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Mein Heiligabend
Es war wieder Heiligabend. Und glaube mir, ich bin kein Feind vom Weihnachtsfest, auch wenn ich zu den Menschen gehöre, die ihre Geschenke für die ganze Familie, Freunde und Scheinfreunde an einem Tag oder noch besser direkt am Vormittag vom Heiligen Abend besorgen.
Da ich ja geschieden bin, verbringt meine kleine Tochter jeden vierundzwanzigsten Dezember bei ihrer Mama, während ich der jährlichen Einladung meines älteren Bruders folge.
"Damit du nicht so allein bist", heißt es dann ganz großzügig. Nun denn, so entfloh ich dieses Jahr wieder meiner geliebten Einsamkeit und besuchte meinen Bruder und wusste dabei, dass es wahrscheinlich wieder ein Heiliger Abend werden würde, der dem vorangegangenen gleicht. Genaugenommen hätte man mir auch die Videokassette der Feier im Vorjahr abspielen können, ich hätte keinen Unterschied wahrgenommen. Das mag daran liegen, dass mein Bruder sehr an unseren Traditionen hängt, und er versucht jedes Jahr, das Fest, so wie wir es in unserer Kindheit erlebt hatten, für seine Kinder zu kopieren.
Ich kam, ganz unromantisch mit einer großen Plastiktüte, wie immer, zu spät, was die verabredete Zeit betrifft. Dennoch war ich zu früh, denn alle warteten noch im Flur auf das Klingeln vom Christkindchen. Alle, das waren meine Eltern und meine jüngste Schwester mit ihrem Verlobten, die wohl alle, wie ich, der Einsamkeit entkamen; und es waren die vier Kinder meines Bruders, er selbst und seine Frau. Für seine beiden jüngsten Kinder war die Existenz des Chriskindchens so real wie die gegenwärtige Stille, denn wir lauschten angestrengt, wann endlich das Geburtstagskind uns mit seinem Klingeln erlöste. Offensichtlich hatte mein technisch versierter Bruder eine Zeitmechanik für eine Tonbandklingel im Wohnzimmer angebracht, die noch offensichtlicher nicht funktionierte, so dass meine Schwägerin doch mal nachsehen gehen musste, wieso das Christkindchen so lange brauchte. Und siehe da, kaum hatte die Frau des Hauses das Wohnzimmer betreten, hatte der Wunderknabe die Stereoanlage eingeschaltet, und es ertönte christliche Weihnachtsmusik. Da waren die beiden Kleinsten nicht mehr zu bremsen. Der Rest folgte ihnen in disziplinierter Ruhe. Der letzte, der das Wohnzimmer betrat, war ich, wissend was uns nun erwartete, so dass ich meinen nichtvorhandenen Eifer noch mehr zügeln konnte. Die Schwägerin verteilte Zettel. Darauf war ein Lied, eines von denen, die man nur einmal im Jahr singt. "Leise rieselt der Schnee!" Ein Lied, mit mindestens neunundneunzig Strophen, wovon ich höchstens die erste kenne.
"So jetzt singen wir erst mal, dann haben wir noch Programm", verkündete die Schwägerin. Programm? Sie meinte wirklich, dass ich mich jetzt nicht sofort gemütlich in den Sessel hinten in der Ecke setzen konnte?! Entsetzlich! Ich nahm also ebenfalls einen Zettel. Da waren sogar die Noten abgebildet, nur für den Fall, dass jemand in diesem Jahr die Melodie von "Leise rieselt der Schnee" nicht schon tausend mal im Kaufhaus, Funk und Fernsehen oder sonst wo gehört hatte, und falls einer von uns Noten lesen kann. Mein Bruder setzte auf Sicherheit und legte eine instrumentale Version in den CD-Player ein. Dann konnte es losgehen. Ich sah mich selbst immer weiter hinter die Massen verstecken und starrte auf den Zettel, während die anderen ganz mutig bewiesen, wie gut sie die erste Strophe beherrschten. Den kontrollierenden Blicke verschiedener Familienangehörigen, die meine Solidarität im Singen überprüften, begegnete ich mit einem stummen Öffnen und Schließen meines Mundes; das machte jedem Fisch Konkurrenz. Bei der zweiten Strophe schauten schon mehr Leute auf den Zettel, einzig allein mein Vater, sang ganz selbstbewusst das Blatt keines Blickes würdigend laut und sicher, so dass ich kurz nachdachte, ob es sein kann, dass "Leise rieselt der Schnee" bei ihm damals in den Charts gewesen war.
Nach dem Pflichtsingen, die Kinder waren anscheinend noch nicht heiß genug auf die in den Ecken lauernden Geschenken, kam das angedrohte Programm.
Der älteste Sohn durfte, musste, sollte, ich weiß es nicht, ein Gedicht aufsagen. Er stellte sich vor die gesamte Familie, in ihm spiegelte sich das ganze Selbstbewusstsein des sicher auswendig gelernten Gedichts. Er gab Gas, ratterte die Verse mit einem überlegenen Grinsen herunter, bis sein Großvater ihn bremste:
"Langsam, langsam!" Das Grinsen des Zwölfjährigen gefror augenblicklich, und der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben. Völlig aus dem Konzept geraten stotterte er den Rest des Gedichts ab und war sichtlich erleichtert, als das letzte Wort fiel. Und wenn ich seine Gedanken lesen könnte, dann hätte ich in ihnen ganz bestimmt gelesen, dass er sich gerade schwor, jeder Poesie für immer und endgültig den Rücken zu kehren.
Die älteste Tochter, sie ist vierzehn Jahre alt, beglückte uns Anwesenden mit einem Blockflötenspiel.
"Ich möchte Euch nun "Oh Tannenbaum" vorspielen. Ich kann aber nur die erste Hälfte vom Lied, die zweite gelingt mir einfach nicht."
"Perfekt", dachte ich. Und es kam auch so. Nach "wie grün sind deine Blätter", verstummte die Flöte. Man klatschte! Es war doch Weihnachten.
"Stevie", wandte sich meine Schwägerin an den siebjährigen Sohn, "möchtest du jetzt auch noch ein Gedicht vortragen?" Wenn mein Neffe vorgehabt hatte, etwas aufzusagen, dann hatte er es sich schnell überlegt, denn er drehte sich hastig um und würgte ein "nein" hervor.
"Super", dachte ich, denn damit war das Programm vorbei. Die Kinder wurden endlich auf ihre Geschenke losgelassen, und ich bekam meine Schutzzone in Form des Sessels in der Ecke. Ich mag diesen Platz, er war für die Kinder schlecht erreichbar, so verirrte sich nur selten eines auf meinen Schoß, und ich konnte alles überblicken. Ich sah den Weihnachtsbaum, ein Riesenteil, er erinnerte mich an meine Kindheit. Unter ihm stand eine alte Krippe, die hatte damals mein Vater selbst gemacht. Schön, dass diese die Jahre überdauert hatte. Und ich sah vier plündernde Kinder und ein Fahrrad. Wem konnte dieses Fahrrad gehören? Der zwölfjährige Sohn ahnte schon, dass es seins war, aber er hatte ja auch noch zwei Schwestern und einen Bruder.
"Hey, deine beiden jüngeren Geschwister sind zu klein für das Fahrrad, und deine pubertierende Schwester steht eher auf Handys. Also krall es dir", waren meine Gedanken. Er war aber als Gedankenleser eine Niete und brauchte auch noch eine weitere Stunde, bis er es endlich schaffte, seinen Vater zu fragen, wem dieses Fahrrad nun gehören sollte.
Ein Berg voller Geschenke, da vermischten sich die von mir unter der Masse. Das war auch gut so, denn ich als geschiedener Mann habe leider kein größeres Polster für Weihnachtsgeschenke. Es reichte nur für jeweils eine Kleinigkeit. Einzig meine älteste Nichte hielt die Gaben auseinander, und sie freute sich sogar über das amerikanisch verpackte Parfüm von mir. Sie trug es gleich auf. Au Backe! Vielleicht hätte ich vor dem Kauf einmal proberiechen sollen, das Mädchen stank nämlich fürchterlich, so dass ich nur hoffen konnte, dass sie noch keinen Sinn für parfümierte Gerüche hatte. Sie schien augenscheinlich keinen zu haben. Mein Glück, denn die Flasche hatte gerade mal ganze zwei Euro gekostet.
So ging das Fest weiter. Das Essen war gut und reichlich und anschließend saßen wir in einer gemütlichen Runde. Die beiden jüngsten Kinder hatten ihr altes Spielzeug aus der Truhe geholt, und der stolze Fahrradbesitzer warf sich in einen freien Sessel und teilte uns mit, dass er Langeweile hätte. Das war dann so der Moment, in dem ich heimlich zur Wanduhr schielte. Drei Stunden waren vergangen, Zeit für mich zu gehen.
Mein Heiligabend war vorüber.