 Jahre alt. Seit dem wuchs sie in Heim auf. Hat sich durchs Leben gekämpft, egal wie schwer es auch war. Vor dem prachvollsten Grabstein in der Reihe macht sie halt und kniet nieder.
,,Hallo, Mama. Hallo, Papa. Ich hab gute Neuigkeiten. War gerade beim Arzt und er sagt, es sei alles in Ordnung, wir bräuchten uns keine Sorgen machen. Ist das nicht grossartig? Es ist so unglaublich schade, dass ihr es nicht mehr auf Erden mirterlben dürft. Aber ich verspreche euch, ich schenke euch einen gesunden und munteren Enkel, so wie ihr es euch immer gewünscht habt.“, flüstert sie schluchzend in Richtung Grabstein.
Es sind nur einige Tage vergangen, da liegt sie auch schon im Krankenhaus und ist aufgeregt, es sind ist nur noch wenige Stunden. Die Wehen setzten langsam ein, die heisse Phase beginnt langsam. Er sitzt neben ihr, hält ihre Hand. Ihre Liebe zueinander war noch nie so stark, wie in diesem Moment. NICHTS und NIEMAND kann ihr Glück jetzt noch zerströren.
Nur wenige Tage nach der Geburt werden sie aus dem Krankenhaus entlassen. Mit gesenktem Kopf laufen sie durch die eisigen Gänge. Sie erwidern keinen der Blicke. Ihre Hände sind versteckt in den Manteltaschen. Als sie endlich im Auto sitzen und sich endlich auf den Heim-Weg machen können, bricht es aus ihr heraus. Sie kann ihren Frust und ihre Trauer nicht mehr zurückhalten. Millionen von Tränen fließen über ihre Wangen, sie schlägt ihre Hände vors Gesicht. Ihre blutroten Tränen fallen wie Steine auf ihren Mantel. Er nimmt sie in seine Arme, versucht sie zu trösten – vergebens. Noch einige Zeit sitzen sie so im Auto.
Es sollte der perfekte Tag werden, die Geburt ihres ersten Kindes. Doch die Geburt lief nicht wie erhofft. Es gab einige Komplikationen, sie wurde ohnmächtig und ihr Baby musste mit der Saugglocke vollens auf die Welt gebracht werden. Es bekam keine Luft. Ärzte, Hebammen, Krankenschwestern, alle waren sofort zur Stelle um zu helfen. Aber auch Stunden danach, fällt es dem kleinen Neugeborenen immer noch schwer zu atmen. Es muss damit gerechnet werden, dass die kleine Emelie es nicht schaffen wird.
Den ganzen restlichen Tag verbrachte sie im Schlafzimmer, heulend liegt sie im Bett, die Tür abgeschlossen. Im Hintergrund läuft leise das Radio. Musik hat ihr immer Hoffnung gegeben, Mut gemacht, die dreckige, beschissene Seite des Lebens zu meistern. Aber nicht an diesem Abend. „Why does it always rain on me?”, “Warum regnet es immer auf mich”? Mag wohl in ihrem Kopf vorgehen. In ihrem gesamten Leben hatte sie nie wirkliches Glück erfahren, sie hat ihren Frust darüber nie wirklich an die Öffentlichkeit getragen, hat die „starke“, „emanzipierte“ Frau gespielt - aber nicht an diesem Abend.
Auch er kann in diesem Moment nichts für sie tun, sitzt am Esstisch, in der Hand hält er Hochprozentiges. Auch er kann seine Tränen nicht verbergen. Auch wenn man es ihm nicht anmerkt, es nimmt ihn schon sehr mit, wenn er seine Frau so leiden sieht. Er hat selbst kein leichtes Leben, vielleicht oder gerade deswegen, war seine Liebe zu ihr so stark, die Bewunderung für sie so groß. Sie war immer die einzige Frau ihn, sie war sein Vorbild.
Er wird die gesamte Nacht am Tisch verbringen, an Schlaf ist nicht zu denken. Geistesgegenwärtig stürmt er früh morgens aus dem Haus, setzt sich in sein Auto und fährt los – Ziel und ankunft ungewiss.
Es ist ein windiger und verregneter Abend. Die Läden haben längst geschlossen, nur vereinzelt sieht man ein paar Leute laufen, ein paar Radfahrer vorbeifahren.
Verhüllt im schwarzen Mantel, läuft sie durch den das Gelände am Ende der Stadt. Vor einem kleinen Kreuz bleibt sie stehen. Sie fällt davor nieder.
„Hallo mein kleines Mäuschen. Wie war dein Tag heute? Hast du schön gespielt? Schau mal, ich hab dir was mitgebracht. Einen Kuschelhaase. Mit dem kannst du ab jetzt auch immer spielen. Er wird dir bestsimmt gefallen, er freut sich schon darauf mit dir zu spielen, das hat er mir verraten. Oh, mein kleines Mäuschen, ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich dich vermisse. Abends, wenn ich alleine auf dem Sofa sitze, würd ich mich so sehr wünschen du würdest neben mir sitzen. Ich liebe dich mein Schatz. Vergiss das bitte nie. Du hast ja Oma, Opa und deinen Papi um dich herum, die haben dich mindestens genauso lieb, wie ich.
Mein kleines Mäuschen, ich werde immer an dich denken, VERSPROCHEN. Bis bald mein Schatz, wir sehen uns bald wieder.