- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Mein Ich ist ein Hirngespinst – und Dein's?
Irgendwo huscht ein Reh.
Es ist dunkel, und ich muss auf die andere Seite. Meine Stirnlampe, ein Chinaprodukt, gefüllt mit 3 AAA-Batterien aus Bangladesch. Ich befunzel das Unterholz, dahinter steigt die Böschung auf bis zur Leitplanke, jenseits der Standstreifen, dann: drei Fahrspuren je Richtung - dazwischen ein schmaler Grünsteifen, auch umplankt – und noch eine Standspur. Leitplanke.
Keine Übergänge weit und breit, der Verkehr schießt hochfrequent dahin und mein Rucksack wiegt knapp elf Kilo, obwohl ich sogar die Waschanleitungsfahnen aus den Klamotten geschnitten habe.
Ich muss rüber.
Am Fuße der Böschung verschluckt ein dunkler Fleck, der aussieht wie ein liegendes Ei, mein fernöstliches Lichtspiel.
Was mag das sein?
Ich taste mich durchs Gestrüpp dem Schatten zu und staune. Ein Tunnel. Ganz offensichtlich eine Röhre ans andere Ufer. Ein Plasikschild neben dem Loch gibt bekannt:
Gestiftet von den Kirchheimer Krötenfreunden e.V. zur Erleichterung der Wanderung von Bufo bufo zu seinen Teichgründen.
Herzlichst
Kirchheimer Krötenfreunde
Mein Glück scheint hier darin zu bestehen, dass die Kirchheimer Krötenfreunde einen relativ großzügigen Lösungsweg gestiftet haben, vielleicht mussten hier Spendengelder regelrecht verbrannt werden, da deren Aufkommen die Projektkosten unangemessen überstiegen? Schwalle von Wanderkröten vermochten hier bequem und nebeneinander in erstaunlich breiter Reihung die Autobahn zu unterqueren. Möglich auch, dass man seitens der Krötenfreunde in evolutionärer Weitsicht bereits umfänglichere Mutationen eingeplant hatte.
In robbendem Bewegungsmodus scheint mir der gebotene Durchmesser ausreichend zu sein, den Versuch zu wagen. Ich nehme mir den Rucksack von den Schultern und schiebe ihn voraus in die rundlich-ovale Öffnung, das liegende Ei. Der Plan: ihn jeweils ein Stück nach vorn bugsieren und hinterher zu robben.
Ehe ich nachschlüpfe, muss ich mich für die Position meine Arme entscheiden. Voraus oder seitlich?
Meiner Einschätzung nach kann die einmal getroffene Entscheidung im Tunnel nicht mehr revidiert werden, mangels Spielraums.
Meine Wahl verwirft die Kopfstoß-Methode zum Vortrieb des Rucksacks, und so dringe ich gestreckter Arme voraus in das Bauwerk amphibiophiler Naturtiefbauer.
Da eine Winkelstellung der Beine nur in geringen Maße in Betracht kommt, erscheint die Durchführung klassischer Bundeswehr-Grundausbildungsfortbewegung wirklichkeitsfremd.
Ich erlange dennoch einen gewissen Vortrieb, der sich hauptsächlich auf seitlich wechselnde, insgesamt rhythmische, ruckende Bewegungen stützt. Hinzu kommt das Schieben mit den Füßen sowie der Versuch, mich am Rucksack, sofern dieser (auch ob seines sonst gern gesehenen, abgespeckten Eigengewichtes) stabil und ortsfest in der Röhre klemmt, vornwärts zu ziehen, was meist scheitert, da dem Sack diese Zugrichtung fremd ist.
Ich lege eine Pause ein.
Eine Erkenntnis reift heran, wie in einem Ei, die Erkenntnis, dass aus verschiedenen, vermutlich vor allem physikalischen Gründen nicht daran zu denken ist, den Vorgang abzubrechen und umzukehren. Genauso wenig, wie die unterdessen eher Dunkelheit spendenden Energiespeicher aus Bangladesch auszutauschen, da sich die Ersatzbatterien auf der mir abgewandten Seite des Rucksacks befinden.
Eine halbe Stunde später. Ich wähne mich unter dem Grünstreifen. Es besteht eigentlich kein objektiver Grund, der diese Spekulation mit Sinn unterfütterte; es ist – ein Gefühl, welches, wie ich mir vorstelle, meinem Wesen nach nah an der pessimistischen Seite des Vermutungsrahmens verortet ist.
Das Wenige, was gesichert scheint, ist, dass der Rucksack dem Ziel um einige Dezimeter näher ist, als die neurobiologische Illusion, die ihn bugsiert. Und jenes Bugsieren gerät mir nach jedem Male schwerer.
Zunächst schiebe ich diesen Umstand auf mählich erlöschende Kräfte, doch nun eine Bekanntgabe:
Die Stiftung Kirchheimer Krötenfreunde e.V. bedauert es, versäumt zu haben, bekanntzugeben, dass die Unterführung für unsere teichahnenden Freunde aufgrund der im Verlaufe nachlassenden Spendenbereitschaft sich dazu veranlasst sehen musste, den westlichen Teil des Durchlasses um einige unbedeutende Zentimeter geringer zu gestalten, wodurch sich in der Summe ein kaum messbarer, konischer Charakter der Gesamtführung ergibt.
Herzlichst
Kirchheimer Krötenfreunde
Ich erreiche meinen Rucksack nicht mehr. Er ist ein Stückchen weiter, sehen kann ich ihn nicht. Ich weiß aber, dass er da ist, samt Wasserflasche, Batterien, Mobilfunkgerät, Nussfruchtmischung.
Seitliche Ruckbewegungen sind fast nur noch gedanklich möglich, es sind vielleicht noch Zuckungen, die allerdings keine Verlagerung mehr ermöglichen. Ebenso wenig das schiebende Pressen der Fußspitzen: Ich stecke fest. Wie ein Korken.
Es ist möglich, dass ich infolge von Dehydratation oder Muskel- und Fettabbau wieder ein wenig Spielraum dazugewinnen werde. Irgendwann. Aber es ist nicht wahrscheinlich, dass ich mich noch diesseits der Bewusstlosigkeit daran werde erfreuen können.
Vielleicht kommen Kröten...freunde. Sie werden mir aber nicht helfen, sondern mich hassen, da sie gezwungen sind, ihren Weg über eine sechsspurige Autobahn zu nehmen. Wenige werden es auf den Grünstreifen schaffen.
Nur die Mutationen.