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Mein imaginäres Chaos
„Hier! Eine Tasse Tee, Mr. -“
„Ich hasse Tee.“
Mit einer Grimasse sah ich dem fünfjährigen Mädchen dabei zu, wie es mir eine leere Tasse vor die Nase stellte und die Teekanne anhob.
„Das ist Sternenstaub-Tee. Entchen hat ihn extra für uns gemacht.“
Sie tätschelte dem Stofftier zu Ihrer Linken liebevoll den Kopf, ehe sie die Kanne in ihren Händen anwinkelte, um den nicht vorhandenen Inhalt in unsere Becherchen zu schütten.
Ich stieß brummend die Luft aus und stützte meinen Kopf auf meine flache Hand. Mein Blick wanderte zu den vielen Kuscheltieren, die rings um den rosa Plastiktisch drapiert worden waren, als handelte es sich hier um eine wichtige Versammlung.
Sarah setzte den Gegenstand wieder ab, nahm ihren Becher in die Hand und stupste ihn gegen meine Tasse, „Klirr“, ahmte sie den Ton nach und nippte an dem leeren Becherchen.
Genervt massierte ich mir die Nasenwurzel: „In deinem Kopf muss es schrecklich aussehen.“
Das kleine Mädchen stellte sie wieder ab: „Das war lecker!“
Ihre großen blauen Augen lasteten nun auf meinem unberührten Tee. „Du hast noch nicht ausgetrunken!“
„Die Tasse ist leer.“
Ungelenk patschte ihre Hand auf den Tisch, bevor sie meine Tasse zu fassen bekam: „Ich trinke für dich aus.“
Mit einem lauten Mmmh stellte sie sie wieder ab, bevor sie begann, ihren Stofftieren zu trinken zu geben.
Ich versuchte es mir auf dem viel zu kleinen Stuhl bequem zu machen: „Wie lange wollen wir hier noch sitzen bleiben? Hast du nicht irgendetwas zu tun?“
„Ich will ein Geschenk für meine Mama machen!“
Bei ihren Worten hörte ich ein Pfeifen durch ihre Zahnlücke.
Sie ließ von den Bechern ab und tappte um den Tisch herum. Ich beobachtete sie dabei, wie sie in ihrer Spielkiste kramte und schließlich Wachsmalstifte und Papier hervorholte.
Sie trat wieder neben mich und hielt mir die Sachen entgegen: „Ich will ihr ein Bild malen!“
Ich verzog verächtlich das Gesicht: „Begabt bist du aber nicht gerade.“
„Meine Mama hat gesagt, dass sie meine Bilder mag.“
„Sie muss das sagen, sie ist eben deine Mutter.“
Achtlos schob Sarah das Geschirr auf dem Tisch weg, wodurch es mit einem dumpfen Aufprall auf den Teppichboden polterte: „Du kannst die Sonne malen.“
Sie ließ sich auf das Stühlchen fallen und begann, mit um den Stift geballter Faust, wilde Kreise auf dem Papier zu malen. Ihre Beine schaukelten währenddessen unaufhörlich.
Irritiert sah ich den entstandenen braunen Fleck auf dem Papier an, als sie nach der nächsten Farbe griff: „Was soll das darstellen?“
„Ein Igel! Meine Mama mag Igel“, sagte sie und zog die Nase hoch: „Letztes Mal habe ich einen Igel im Garten gefunden und er war ganz klein. Ich habe immer gedacht, dass Igel viel größer sind, aber als ich ihn dann am Baum gesehen habe, war es ganz anders. Meine Freundin Betty hat gesagt, dass-“
„Das reicht an Hintergrundinformationen. Deine Lebensgeschichte heben wir uns für das nächste Mal auf.“
Eifrig malte sie weiter und wippte wieder mit den Beinen. Sie hämmerte mit dem Stift gnadenlos auf das Blatt ein und gab dem Igel die Stacheln. Bei den unausstehlichen Geräuschen drückte ich mir, in dem Versuch Abhilfe zu schaffen, Mittel- und Zeigefinger gegen die Schläfe: „Muss das denn so laut sein?“
Sie schob die Unterlippe vor und setzte ihre Arbeit leiser fort.
Sarah nahm schließlich das Grün zur Hand und zeichnete den Boden ein.
Als sie schließlich endete, legte sie das Blatt eifrig zur Seite und begann, ein neues Meisterwerk.
Mir entging nicht, wie sie mich immer wieder anstarrte und versuchte, sich mein Gesicht einzuprägen. „Du malst doch nicht etwa mich?“
Mit gehobener Braue lehnte ich mich zu ihr herüber und sah zwei große, grüne Glubschaugen.
Sofort verdeckte sie ihr Gemälde mit den kurzen Armen: „Nicht gucken!“
„So sehe ich doch gar nicht aus!“
„Ich bin noch nicht fertig!“
„Besser wird es dadurch trotzdem nicht.“
„Ich mache dich hübsch, du wirst sehen.“
Erledigt fuhr ich mir mit den Händen über das Gesicht „Warum? Warum ich?“
Ich hörte den Stift wieder über das Papier ziehen. Sarah wischte sich mit dem Ärmel ihres Hemdes über die Nase: „Weißt du, Betty hat mich gefragt, was ich einmal werden will.“
„Aha.“
„Ich habe ganz lange gedacht, dass ich mit Tierchen spielen will. Also will ich etwas mit Tieren machen.“
„Ach, was du nicht sagst.“
Nachdenklich legte sie den Kopf schief und stützte sich mit einer Hand auf ihrem Sitz ab: „Was gibt es den mit Tieren, das ich tun kann?“
„Jäger.“
Sie ließ sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen: „Tun die den Tieren nicht weh?“
„In der Art, ja.“
„Dann will ich das nicht.“
Seufzend schaute ich ihr dabei zu, wie sie meinen Körper in Form eines Kastens darstellte „Wie wäre es mit Tierärztin? Nicht, dass du das Studium schaffen würdest, aber-“ - „Das ist toll! Dann kann ich allen helfen.“
Glücklich sprang sie von ihrem Stuhl und nahm ihren Hasen in die Hand: „Wenn ich groß bin, will ich ganz viele Hasen haben, wie Tommy hier.“ Sie zog das Kaninchen an den Ohren „Nicht wahr, Tommy.“
Ich betete für alle Hasen auf dieser Welt, dass dieses Kind kein Haustier vor dem 18. Lebensjahr bekommen würde.
Sarah riss mich wieder aus den Gedanken: „Was willst du später einmal werden?“
Perplex sah ich sie an. Was ich werden möchte?
„Ich bin Community Manager. Zumindest war ich das.“
„Was ist das?“
„Ich bin für die Kundenbindung im Internet zuständig gewesen, aber davon hast du natürlich keine Ahnung, denn du bist ein Kind und Kinder verstehen nichts davon.“
Sarah setzte sich wieder neben mich und begann mit einem skeptischen Gesichtsausdruck ihre Strümpfe hoch zu ziehen: „Warum bist du kein Comutie mehr?“
Ich belächelte ihre Wortwahl.
„Ich kann kein Community Manager sein, wenn ich hier bei dir bin.“
„Warum nicht?“
Ich dachte nach: „Wie soll ich das erklären, damit du es auch verstehst?“
Ich rieb mir das Kinn. Mir kamen das Papier und die Stifte in den Sinn.
„Also schön. Pass gut auf, ich erkläre es dir kein zweites Mal.“
Ich nahm Sarahs Hand in meine und brachte sie dazu, einen Stift zu nehmen, bevor ich mit ihr hastig einen Engel in die linke und einen Teufel in die rechte Seite des Blattes kritzelte. Sarah schaute versucht konzentriert auf meine Hand.
Ich kringelte den Engel ein und sagte: „Wie du weißt, kommen alle gute Menschen in den Himmel. Du weißt schon, das Paradies, 72 Jungfrauen, et cetera, et cetera.“
Nun fuhr ich die Kreise um den Teufel: „Alle bösen Menschen, dich eingeschlossen, kommen in die Hölle. Dort werden alle Mörder, Juristen und quengelnden Kinder in die ewige Verdammnis geschickt.“
„Ich will da aber nicht hin!“
„Wirst du aber, wenn du mich noch einmal unterbrichst.“#
Sie schwieg. Ich fuhr fort und malte mit dem Stift in ihrer Hand in die Mitte ein äußerst gutaussehendes Männchen: „Aber niemand fragt sich, was mit den Menschen geschieht, die keines von beiden sind. Weder gut noch böse.“
Ich malte ein dickes Fragezeichen über die Zeichnung.
Sarah streckte den Kopf, um besser sehen zu können: „Und was machen die dann mit denen?“
Ich schaute finster drein und lies ihre Hand los: „Der schnöde Rest, der sich von der Masse abhebt, wird dazu verurteilt, sich mit kleinen Quälgeistern die Zeit zu vertreiben. Ohne Aussicht auf ein kultiviertes Gespräch oder einen intellektuellen Gleichgesinnten. Stattdessen spielen sie die Kindermädchen für Kleinkinder.“
„Warum?“
Ich schaute zu ihr herunter und blies die Luft aus meinen Lungen: „Ich habe keine Ahnung. Alles, was ich weiß, ist, dass ich hier nur so lange bin, bis du diese Phase hinter dir hast.“
„Wohin gehst du denn?“
Ich verstummte, da ich die Antwort darauf gewiss nicht kannte. Für einen Moment legte sich eine erdrückende Ruhe über mich, dann schüttelte ich energisch den Kopf „Das geht dich nichts an, du Nervensäge. Und jetzt mal dein Bild fertig.“
Unzufrieden nahm sie wieder einen Stift und zeichnete das Portrait fertig.
Jedoch hielt sie das nicht davon ab, wieder den Mund zu öffnen: „Meinst du, Entchen ist gut genug für den Himmel?“
Ich holte Luft, um ihr zu antworten, als sich die Tür zu Sarahs Zimmer öffnete und ihre Mutter das Zimmer betrat. Gleichzeitig schauten wir auf.
„Schatz, zieh dich an, wir gehen zu Oma.“
Sarahs Augen begannen zu leuchten und sie kratzte ihre Bilder auf dem Tisch zusammen, bevor sie auf ihre Mutter zurannte: „Mama, sieh mal! Ich habe dir etwas gemalt!“
Ein Lächeln entstand auf dem Gesicht der Frau und sie beugte sich zu ihr hinunter. Sie sah aus wie ein älteres Abbild ihrer Tochter. Entzückt sprach sie: „Die sind spitze geworden!“
Sie schaute sich das zweite Blatt an, wodurch eine steile Furche zwischen ihren Brauen entstand: „Liebling, wer ist das?“
Sarah stellte sich auf die Zehenspitzen, um ebenfalls auf die Zeichnung schauen zu können, bevor sie freudig auf mich zeigte. „Na, er! Mr. Rickles !“, sagte sie. Ihre Mutter schaute sich irritiert im leeren Zimmer um, während das Kind fröhlich weitererzählte: „Mama, ich hab dich doch mal gefragt, was ich werden soll.“
Sie schaute wieder zu ihrer Tochter, sichtlich überrascht: „Ja?“
„Mr. Rickles hat mir gesagt, dass ich Tierärztin werden kann! Dann kann ich kleinen Tierchen helfen, dass sie nicht mehr krank werden können.“
Ihre Mutter lächelte: „Das hat er gesagt? Dieser Mr. Rickles weiß wohl genau, wovon er redet.“
Heftig nickte Sarah und zog an dem Saum ihres Pullovers. „Kann er mit zu Oma kommen? Er wird auch ganz brav sein!“
Die Mutter streichelte ihrer Tochter über den Kopf. „Leider ist Oma sehr krank und darf nicht so viel Besuch bekommen. Aber er darf später gerne mitessen. Okay?“
Etwas enttäuscht nickte das Mädchen, ehe sie aufgefordert wurde, ihre Stiefel mitzunehmen. Eilig stolperte sie durch das Zimmer, griff nach ihren Schuhen und hängte sich beim rausgehen an die Türklinke „Ich bin nur kurz bei Oma.“
Sie sah mir direkt in die Augen und ich lächelte kaum merklich. „Ich bin unsichtbar, nicht taub.“
„Geh nicht weg, okay?“
Sie wartete schon gar nicht mehr meine Antwort ab und ließ die Tür angelehnt zurück.
Ich lächelte sacht.
„Ich werde hier sein.“