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Mein Freund Ibrahim
Gerade als ich mit meinem Frühstück beginnen möchte, höre ich den Briefträger an meiner Haustür. Ich lege die Morgenzeitung wieder beiseite und schlüpfe in meine alten Pantoffel, die unter dem Tisch stehen. Im Briefkasten liegt ein grauer, ziemlich mitgenommener Brief mit einer ausländischen Marke. Neugierig taste ich nach meiner Brille. Marokko!
Ich lächle unwillkürlich. Er ist von Ibrahim, meinem besten Freund. Mit meinem Frühstücksmesser schlitze ich das Kuvert vorsichtig auf.
Erschrocken starre ich die Schrift an, und die wenigen Zeilen auf dem weißen Blatt Papier.
Sie sind von Zara, Ibrahims Frau. Eine dunkelhäutigen Schönheit, das Sinnbild aller Weiblichkeit. Ungläubig lese ich ihre Worte. Ibrahim ist tot. Ich schließe die Augen. Nein, dass kann nicht sein. Er und seine Geschichten können nicht einfach weg sein. Mein Herz kommt aus dem Takt. Die Tränen fließen ungewollt aus meinen Augen. Zitternd sitze ich auf meinem Sessel, schiebe den Kaffee zur Seite. Meine Trauer ist unendlich.
Ich sehe ihn vor mir, wie beim ersten Mal. Einen schmächtigen Körper, darüber ein dunkler Wuschelkopf mit braunen Knopfaugen. Seine Haut so dunkel wie Mahagoni.
Unser Mietshaus war nichts für feine Leute und er passte wunderbar hierher. Ich war ein Schlüsselkind, meine Eltern arbeiteten in der Fabrik. Und so langweilte ich mich oft. Dann setzte ich mich draußen auf die Mauer vor dem Haus, und beobachtete die Menschen. Interessiert betrachtete ich den neuen Jungen aus dem Haus. Hier gab es nicht viele Kinder.
Ibrahim hatte eine weite weiße Hose an, und ein blaues Hemd. In seiner Hand hielt er einen roten Apfel. Er schlenderte auf mich zu, setzte sich zu mir. Holte aus seiner Hosentasche ein Taschenmesser, schnitt den Apfel durch und gab mir die Hälfte. Das war der Beginn unserer Freundschaft.
Von diesem Tag an, war mir nie mehr langweilig. Jeder Tag mit ihm war ein Abenteuer. Nein, nicht das wir Sachen anstellten. Unsere Abenteuer erlebten wir in unseren Köpfen und das war alleine Ibrahim zu verdanken. Er war nämlich schon damals ein Geschichtenerzähler. Mit ihm flog ich auf fliegenden Teppichen zu Schlössern und in fremde Länder. Wir besuchten Piraten und Räuberhöhlen. Er hatte eine unermessliche Fantasie und nichts konnte ihn stoppen. Ich war süchtig nach seinen Geschichten und keine war wie die andere. Schon nach einigen Wochen hatte er einen richtigen Fanclub. Sämtliche Kinder unseres Viertels saßen um Ibrahim. Er war nie allein. Sobald er seine Schritte nach draußen lenkte, war er umringt von Kindern, die alle seine Freunde sein wollten.
Doch ich Jonas, war sein allerbester Freund. Er hatte eine ganz besondere Gabe. Er wusste immer, wie die Stimmung seiner Zuhörer war, und dementsprechend waren dann seine Geschichten Als mein Großvater starb denn ich sehr geliebt hatte, da erzählte er mir von einem Land, in das Opa gegangen war. Von wunderbaren Regenbogen und Vögeln. Er beschrieb es in so schönen Farben, dass jeder der noch lebte, Sehnsucht danach bekam. Am Ende der Geschichte beneidete ich meinen Großvater, und wäre auch gerne dort gewesen. Sein Gesicht war das ausdrucksstärkste das ich jemals gesehen hatte. Aber auch das ehrlichste.
Ibrahim log niemals. All diese Geschichten die er erfand, waren in seinem Kopf und somit real. Viel später erfuhr ich, dass er diese Gabe in seinen Genen hatte. Sein Urgroßvater war Märchenerzähler auf dem Gauklermarkt in Marrakesch gewesen.
Frau Meier-Lüdenstein liebte Ibrahim über alles. Sie war unsere Deutschlehrerin. Wenn wir einen Aufsatz schreiben mussten, wusste er im Voraus wie das Befinden unserer Lehrerin war. Danach richtete er auch den Ausgang seiner Geschichten. Ich glaube, unsere Lehrerin konnte wie wir, nicht genug von ihnen bekommen.
Einmal im Jahr fuhr er mit seinen Eltern nach Marokko zu seinen Verwandten. Sie wohnten direkt in Marrakesch, in einem Viertel nicht weit vom Gauklermarkt. Natürlich konnte Ibrahim die Sprache seines Großvaters perfekt. Und so saß er dann, meist in den Sommerferien, sechs Wochen dort, und hörte sich die wunderbarsten Geschichten an.
Für uns war es jedes Mal öde und leer in dieser Zeit, aber wenn er wiederkam dann war das für uns ein Highlight. Die farbige Welt Arabiens brachte er uns näher wie kein anderer.
Wenn man ihn fragte, was sein Berufswunsch war, antwortete er nie. Er lächelte nur sanft. Und ich konnte die Antwort in seinen Augen lesen.
Ibrahim war nie ein Teenager wie wir. Er ging nicht aus, trank kein Bier im Park und kiffte auch nicht nur zum Ausprobieren. Es gab eine Zeit, da fand ich ihn und die Dinge die er mir erzählte langweilig. Er hatte Verständnis. Auch wenn er so anders war als wir, die Mädchen waren hinter ihm her, wie der Teufel hinter der armen Seele. Er verstand es, sie durch seine Geschichten an ihn zu fesseln. All unsere Halbstarken Allüren waren nichts gegen ihn. Wir beneideten ihn glühend. Obwohl er zu einem nicht besonders gutaussehenden jungen Mann heranwuchs, waren die hübschesten Mädchen ihm verfallen.
Es lag an seiner Stimme und seiner Mimik. Die Stimme streichelte die Seele und er erreichte es sogar, dass ich mir vor Angst in die Hose machte, als er einmal eine besonders spannende Geschichte erzählte. Alleine durch seinen Blick, der mir durch Mark und Bein ging wurde er für mich und alle anderen Zuhörer, zum König, zum Piraten, zum Schmuggler oder zum Bettler. Man vergaß dann einfach sein wahres Gesicht.
Natürlich konnte Ibrahim hier in Deutschland kein Geschichtenerzähler werden. Wohl vielleicht ein Schriftsteller. Aber er meinte, als wir dies zum Thema hatten, niemals wolle er seine Geschichten zu Papier bringen. Nur beim Erzählen könne man seiner Fantasie freien Lauf lassen und sie beliebig immer wieder verändern. .
So wurde er Altenpfleger. Das Heim in unserem Dorf hieß Sankt Katharina und ich glaube, keiner der Mitarbeiter war so beliebt wie Ibrahim. Er gab den alten Menschen Trost und Wärme wie kein anderer. Oft traf ich ihn im Garten sitzend, umringt von alten Menschen, die gebannt an seinem Gesicht hingen. Seine Fähigkeit, Stimmungen und Befindlichkeiten zu erkennen, machte es ihm möglich zu jedem Zugang zu finden, er war ein Zauberer.
Der schlimmste Tag im Leben dieser alten Menschen war, als Ibrahim kündigte. Seine Eltern waren kurz hintereinander gestorben, und er wollte in die Heimat seines Urgroßvaters zurück um dort als Märchenerzähler auf dem großen Platz zu sein.
Bei einem Bier, das er ab und zu mit mir trank, erzählte er mir von seinem Entschluss. Danach schilderte er mir sein weiteres Leben in solch schillernden Farben, dass ich fast alles hingeschmissen hätte, um mit ihm dieses Leben zu führen. Ibrahim eben.
Ich hatte inzwischen geheiratet, eine Frau die meinen Freund genauso verehrte wie ich. Aber ich glaube, sie hatte zu viele Geschichten von Ibrahim gehört über Prinzen und Schlösser. Irgendwann war sei einfach gegangen. Zu einem anderen Mann, den sie für einen Prinzen hielt.
Ibrahim war in dieser Zeit nie eine Verbindung mit einer Frau eingegangen. Obwohl er die Märchenbraut in den schönsten Farben beschreiben konnte, hatte er seine noch nicht gefunden.
Fünf Monate, nachdem mein bester Freund den Flieger bestiegen hatte, besuchte ich ihn. Nie hätte ich erwartet, all diese Märchen aus 1001 Nacht einmal live zu sehen. Ich fühlte mich wie in einem Traum. Diese Farben und Gerüche. Jeden Morgen, den Ruf des Muezzins über weißen Dächern und strahlendblauem Himmel.
Oft fuhren wir mit seinem Jeep einfach hinaus in die Wüste. Ibrahim kannte kleine Oasen und Seen. Dort verbrachten wir die Nächte, die bitterkalt aber wunderschön waren. Nirgends war ich den Sternen so nahe wie hier.
Inzwischen war er auch ein fester Bestandteil auf dem berühmten Platz in Marrakesch.
Beinah hätte ich geschmunzelt, als ich ihn zum ersten Mal auf dem Gauklerplatz sitzen sah. Inzwischen, sah er selbst aus wie eine Gestalt aus seinen Geschichten. Langes weißes Haar, eine imposante Nase in dem schmalen dunklen Gesicht. Und ein wallender Bart. Außerdem trug er einen dunkelblauen Umhang verziert mit glitzernden Sternen und Mustern. Ich hätte meinen Freund beinahe nicht erkannt. Es waren die faszinierten Gesichter, die mir sagten dass er hier sein müsse.
Und er hatte eine Überraschung für mich. Zara, seine Frau. Seine Märchenprinzessin. Sie war entzückend. Sie war seine erste Zuhörerin gewesen auf dem Gauklermarkt. Stumm sah sie ihn mit großen dunklen Augen an. Und ihr Lächeln war so schön „wie eine Rose in der untergehenden Sonne“, so seine Worte.
Mit dem Erbe seiner Eltern, hatte er sich hier ein kleines Haus mit einem wunderbaren Innengarten gekauft. Springbrunnen zierten die Wege und überall gab es Ruhebänke und bunte Glaskugeln. Ich beneidete ihn sehr um sein kleines Paradies.
Da meine Frau mich seit geraumer Zeit verlassen hatte, fuhr ich mindestens einmal im Jahr zu ihm und lernte Marrakesch und seine Menschen wirklich zu lieben.
Manchmal wenn wir bei Pfefferminztee auf dem Dach seines Hauses saßen, erzählte er mir wie früher eine Geschichte. Zara servierte uns kleine Kuchen und süße Datteln und flatterte wie ein bunter Schmetterling um uns. Es waren immer die schönsten Wochen meines Lebens.
Einmal kam ein Scheich und bot Ibrahim viel Geld. Er wollte, dass dieser seinem kranken Töchterchen seine Märchen erzählte. Ibrahim lehnte das Geld ab. Er flog aber mit dem Scheich nach Dubai, umsonst. Dort verbrachte er sechs Wochen lang, jeden Tag am Bett des kleinen Mädchens. Dann kam er traurig zurück. Das Mädchen war gestorben. Aber der Scheich war nicht böse. Sie war mit einem Lächeln in eine andere Welt gegangen, weil Ibrahim es ihr leicht gemacht hatte.
Für mich war er ein Heiliger. Ich bin nicht gläubig. Aber dieser Mann und seine Freundschaft waren wirklich etwas ganz Besonderes für mich.
Seufzend erhob ich mich von meinem Frühstückstisch. Inzwischen war es schon Nachmittag geworden. Draußen schien inzwischen die Sonne als wäre nichts gewesen. Und ich erinnerte mich an Ibrahims Beschreibung der Welt in die mein Großvater damals gegangen war. Stellte mir vor, wie er dort an goldenen Bächen und bunten Vögeln vorbeispazierte und vielleicht meinem Großvater schöne Geschichten erzählte.
Seine Geschichten kann ich nicht aufschreiben, sie gehören Ibrahim. Aber über das Glück, Ibrahims Freund zu sein, werde ich heute Abend schreiben Dann werde ich ein Flugticket buchen und zu Zara fliegen. Vielleicht hilft es ihr, wenn ich ihr die Geschichte unserer Freundschaft erzähle.