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- 30.12.2003
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Mein Gesicht
Mein Gesicht
Ich schaue in den Spiegel und sehe mein Gesicht. Was geht in ihm vor? Ist es fröhlich oder traurig, düster oder heiter? Heute ist Silvester, der letzte Tag im Jahr – was sagt mir dieses Gesicht?
Sorgenvoll verzieht sich die Stirn. „Hallo“, sagt plötzlich eine Runzel, „ist da noch jemand außer mir? Ich überlege gerade, ob ich mich noch tiefer eingraben soll?“.
Lustig bewegen sich die Mundwinkel nach oben. „Guten Tag, Runzel“, meldet sich eine Lachfalte. „Kaum zu glauben, aber das Jahr ist vorbei. Ich habe das ganze Jahr genutzt, um das Gesicht zu prägen. Es war aber auch zu spaßig!“.
Nun verengen sich die Augen. „Na ihr könnt ja tiefsinnige Gespräche führen“, mischt sich aufgeräumt ein Krähenfuß ein. „Habt ihr denn nichts anderes zu tun? Die Zeit vergeht, und wir hinterlassen alle unsere Spuren. Besonders in Menschengesichtern. Was nützt das Philosophieren?“.
Eine verlegene Pause tritt ein, bevor sich ein Grübchen räuspert: „Ähm, also ich finde, dass ich mich gut platzieren konnte in diesem Jahr. Ja, ja, ich mache mich breit auf den Wangen.“
„Schon, schon“, fällt die Runzel ein, „doch wie soll es weitergehen im nächsten Jahr? Mich quält allmählich der Gedanke, dass ich bald nicht mehr Platz genug haben werde. Ein Gesicht ist ja kein Fußballplatz, schließlich!“.
Endlich reiße ich mich los von meinem Spiegelbild. Recht haben sie, alle! Ich habe gelebt, ich lebe, ich werde leben ... und sie alle teilen sich mein Gesicht: die Runzeln und die Grübchen, die Krähenfüße und die Falten. Was will ich mehr?! Ich freue mich auf das kommende Jahr und darauf, dass es sich in meinem Gesicht widerspiegeln wird – mit seinem Kummer und seinem Schmerz eben so wie mit seiner fröhlichen Ausgelassenheit und auch mit seiner Nachdenklichkeit.