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- 12.02.2004
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Mein Körper und der alterslose Mann
Ich saß im Inter-City 742 „EZA Fairer Handel“ von Wien nach Salzburg. Draußen regnete es. Ich griff nach oben, um eine der Lampen über den Kopfstützen einzuschalten: KLICK!
Die Bahnen der Tropfen auf dem Fenster glänzten silberfarben, als sie ineinander flossen, im Rhythmus des Zuges wippten, als zögerten sie, bevor sie weiter hinunterliefen. Von der Landschaft vor dem Fenster sah ich nur einzelne Lichter. Dort konnte der Wienerwald oder etwas anderes liegen: der Weltraum oder der Meeresgrund. Vielleicht war es der dunkle Stoff, dessen chaotische Vorgänge irgendwann diese Welt hervorgebracht hatten ...
Ganz oben in meinem Rucksack lag „Zwei Städte“ von Charles Dickens. Vom Lesezeichen, einem Fetzen Zeitungspapier, blätterte ich zurück, um eine bestimmte Stelle zu finden. Mein Zeigefinger wanderte über die Seiten und warf einen langen Schatten. Ah, hier!
Es war sehr heiß und Schwärme von Fliegen, die ihre neugierigen und abenteuerlichen Forschungen bis in die klebrigen Gläschen neben Madame ausdehnten, fielen tot auf den Boden. Ihr Untergang machte keinen Eindruck auf die anderen spazieren gehenden Fliegen, die ihnen in der unbefangensten Weise zusahen (als ob sie selbst Elefanten oder etwas anderes, den Fliegen ebensowenig Ähnliches wären), bis sie dasselbe Schicksal traf. Seltsam, wie leichtsinnig Fliegen sind.
„Wie leichtsinnig Fliegen sind“, wiederholte ich, legte den Hinterkopf zurück, fühlte das Vibrieren des Waggons, dachte, dass ich irgendwann auch so tot wie diese Fliegen sein würde. Mein Gesicht im Spiegel des Fensters sah trotzdem recht lebendig aus. Eigentlich ein Widerspruch. Eine Mitbewohnerin hatte mir einmal erzählt, dass die Leichen im Seziersaal aus demselben Stoff bestehen, wie das Fleisch beim Metzger: „Das sind keine Menschen mehr“.
Es ist eben der Geist, der in diesem den Wurstwaren ähnlichen Material wohnt, der den Unterschied macht zwischen ihnen und uns. Bei der Beerdigung meiner Großmutter hatte ich gedacht: Für jeden hier wird es auch so eine Veranstaltung geben. Bei vierzig Leuten macht das eine Menge Grabreden, Kränze, Gebete und Tränen aus, um sie gut unter die Erde zu bringen.
Immer wenn ich solche Gedanken habe, passiert etwas. Diesmal rumpelte der Bordservicewagen vors Abteil. Der Mann mit rotem Hemd und weißer Schürze schaute mich fragend an. Ich nickte. Die Tür ging widerwillig-quietschend auf. Er versuchte es mit Small Talk: „Die anderen schlafen alle. Nur Sie und die Japanerinnen da hinten ... Ich glaube, das liegt am Wetter. Dieser Regen. Aber man muss schon froh sein, wenn ... [usw.]“
Der Kaffee im Pappbecher kostete einen Euro achtzig. Ich gab dem Mann mit der Schürze ein Zwei-Euro-Stück („Stimmt so!“) und betrachtete die tiefschwarze Flüssigkeit, in die ich ein Päckchen Zucker rieseln ließ: Materialwert höchstens dreißig Cent. Kein schlechtes Geschäft! An einem Abend wie diesem lohnte es sich freilich nicht, den Mann mit seinem Wagen durch einen Waggon voller schlafender Leute rumpeln zu lassen.
Später waren wir allein im Abteil, der Pappbecher und ich. Mein rechter Zeigefinger tippte versuchsweise hinein. Die Moleküle in dem Gebräu attackierten meinen Finger. AUA! Heiß. Da musste ich an eine Stelle im Vorwort des Buches „Eine kurze Geschichte der Zeit“ denken. Wir bewältigen einen Großteil unseres Lebens OHNE AUCH NUR DAS GERINGSTE ÜBER DIE WELT UM UNS HERUM ZU WISSEN. Seltsam, wie das eigene Unwissen einem ein Gefühl von tröstlicher Sicherheit geben kann.
Ich trank also Kaffee und dachte, dass die Menge Kaffee, die man im Laufe des Lebens trinkt, vielleicht schon irgendwo festgeschrieben ist. An diesem Abend kam mir mein ganzes Dasein sehr überschaubar vor. Wie ein Aufenthalt an einem Urlaubsort mit einer Liste von Dingen, die man tun will. Alle diese Dinge hatten gemeinsam, dass sie an diesen Körper gebunden waren, der etwas ungelenk zwischen den Polstern eines Zugabteils lehnte, mit Füßen auf der Sitzfläche, Muskelverspannungen, Kaffee im Durchlauf vom Mund bis zur Blase und Gedärmen, die gerade ein Abendessen inklusive Beilagen und Salatblättern in Scheiße umwandelten, um den Gesetzen der Thermodynamik Genüge zu tun. In der grauen Masse unter meiner Schädeldecke blitzte ein Gewitter neuronaler Entladungen auf und eine Fülle von Gedanken hüpfte durcheinander wie eine Meute spielender Hunde. Das war ich: eingehüllt in Dunkelheit, im Rhythmus des Waggons wippend, Kaffee schlürfend. Und dachte nach.
In St. Pölten, der Landeshauptstadt Niederösterreichs, öffnete ich das Fenster. Sofort umwehte mich ein kühler und feuchter Hauch. Die Wiener verachten St. Pölten, wohl in der Annahme, ihre eigene Stadt sei besser – schon wegen der höheren Einwohnerzahl. Auf dem Bahnsteig waren nur wenige Reisende zu sehen. Mit derselben Bewegung wie ein Gewichtheber, der seine Hantel hochreißt, machte ich das Fenster zu – und merkte gar nicht, dass jemand ins Abteil schlich: „Guten Abend!“, sagte der etwa fünfzigjährige Mann, hängte seine Jacke auf, holte die „Kronen Zeitung“ aus seiner Umhängtasche. So weit, so gut ...
Mehrere Stadien der sozialen Interaktion später, hatte ich ihn am Hals: Er redete wild gestikulierend auf mich ein. Die Finanzkrise bot ihm einen guten Vorwand:
„Diese Bankmenschen sind gierig und haben nicht mehr Verantwortungsgefühl als ein Alkoholiker, der sich kaputtsäuft und dem die Folgen in einem Jahr völlig gleichgültig sind. Es kann ja nicht funktionieren, dass Börsenkurse über Jahrzehnte steigen und steigen und steigen ...“,
Er zeichnete die Aufwärtsbewegung mit den Händen in die Luft.
„... während die reale Wirtschaft recht gleichmäßig vor sich hindümpelt. Das wäre ja, als würden beim Kartenspielen alle Spieler am Tisch gewinnen. Hahaha! Aber für die Realität haben solche Leute eben nicht viel übrig. Die interessiert nur das schnelle Geld.“
Immer noch aufs Nachdenken eingestellt und halb ärgerlich beobachtete ich ihn, wie er den Mund auf- und zumachte, Worte artikulierte und immer wieder mit dem Finger auf einen Artikel deutete. Es war sein Gesicht, mit dem etwas nicht stimmte: Es glich, trotz der Falten, einer glatten Oberfläche. Auch das Haar und die Kleidung: Alles lief auf Abwesenheit von etwas hinaus. Er schaltete eine Lampe ein, raschelte mit seiner Zeitung, sprach dabei über die Menschen, die zu allen Zeiten und an allen Orten nichts taugten. Als er mir aber von der Grausamkeit erzählte und von der Angewohnheit der Mächtigen, andere mit der größten Selbstverständlichkeit („entschuldigen Sie den Ausdruck!“) krepieren zu lassen, kam er auf die dritte Isonzoschlacht im Oktober 1915 zu sprechen und als er mit großen, sprechenden Augen und heftigen Gesten und viel zu vielen Details von Artilleriebeschuss und dem Sturmangriff der Italiener sprach, die mit 338 Bataillonen, 130 Schwadronen und über 1.300 Geschützen den Monte San Michele unbedingt nehmen wollten, SAH ich die Infanteristen in ihren grauen Uniformen, wie sie in breiter Front vorrückten, beim Angriff mit Hurra-Rufen den Österreichern entgegenrannten und wie Maschinengewehrsalven RATTTATTTATTTATTA! durch sie hindurchpfiffen und sie zu Tausenden niedermähten und sie fielen tot auf den Boden und ihr Untergang machte keinen Eindruck auf das militärische Führungspersonal und die Kriegsberichterstatter, die ihnen in der unbefangensten Weise zusahen.
„Sie erzählen das, als wären Sie selbst dabei gewesen.“
Da lächelte er. Seine Augen funkelten. Er sagte: „Sie haben Ihre festen Vorstellungen. Sie glauben, dass der Mensch achtzig Jahre alt wird und dann stirbt. Was wäre, wenn ich sagen würde, dass ich damals tatsächlich dabei war?“
„Ich könnte es nicht glauben.“
„So ist es aber!“, sagte er mit Nachdruck: „Ich bin 148 Jahre alt!“
Ein Irrer! Dabei sah er ziemlich normal aus, etwa wie ich mir einen Architekten vorstellte. Lag da in seinem Geruch ein Hauch von nassem Sand? Die Hände waren gepflegt, das Gesicht offen, mit grauen Haaren, die von den Schläfen wie Flügel in die Horizontale wucherten. Er sah aus wie die rustikale Version eines verrückten Professors. Aber die Augen ... Diese Augen! Das waren Augen, die einen durchbohrten.
Ich sagte verbindlich: „Soviel ich weiß, erforschen mehrere Wissenschaften das Altern. Es gibt die Gerontologie, die sich fragt, wie die Gesellschaft mit so vielen alten Leuten zurecht kommen könnte. Es gibt auch ein Teilgebiet der Medizin, die Geriatrie. Da geht es um Krankheiten: Arteriosklerose, Demenz, Diabetes und so weiter.“
Das beeindruckte ihn wenig: „Entschuldigen Sie, dass ich das so offen sage: Sie wissen einen Dreck! Glauben Sie denn, eine Verlängerung des Lebens auf ein Vielfaches wäre im Interesse unserer Gesellschaftsordnung? Machen Sie doch die Augen auf! Schauen Sie, was heute passiert, mit den Alten! Ab fünfzig bekommen sie keine Arbeit mehr. Spätestens mit sechzig: Ab in die Pension! Ab da ist die Gesellschaft daran interessiert, sie sich vom Hals zu schaffen. Mit achtzig sitzen sie in Heimen fest, wo sie nichts tun können. Dort liegen sie den ganzen Tag im Bett, wunde Stellen überall, keine Zähne mehr im Mund, vollgeschissene Windeln an sich und Pflegepersonal um sich, das vielleicht zehn Minuten bekommt, um sich um den Einzelnen zu kümmern. Und dann liest man in den Zeitschriften von Anti-Ageing und Bald wird jeder hundert Jahre alt Dass ich nicht lache!!! Hahahahaha!“
Das reichte! Ich murmelte: „Sie sind ja verrückt!“
Darauf schwiegen wir beide beleidigt, was mir ganz recht war. Er warf mir noch einen hochmütigen Blick zu, ehe er wieder in seiner Zeitung las.
Kurz nach Amstetten begutachtete eine Schaffnerin unsere Fahrkarten wie eine Krankenschwester herausgestreckte Zungen bei einer Routineuntersuchung. Sie musste eine von denen sein, die die ÖBB auf großen Plakaten aufgefordert hatte, sich zu bewerben, um in einem zukunftsorientierten Dienstleistungsunternehmen eine abwechslungsreiche Karriere zu starten. Unter der blauen Uniform verschwand die Persönlichkeit, machte einem Idealbild von dienstlicher Kompetenz Platz. Als sie fort war, erschien wieder der Mann mit dem Servierwagen, den er wie ein dressierter Affe hinter sich herzog.
Dann geschah etwas sehr Seltsames. Der Teilnehmer des Ersten Weltkriegs winkte ihn heran und sagte: „Ich wollte Sie um etwas bitten.“
Der Mann mit der Schürze lauschte dienstbeflissen.
„Wir machen eine Studie über das Verhalten von Menschen, wissen Sie?“
Er öffnete seine Brieftasche und zeigte eine Handvoll neuer Hundert-Euro-Scheine.
„Wollen Sie sich einen davon verdienen? Es geht ganz leicht.“
Der Mann mit der Schürze wirkte geschmeichelt: „Was muss ich dafür tun?“
„Oh, nicht viel! Sie brauchen sich nur vor mir auf die Knie niederzulassen und mich anzuschauen. Dann beugen Sie vor mir das Haupt.“
Er überlegte kurz, fragte gedehnt: „Verarschen Sie mich gerade?!“
Die Brauen über dem breiten niederösterreichischen Gesicht zogen sich zusammen.
„Aber nein! Das ist Teil des Experiments. Ich gebe ihnen jetzt einen Hundert-Euro-Schein. Prüfen Sie ihn nur! Er ist echt. Ich vertraue darauf, dass Sie meiner Bitte entsprechen werden.“
Ein Schein wechselte den Besitzer. Der Mann mit der Schürze prüfte die Prägung, das Wasserzeichen, das Hologramm, den Kippeffekt. Er faltete den Schein knisternd zusammen, steckte ihn ein. Er zuckte die Schultern. Seine Lippen schnalzten, als er etwas Luft ausstieß – und er tat es einfach.
„Sehr gut! Sie können sich noch mehr verdienen. Noch einen Hunderter. Alles, was Sie tun müssen, ist, den Kopf in meinen Schoß zu legen. Als eine Geste der Demut. Wollen Sie das für mich tun?“
Fassungslos schaute ich zu, wie der Mann mit der Schürze Stück für Stück seine Würde verkaufte und sich dem Wahnsinnigen auslieferte, der nach drei oder vier Hundertern mit ihm verfahren konnte, wie er wollte:
„Ich möchte jetzt, dass Sie bellen wie ein Hund.“
„Wuff!“ sagte der Mann mit der Schürze mit wenig Überzeugung.
„Aber nein! So machen Sie es doch richtig, wenn Sie es schon tun: WUFF!“
„Wuff!“
„Sehr gut! Wie spricht der Hund?!“
„WUFF! WUFF!“
Zufrieden streichelte der Verrückte den Kopf des Knienden. Ich sah, wie sein Nacken sich rötete. Er schwitzte.
„Wuff Wuff! Wuff Wuff!“
„Jaaaa! Du bist ein Braver. Und jetzt hätte ich gern ...“
Er grinste mich über den Kopf des Knienden hinweg an. Mir war längst die Kinnlade heruntergefallen.
„... dass du dem Herren da die Hände ableckst.“
Verdammt nochmal! Ich machte mich bereit, dem Mann mit der Schürze eine herunterzuhauen. Da legte der Verrückte ihm freundlich die Hand auf die Schulter, gab ihm einen Hundert-Euro-Schein:
„Ich glaube, er will nicht. Nun, es muss nicht sein. Sie können wieder aufstehen. Vielen Dank.“
Als wäre er aus einem Traum erwacht, rappelte sich der Mann mit der Schürze auf, ächzte und verließ wortlos das Abteil.
„Sehen Sie?“
„Was???“
„Immerhin reden Sie mit mir... Nun, ich gebe zu, es war keine erfreuliche Situation. Ich wollte Ihnen zeigen, worin das Wesen des Geldes besteht.“
„Jetzt bin ich aber neugierig.“
„Sie passen nicht auf! Also hören Sie: Das Wesen des Geldes besteht darin, Menschen zu jeder beliebigen Handlung zu bewegen.“
Ich rümpfte die Nase, schüttelte den Kopf, merkte gleichzeitig, dass diese heftige Ablehnung wohl eine reflexartige Reaktion auf das Unerwartete war.
Er sagte: „Es gibt verschiedene Arten von Macht. Geld zum Beispiel. Oder Gewalt. Es läuft auf dasselbe hinaus. Es macht keinen Unterschied, ob man Rockefeller oder Stalin ist. Wer die Macht hat, kann die Menschen formen und sie dazu bringen, zu tun, was man will – auch wenn sie dabei draufgehen. Sie tun es gern. Ist Ihnen übrigens aufgefallen, wie glücklich der Bordservicemann aussah, als er für mich bellen durfte?“
Österreich sieht auf der Landkarte aus wie ein Schnitzel. Die Strecke von Wien nach Salzburg folgt dem Schnitt, den man machen würde, um sich die ersten Bissen einzuverleiben. Hinter der Grenze zu Oberösterreich sind die ersten Stücke verschlungen. Man schneidet weiter. Man dringt quasi bis unter die Panade vor, um das Wesen des Schnitzels zu verstehen.
Komische Gedanken bringt das leichte Schwanken und Dröhnen einer Zugfahrt hervor ...
Der Mann in meinem Abteil hatte auf der Gepäckablage eine alte Zeitschrift gefunden. Eine „Cosmopolitan“.
„Schauen Sie!“ sagte er.
In den Schein der schwachen Lampe über seinem Kopf hielt er ein Bild, das schön gekleidete Menschen in Feierlaune zeigte: Es waren irgendwelche Prominente, Männer mit Nelken im Knopfloch und Frauen in Abendkleidern. Alle mit exquisiten porzellanfarbenen Zähnen.
„Wieviele Artikel über affektierte Dummköpfe wie die auf dem Bild haben Sie schon gelesen?“
Eine Menge. Ich wusste, dass manche dieser Leute unverschämt reich waren. Sie besaßen riesige Anwesen, auf denen sie – nur so zum Spaß – eine Herde Elefanten halten konnten, die wohl hin und wieder auf den Rasen schissen. Andere sammelten Autos, Bentleys und Maybachs und stellten sie in Garagen, wo Bedienstete sie mit weichen Tüchern auf Hochglanz brachten. Das Leben solcher Leute nimmt in unseren Medien viel Raum ein! Außer mit dem Dasein dieser menschlichen Schoßhündchen beschäftigen sie sich hauptsächlich damit, den Wunsch nach Produkten zu wecken und alberne Geschichten unter die Leute zu bringen. Ob ihre Botschaften jemandem Schaden zufügen, interessiert niemanden. Während die Wohlhabenden ihre Haustiere, die ihnen als Kinderersatz dienen, mit Leckerbissen vollstopfen, haben in anderen Gegenden Kinder nicht genug zu essen und Obdachlose können sich unbehelligt, direkt vor den Augen ihrer Mitmenschen, zu Tode saufen – von anderen Teilen der Welt, die längst im Elend versunken sind, gar nicht zu reden ...
Ich fragte: „Warum wollen Sie, dass ich Ihren Standpunkt verstehe? Das scheint Ihnen wichtig zu sein.“
Statt zu antworten öffnete er das Fenster. Kühle Luft von draußen strömte herein, als wäre das Antwort genug. Die Geräusche des fahrenden Zugs übertönten alles. Er nahm einige tiefe Atemzüge, schaute in die Nacht hinaus. Nach einer Weile setzte er sich wieder.
Endlich sagte er: „Ich bin der Meinung, dass dieses System nur den Wünschen der Reichen dient. Wenn in einem Chaos wie diesem einige Gruppen gewisse Mittel besitzen, sehr lange da sind und immer auf ein Ziel hinarbeiten, werden sie es erreichen – was es auch sei.“
Noch verstand ich nicht, worauf er hinaus wollte.
„Ich will darauf hinaus“, sagte er, „dass der wahre Reichtum in der physischen Realität liegt. Stellen Sie sich vor, Sie hätten für den Zeitraum Ihres Lebens nicht diesen Körper bekommen, sondern einen Leihwagen mit einer bestimmten Menge Benzin und Öl und Sie müssten ihn am Ende wieder zurückgeben. Es könnte auch etwas anderes sein, ein Paar Boxhandschuhe oder Eislaufschuhe, die sich abnutzen, und wenn sie kaputt sind, werfen Sie sie weg. Das Blöde ist nur: Wenn der Körper kaputtgeht, sterben wir. Ist Ihnen je aufgefallen, wie zufällig die körperlichen Eigenheiten der Menschen sind? Die Form der Nase, Muttermale, die Proportionen der Gliedmaßen. Das meiste davon trägt man ein Leben lang mit sich herum und die Leute denken, diese Dinge gehören zu ihnen. Nur manche unterziehen sich kosmetischen Operationen, um Kleinigkeiten zu ändern und anders auszusehen. Aber im Grunde haben sie damit das Wesen ihres Körpers besser als ihre Artgenossen verstanden: Er besteht aus einem Stoff wie Holz, Ziegel oder Lehm – und wenn man die Materie ändert, wird der Körper ein anderer. Wenn jemand Ihren Körper so verändern würde, dass er die Eigenschaften eines 20-jährigen hätte: Wie alt wären Sie dann?“
„Na,immer noch 34! Oder doch zwanzig?“
Er nickte erfreut und sagte: „Eben.“
„Nur sind die biochemischen Vorgänge des Alterns so, dass der Mensch sie nicht nach Belieben ändern kann.“
„Da muss ich Ihnen aber widersprechen! Haben Sie von den alten Alchemisten gehört, die mit den Elementen Wasser, Erde, Feuer und Luft experimentierten, um das Elixier ewiger Jugend zu finden? Warum glauben Sie, war ihre Zeit nach der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorbei? Denken Sie an Gestalten wie Cagliostro: Haben Sie nie an die Möglichkeit gedacht, dass Leute wie er, Menschen mit Phantasie und Privilegien, die sich so lange Zeit einer Sache widmeten, Erfolg gehabt haben könnten? Genau so war es nämlich: Der Kreis der Eingeweihten entwickelte über die Jahrhunderte eine Kur aus Tränken und Bädern, die alle Alterungsprozesse zum Stillstand bringt.“
Ich sagte: „Bei Ihrer Geschichte gibt es zwei Dinge, die ich nicht glauben kann: Erstens, dass es Menschen geben soll, die ewig leben und zweitens, dass es gelungen sein soll, das geheim zu halten.“
Er reagierte, als hätte ich ihm einen guten Witz erzählt. Dann sagte er: „Ein ewiges Leben kann es für niemanden geben. Auch wir werden krank, unsere Knochen nutzen sich ab und es gibt Unfälle, Kriege und Katastrophen. Aber wir können ein Leben auf das Fünf- oder Sechsfache verlängern. Es stimmt nicht, dass man sich Mühe gegeben hätte, es geheim zu halten. Doch bietet die Borniertheit der etablierten Wissenschaft einen guten Schutz. Aber genug davon! Ich warte schon die ganze Zeit, dass Sie fragen, wie ich Sie gefunden habe. Einen einzelnen Reisenden in einem fahrenden Zug, immerhin.“
„Wie sind Sie denn auf mich... Ich meine ...“
Seine Worte, so einfach sie waren, wirkten auf mich wie ein Tritt in die Weichteile. Und er lehnte sich einfach zurück und lachte! Dann zog er ein Handy aus seiner Umhängtasche. Es war ein älteres Modell. Er wählte eine Nummer.
Während er wartete, dass sich die Person am anderen Ende meldete, sagte er:
„Halten Sie es nicht für möglich, dass Menschen die vier- oder fünfhundert Jahre alt werden ihre Fähigkeiten – auch ihre Intuition – soweit schulen können, bis sie beherrschen, was man Telepathie nennt? Die meisten Leute halten das für Blödsinn, benutzen aber mit der größten Selbstverständlichkeit Mobiltelefone.“
Ein abgeschwächtes Quäken und Zischen am anderen Ende der Leitung. Eine Stimme. Er sagte: „Ja, ich komme gleich! Wir sind hier fast fertig.“
Dann legte er auf, betrachtete das Gerät, als handelte es sich um einen monströsen Käfer. Mit schwarzem Plastikgehäuse. Er sagte: „Wissen Sie, was passiert, wenn wir elektromagnetische Strahlung senden und empfangen? Von mir selbst würde ich das nicht behaupten.“
Das schien eine seltsame Antwort zu werden.
Er sagte: „Sicher meinen Sie, dass Techniker und Physiker es wissen... Lassen Sie mich die Antwort auf Ihre Frage so formulieren: Als Sie diese Fahrt begannen, sandten Ihre Gedanken eine Schwingung aus. Wir empfingen jemanden auf der Westbahnstrecke. Ich war gerade in St. Pölten, da habe ich beschlossen, Sie mir genauer anzuschauen. Beachten Sie die Präzision dieser Suche und die Spontaneität, die mich befähigte, UNVERZÜGLICH zu handeln!“
Vor dem großen Finale kam – natürlich – ein Bahnhof: Linz, Hauptstadt von Oberösterreich. Die Scheibe war beschlagen. Ich öffnete das Fenster. Es hatte zu regnen aufgehört. Hier stiegen mehr Leute zu. Einige kletterten aus dem Zug , hoben Koffer und Taschen hinunter auf den Bahnsteig, zogen Trolleys hinter sich her. Reisende gingen an der Abteiltür vorbei. Eine füllige Frau mit blond gefärbten Haaren kam herein: „Ist hier noch ein Platz frei?“
Mein Gegenüber nickte.
Wir fuhren weiter. Ins Schweigen der neuen Situation hinein sagte der Mann:
„Mehr zu sagen ist nicht nötig. Sie wissen nun, dass es uns gibt.“
Ich nickte. So abstrus es mir heute vorkommt: In diesem Augenblick befriedigte mich seine Antwort vollkommen. Erst später bemerkte ich auch nur, dass er mir nicht einmal seinen Namen verraten hatte. Die Frau unterdessen machte es sich bequem. Auch sie hatte einen Roman bei sich: „Lasset die Kinder zu mir kommen“ von Donna Leon. So schuf sie sich ein kleines Stück Privatheit in unserem Abteil. Das Bild auf dem Umschlag zeigte Gondeln vor einem Säulengang.
Sie schreckte auf, als der Mann rief: „Präzision und Spontaneität!“
Was war jetzt los?! Er sprang auf, zog seine Jacke an. Er schlüpfte auch in Lederhandschuhe. Dann sagte er noch: „Auf Wiedersehen!“ und ging hinaus.
Die Frau warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte die Achseln.
Dann dieses Quietschen, das anschwoll, unerträglich laut wurde, und: PENG!
Der Schlag war heftig. Mein Sitz traf mich hart im Rücken. Ein Ruck des ganzen Zuges wie von einem Hammerschlag beförderte uns im nächsten Moment in die Gegenrichtung. Die Frau verlor das Gleichgewicht, fiel aus dem Sitz. Aus anderen Abteilen hörte man schwere Gegenstände ihre Plätze verlassen. Platsch! Platsch! Mir war, als hing ich kurz in der Luft. Ein komisches Gefühl in der Blase.
Der Zug stand!
Ich habe gesehen, wie mein Volk leiden muss, und sein Weinen und Klagen habe ich gehört. (Apostelgeschichte 7, 34)
Aus allen Abteilen drang ein Gejammer und Gestöhne, als meldete sich jede einzelne Kreatur im ganzen Umkreis zu Wort und klagte ihr Leid. Nach dem Gefluche, dem Weinen und dem Geschrei zu schließen, musste es mindestens Verletzte gegeben haben! Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Knüppel über den Schädel gezogen. Dann hörte ich vor dem Abteil ein hässliches Geräusch, als würde jemand mit Gewalt eine Stoffbahn auseinander reißen. Ich wankte hinaus. Ein paar Meter weiter, war der Mann aus meinem Abteil damit beschäftigt, den Notausstieg zu öffnen. Das dafür vorgesehene Fenster hatte eine Art Reißverschluss, an dem man nur fest ziehen musste. Er hatte es noch nicht ganz aufbekommen. Scherben lösten sich.
Ich rief: „Sie spinnen wohl!“
Er nickte mir freundlich zu. Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis es ihm gelang, den Rest der Scheibe herauszureißen. Sie fiel klirrend auf den Boden. Er seufzte. Fünf oder sechs Leute sahen ihm jetzt zu, was ihn nicht weiter störte: Seine Finger, geschützt durch die Handschuhe, suchten Halt in der Fensteröffnung. Er kletterte hinaus. Jetzt war die Nacht vor ihm, wie ein weites dunkles Element. Schnelle Schritte tappten durch den Gang! Die Schaffnerin. Sie rief: „Halt! Halt! Was tun Sie da?“
Der Griff der Notbremse hing anklagend an dem weit herausgerissenen Kabel und gab einen gewissen Hinweis, was geschehen war. Wir machten Platz. Sie erreichte rutschend und keuchend das offene Loch, als der Mann auf den kantigen Steinen das Bahndammes landete. Das knirschte! Was vor ihm war, konnten wir schlecht erkennen: Ein paar Büsche, dahinter wohl ein Feldweg. Draußen strich der Lichtkegel einer Taschenlampe herum und ließ Einzelheiten deutlicher hervortreten. Wir waren längst sechs oder sieben Leute, die vor dem Fenster standen und mit offenen Mündern in die Dunkelheit starrten. Ein Schaffner ging am Zug entlang, wollte sich ein Bild von der Lage machen. Wir hörten, wie in einiger Entfernung ein Auto startete. Scheinwerfer gingen an. Der Mann aus meinem Abteil fuhr davon - und war verschwunden.
Worüber wir gesprochen hatten, wollte in Salzburg der Polizist wissen, der mich und die Frau aus dem Abteil befragte. Der Geruch in der Wachstube am Bahnhof war ein Verwandter des Geruchs im Abteil. Ohne Grund bei einem Inter City die Notbremse zu ziehen, den Notausgang aufzureißen und dann zu flüchten, war eine ernste Sache! Mindestens fünf Passagiere waren verletzt. Wie leicht es mir fiel, den Polizeibeamten anzulügen!
Ich sagte: „Er hat mit mir über eine Verjüngungskur gesprochen, irgendein Wellness-Produkt!“
„Und bevor er aufgestanden ist, hat er nichts gesagt?“
„Doch. Ich glaube, etwas über Präzision und Spontaneität. Was er damit gemeint hat, weiß ich nicht.“
„Das hört sich komisch an, nicht?“
„Ja. Er hat einen verrückten Eindruck gemacht. Als wäre er nicht ganz bei sich.“
So ging das. Eine halbe Stunde lang.
Ohne mich bewusst dafür zu entscheiden, verbündete ich mich mit dem Mann aus meinem Abteil. Während der Zug den letzten Teil der Strecke bis Salzburg schlich, bei der Polizei, beim Arzt, später – endlich – im Bett und in den Wochen darauf dachte ich dann immer wieder an SIE, die Gruppe, die im Gewimmel der Menschheit Kapital sammelte und stärker wurde, unüberwindlich, wie einst die ersten Christen, die in den Katakomben Roms ihr kommendes Reich vorbereiteten ...
Oder sollte die Vorstellung des angeblich 148-jährigen ein Streich gewesen sein? Etwas Maskerade, Schminke ins Gesicht, ein vorher abgestelltes Auto und fünfhundert oder sechshundert Euro, dazu diese Geschichte als Mittel, jemanden oder die Öffentlichkeit etwas glauben zu lassen. Beide Möglichkeiten waren unwahrscheinlich, die erste mehr als die zweite, doch ich war kurz davor, mich dafür zu entscheiden, sie zu glauben – wie alle Bestandteile eines Weltbildes das Ergebnis von Entscheidungen sind, die irgendjemand irgendwann getroffen hat.