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Mein Freund der Hybridtintenfisch
Natürlich war mir klar, dass es sich mit einem Zweitkörper prima leben lässt, sonst hätte ich mein sauteures, zweites Sex-Ich niemals angeschafft. Aber dass ich mit ihm an Lori May Bluefish-Zwiebel rankommen würde, übertraf all meine Erwartungen.
Das Flugschiff ruckelte, ein Raunen der Passagiere quoll durch die Reihen. Bald darauf erschien über jedem Sitz ein Holo-Oktaeder mit Mandelaugen, informierte über das Nichtvorhandensein jedweder Gefahren und entblößte nach der Information, Paprika City planmäßig in fünfzig Minuten zu erreichen, eine Reihe leuchtender Beißerchen.
Lori ist nicht irgendwer. Okay, sie hat mehr Macken als irgendjemand sonst, den ich kenne. Da sind zum Beispiel ihre Phobien. Bis heute konnte ich nicht herausfinden, weshalb Lori diese unsägliche Angst vor Gummihandschuhen entwickelt hat. Einmal habe ich erlebt, wie sie sich einen ganzen Tag durch pinkfarbene Reisbällchen vergällen ließ. Genaugenommen ist Lori nicht einmal besonders attraktiv. Einige der Operationen waren notwendig, das ist unbestreitbar, dennoch hätte sie sich einen Großteil schlichtweg sparen können. Dabei muss man wissen, dass niemand aus der Familie Bluefish-Zwiebel sparen muss. Lori ist stinkreich. Sogar mehr als das, seit der vorlinke Zweig der Familie beschloss, einen Teil der Vermögens in das Kugelfischimitat von Sea-Xing-West zu investieren, als es auf den Markt kam und sich kurz darauf als Kassenschlager entpuppte. Ich halte nichts von Imitaten, aber gut. Das Schöne ist, dass sie bereit ist, das Geld auch zu verprassen. Mit mir zum Beispiel. Oder für mich. Meistens jedenfalls. Lori sieht nach Geld aus und gebärdet sich entsprechend. Stets umfunkelt sie eine Aureole aus Macht und Eleganz. Zudem sind ihre Grübchen, die sich immer dann entfalten, wenn ich sie mit Komplimenten verzücke, einfach hinreißend.
»Habt Ihr noch Wünsche?«, säuselte ein Stewardess-Modul. Ich ließ mir einen weiteren ›Schwertfischmantel‹ bringen. Während ich die bittere Flüssigkeit mit dem Strohhalm aufsog und die Federdekoration zerrupfte, kam ich, gar nicht meinem Wesen entsprechend, ins Grübeln. Mir wollte partout nicht einfallen, weshalb ich nach Paprika City flog. Ich kramte in meiner Erinnerung.
Lori May hatte ich vor zwei Jahren kennen gelernt. Damals ging ich keiner Beschäftigung nach, genauso wenig wie jetzt. Arbeiten liegt mir nicht, und nachdem ich das Glück gehabt hatte, ein kleines Sümmchen von meinen Eltern zu erben, hatte ich es nie nötig gehabt. Ich wurde mit neunzehn Waise, das ist jetzt drei Jahre her. Kurz nachdem ich mein Ersatz-Ich erworben hatte, begegnete ich Lori zum ersten Mal. Ich hatte gerade mein letztes Geld in Kleidung von Pierre-Luc Croc investiert und war auf dem Weg in die unteren Bezirke, als mir eine Paparazzitraube entgegenstürmte. Wie sich herausstellte, hatten Lori und ich den selben Lieblingsdesigner. Ich habe ein ansprechendes Äußeres. Die meisten generierten Rockstars wirken neben mir wie aus der Mode gekommene Marionetten. Und ich verstehe es, Lori zum Lachen zu bringen. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte.
Paprika City, dachte ich. Wollte ich ein wenig Geld beim Seepferdchenrennen verzocken? Oder einen der Maskenbälle besuchen, zu denen täglich geladen wird? Ich griff in meine Herrentasche.
Etwas neben mir bewegte sich. Meine Sitznachbarin nahm ihre Spiegelmosaikmaske ab und ein wahrhaft bezauberndes Gesicht lenkte meine Gedanken ab. Ich erwog, sie etwas Belangloses zu fragen; Lori überlässt es mir, mit wem ich mich vergnüge, und der Dummy quetschte dehydriert und in Wartestellung beim Frachtgepäck. Sie kam mir zuvor.
»Darf ich fragen, ob Ihr vorhabt, den Kamaboko-Ball zu besuchen?«
»Möglich, ich habe wohl gerade eine Art«, mit einer Fingerbewegung unterstrich ich das Gesagte, »Gedächtnislücke. Es ist durchaus anzunehmen, Fräulein...«
Sie zog eine Augenbraue hoch, offenbar dachte sie, ich wollte nur ihren Namen herausfinden. Womit sie Recht hatte.
»Oh«, sagte ich und bemerkte, dass ich mit zwei Karten herumwedelte.
»Ich wollte Euch nur warnen; dort treiben sich mehr Trickdiebe herum als Betrunkene.«
»Verbindlichsten Dank. Darf ich fragen, warum Ihr nach Paprika City fliegt?«
»Ich habe Geschäfte zu erledigen.« Sie blickte mich einen Moment lang an, dann fügte sie hinzu: »Sally Pai.«
»Kris Rokutt. Sehr angenehm.« Während wir uns die Hände reichten, betrachtete ich mein Gegenüber. Sie hatte kurz geschnittenes, blondes Haar, sehr blasse Haut und, wie ich später erfahren sollte, ein kleines Tattoo über dem Schambereich.
Bei der Gepäcksausgabe tauchten die ersten Schwierigkeiten auf. Nachdem sich Sally mit einer Visitennadel, die sie aus ihrem Fingerknöchel gezogen, und einem Wangenkuss verabschiedet hatte, stand ich dümmlich vor dem Laufband. Erst als mich die Wachtposten mit meinem konfiszierten Koffer in ein Extrazimmer gescheucht und sich eine Menschentraube um das Sichtfenster gebildet hatte, begriff ich, dass ich tief im Tintenfass steckte.
Ein Walross von einem Mann ließ die Jalousien erstaunlich sanft herabgleiten und gab mir anschließend Zeit, den Himbeerabdruck wegzuwischen, den Sallys Lippen hinterlassen hatten. In den Gesichtern der drei Typen erkannte ich stumme Anerkennung, gewürzt mit einer Prise Amusement. Das hielt allerdings nur so lange, bis sie auf die Hand zu sprechen kamen. Ich dachte erst, sie wollten meine Kleidung ins Lächerliche ziehen, also sagte ich: »Nichts ist falsch an Knickerbockern mit Leoshirt und silbernen Hosenträgern; dazu muss man Handgamaschen tragen. Sofern man den Modekenner in sich herausstreichen möchte.«
»Ihr verkennt die Situation, Herr Rokutt.«
»So?«, sagte ich und zupfte den Gamaschenstoff zurecht.
Im nächsten Augenblick knallte einer der Kerle meinen Koffer auf den Tisch. Ich zuckte zusammen. Eine Hand ragte heraus. Irgendwie hatten sich die Finger, ausgehend von den Nägeln, hydriert, der obere Teil bis zum Daumenansatz sah normal aus, doch ab dem Handballen verjüngte sich der Arm wieder. Den Rest konnte ich nicht sehen. Da er sich im Koffer befand, musste er inaktiv, entwässert, und somit intakt sein.
»Ich will eine verdammt gute Erklärung, oder reist Ihr immer mit halblebendigem Gepäck?«
Die Hand zuckte, so als berührten die Fingerspitzen eine heiße Platte. Meine Unwissenheit provozierte den Unmut der drei.
»Hört, Herr Rokutt, der Oberrechner gab uns zu verstehen, dass siebenunddreißig Prozent der Bis-Sechs-Jährigen, die Ihr mit diesem Anblick verstört habt, in den nächsten Jahren Auffälligkeiten entwickeln. Vom wirtschaftlichen Schaden, der dabei entstehen wird, habe ich noch gar nicht gesprochen. Mit Absicht oder nicht, erklärt uns, wie es dazu kommen konnte.«
Ich verfluchte die scharfen Sicherheitsauflagen in Paprika City, den superschlauen Hybridtintenfisch, der im Oberrechner blubberte und sagte endlich: »Ich kann Euch keine Erklärung geben, da ich selbst keine habe. Aber ich werde sofort recherchieren, die Ursache ermitteln und dem Protektorat Bericht erstatten. Ich bitte um Verzeihung.«
»Wie wollt Ihr vorgehen?«, knurrte das Walross.
»Zunächst werde ich die Umweltdaten im Frachtraum des Flugschiffes und die der Flughalle abfragen, Dr. Melio Willhut vom ›Institut für Auffälligkeiten jedweder Art‹ zu Rate ziehen und den Dummy analysieren lassen. Bedenkt bitte, dass mir an der Gesundheit meines Modells ebensoviel liegt wie Euch an der Klärung des Vorfalls.«
»Dr. Melio ist ein viel beschäftigter Mann.«
»Er wird sich Zeit nehmen.«
Schlussendlich überzeugte ich die drei und wurde entlassen. Mit dem Notfallreiseset war die Hand im Nu wieder transportfähig und zurückgerollt. Ich war zufrieden mit mir. Einzig der Spürsensor, den sie mir verpasst hatten und den ich unter der Gamasche verbarg, stimmte mich missmutig. Und dass ich einen Großteil meines Reisebudgets hatte zurücklassen müssen. Einerlei, mein Rückflug startete, bevor die Vierundzwanzig-Stunden-Frist abgelaufen wäre.
Lori ging nicht ran. Nach zwanzig Versuchen gab ich es auf und hinterließ die Bitte, sie möge mich dringend zurückrufen.
Ich fand ein Bistro auf dem gigantischen Gelände. Heißer Kaffee dämpfte das Hungergefühl, das scheu an meinem Magen zupfte. Ich überlegte, was ich als nächstes tun sollte. Nach und nach drängten Erinnerungs-Bruchstücke an die Oberfläche. Wie bei einem Traum, an den man sich vage erinnert, und je mehr man versucht danach zu greifen, umso glitschiger wird er. Ich beschloss, das Problem mit dem Dummy erst einmal beiseite zu schieben und schaltete meinen Pod ein. Es gab nur zwei Netzdosen, beide waren besetzt. Während ich wartete und wahllos Daten durchging, glitt meine Hand unter die Gamasche und spielte mit dem Spürsensor.
Endlich stand der Speckkoloss auf. Er hinterließ einen eklig vorgewärmten Sessel und jede Menge Fettflecken auf der Holzoberfläche. Dafür war der Aschenbecher leer.
Gute Idee, dachte ich, und fingerte meine Packung heraus. Nach der zweiten Zigalimette hatte ich sämtliche Erinnerungen und den Gehalt an Limes im Blut aufgefüllt.
Wie hatte ich nur vergessen können, dass ich heute Abend den Kamaboko-Ball mit Misato Nakamura besuchen wollte? Nach den paar Klicks im Netz musste ich beinahe über mich lachen.
Der Ball war eine Offenbarung, nicht des Themas wegen - eierlegende Säugetiere - oder der Ausrichtung - Balken, die quer und durch alle Höhen die Trittfläche bildeten - oder gar der Speisen - auf Geleetürmen drapierte Köstlichkeiten in Glasbottichen -, nein, all das bildete den nebeligen Rahmen für achthundert Gäste, die Hälfte davon weiblich, und jede Einzelne davon appetitlicher als alle Häppchen zusammen.
Ich ließ eine Visitennadel zwischen den Fingern rollen. Zwei Dinge waren zuvor passiert; drei, wenn man Lori Mays Nichtmelden mitzähen wollte. Mein Date hatte mich sitzen gelassen, nachdem sie von dem Vorfall am Flughafen gehört hatte, und ich hatte sie sitzen gelassen, nachdem ich ihre freigelegte Gehirnhälfte unter Plexiglas gesehen hatte; angeblich der letzte Schrei, doch ich musste den Blick vom Tele-Display abwenden.
»Guten Abend«, sagte Sally Pai.
»Wir machen einen großartigen daraus«, sagte ich. »Es freut mich, dass Ihr so kurzfristig Zeit gefunden habt.«
Nach dem Handküssen legten wir unsere Masken wieder an und balancierten zum Bottich mit den Wachteleiern. In Paprika City wird jede Gelegenheit wahrgenommen, sich zu maskieren. Manchmal habe ich den Eindruck, die Menschen, die hier geboren werden, kommen mit Federboa und Handschuhen anstelle von Nabelschnur und Blut zur Welt.
»Ich bin neugierig, was macht ein Mann wie Ihr beruflich?«, fragte Sally nach dem Pflicht-Smalltalk und schob sich mit der Miniaturgabel ein Ei in den Mund.
»Nun, ich habe es mit Kunst versucht«, begann ich, »Express-Malerei, Neunarmiger Ausdrucksrealismus, an einem surrealen Roman schreibe ich hin und wieder. Aber im Grunde lebe ich mein Leben.«
»Klingt, als könntet Ihr euch schwer entscheiden«, sagte sie milde.
»Und Ihr? Ich meine, außer sich auf Bälle einladen zu lassen und dabei mehr als hübsch auszusehen.«
»Ach, nichts Besonderes. Freischaffende Organisation und Ressourcenmanagement.«
Ich mimte Anerkennung, obwohl sie genauso gut hätte sagen können, sie sei Aktenumschlichter. »Wollen wir uns ein wenig unter die Leute mischen?«
Das Topthema des Abends war eine Überraschung, für mich jedenfalls; die Story über die gewässerte Hand meines Modells hatte wie ein Flächenbrand um sich gegriffen. Auf jedem Balken diskutierten die Gäste über Zweitkörper, ereiferten sich an Horrorgeschichten über Fehlfunktionen und Totalausfällen.
Die wenigsten dieser Schwätzer können sich ein Modell leisten. Natürlich war das alles nur heißes Gas, ich weiß, wovon ich rede. Zwei Jahre, und nicht ein Störfall, geschweige denn ein Anzeichen. Abgesehen von der ausgeleierten Kontaktstelle vielleicht. Nach und nach wurden die Diskussionen unsachlicher, und allmählich beschlich mich der Verdacht, dass ich als einzig Vernünftiger heute nicht zum Zug kommen würde.
Fräulein Pai hatte sich nach unten zu den Sanitäranlagen gekämpft. Sie hatte vages Interesse erkennen lassen. Eine Herausforderung. Ich strich die Haut meiner Herrentasche glatt und spähte umher. Dann sah ich sie. Eine Anemone von einem Mädchen. Die Qualität der Kleidung verriet ihren hohen Stand, das Muster eine gewisse Freizügigkeit. Ich musste sie haben, es so anstellen, dass sie mit meinem zweiten Ich Spaß hatte, während ich mich bei Sally aufhielt.
Eine Minute benötigte ich, um sie von ihren Begleitern zu lösen, eine weitere, um in ihren Radius einzutauchen, und dann standen wir in einem bioexternen Zimmermodul. Ich geb’ ja zu, ich hatte eine Menge intus, und den ›Strange Rainbow‹ hatte ich unterschätzt.
Sie hieß Didone, wir küssten uns, ich steckte meine Zunge tief in ihren Mund und presste sie erst an mich und dann gegen die Wand. Meine Hände glitten über ihren Körper, ihre Finger verkrallten sich in meinem Rücken, Schmerzen prickelten. Die Wandwülste reagierten und zuckten. Von irgendwo setzte Musik ein und Spiegellichter tropften.
Ich löste ihr Oberteil und knabberte an ihrer Schulter, sie seufzte und erwiderte den Druck. Ihre Haut roch nach Mandelschalen und Vanille, das Haar fiel herab und kitzelte meine Ohren. Ich stöhnte in ihren Pelzkragen; meine Hände suchten ihre süßen Rundungen, wurden fündig.
»Kris«, sagte sie, »das war doch dein Dummy, über den hier alle reden.«
»Du kannst dich gleich von seiner Qualität überzeugen«, sagte ich und küsste weitere Fragen fort.
»Ich«, begann sie und versuchte, sich wegzudrehen, »ich möchte lieber mit dir...«
»Vertrau mir.« Ich ging in die Knie und verwöhnte ihre untere Körperhälfte. Es gefiel ihr. Ihr Atem ging heftiger. Sie gab sich mir hin, legte den Kopf in den Nacken und seufzte lustvoll.
Bis zum Wechsel übernehme ich das Vorspiel, das die Frauen so gerne haben. Ab einem gewissen Lustpunkt, den man individuell einstellen kann, aktiviert sich das Implantat im Gehirn und steuert den Wechsel. Man selbst kehrt in den Normalzustand zurück, auf den Dummy werden alle bis zu diesem Zeitpunkt gesammelten Daten und Hormonausschüttungen übertragen, und er übernimmt den eigentlichen Akt. Die Vorteile liegen auf der Hand. Man kann sich in Ruhe anderen Dingen widmen und schont den eigenen Körper. Der Unterschied zum echten Menschen und dem Zweit-Ich besteht darin, dass der Dummy nur zu sexuellen Handlungen fähig ist. Während seiner Ruhephase zeigt er keine Gehirnaktivität. Die Daten, die der Dummy sammelt, werden sofort nach jeder Aktivität abgezogen, in das eigene Erinnerungszentrum eingebettet und der Körper wieder dehydriert, gerollt und verstaut. Der Vorgang dauert weniger als eine Minute und ist leichter zu handhaben als das Aufschneiden eines Pfirsichs.
Schon bald. Ein Gefühl wie Schmirgelpapier unter der Haut, Kupfergeschmack auf der Zunge und der gewohnte Druck im Hinterkopf. Ich fuhr mit meiner Zunge langsam Didones Haut hinauf bis zu den Brüsten, weiter, nahm ihr Ohrläppchen zwischen die Zähne und flüsterte: »Bleib so, ich komme gleich zurück.«
Ich zog mich hinter die Schneckenrollwand zurück, wo mein zweites Ich bereits wartete. Zwei Handgriffe später waren die Daten gespoolt und die Ausdruckslosigkeit der Augen einem Glänzen gewichen, das mir wohl bekannt war. Ich blickte ihm nach, es war jedes Mal wieder ein Gefühl, als steige einem das Spiegelbild entgegen.
Währenddessen hatte sich die Lautstärke draußen verdoppelt, und die Stimmung war irgendwie gekippt. Ich tat dasselbe mit zwei Drinks und suchte nach Sally, was mir zunehmend schwerer fiel, da sich auch die Balken verdoppelt hatten.
»Was ist denn da unten los?«, wollte ich von jemandem wissen, und wies auf die mittlere Plattform, die jetzt mit Flutlicht bombardiert wurde. Ich erkannte Vertreter des Protektorats an ihren spitzen Perlmutthelmen. Sie zogen Masken der Gäste ein, gaben sie zurück und stellten Fragen.
Im Blut des Typen war eine beträchtliche Menge an Suchtstoffen gelöst, ich konnte kaum verstehen, was er lallte: »Die suchn nach jemanm. Hadd was mit ’nem Dummy su duhn, anscheinnd.« Er kratzte sich unter der Samtmaske und sagte nach einer Weile: »He, seid Iah das nich?« Ich war einige Schritte in den Schatten zurückgetreten, obgleich ich nicht glaubte, dass er fähig sein würde, mich zu verraten. Nie hätte ich damit gerechnet, dass diese Sache so ernst genommen würde.
Dann passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ich entdeckte Sally, die sich die allgemeine Verwirrung zunutze machte und ihre Vorstellung von Ressourcenmanagement in die Tat umsetzte. Sie fischte Wertgegenstände der Gäste aus deren Taschen und füllte damit ihre eigene. Auf der Innenseite des Spürsensors an meinem Handgelenk bohrten sich Stacheln ins Fleisch und verursachten höllische Schmerzen. Ich hatte schon einmal davon gehört, dass das Protektorat diese Methode einsetzte, um ein zügiges Aufspüren zu ermöglichen und den Fluchtreflex zu lähmen. Gleichzeitig schrie jemand so kreischend laut und durchdringend, dass die gesamte Gesellschaft verstummte. Nach der Schrecksekunde ging alles verdammt schnell.
Mir schoss nur ein Gedanke durch den Kopf, der alles weitere bestimmte: Lori May wusste noch nichts von meiner Lage und konnte mir keine Schmiermittel zur Verfügung stellen.
Neben dem höllischen Durcheinander, das nach dem Schrei einsetzte, rief ich die Fakten ab: Ich hätte eine Analyse in Auftrag geben, Bericht erstatten und mein Zweit-Ich ausschließlich für Lori May einsetzen müssen. Shit. Ich ergänzte: In Paprika City hatte ich keine Bekannten außer Misato Nakamura. Shit. Sally Pai, falls sie wirklich so hieß, war eine Trickdiebin. Mein Dummy erlegte gerade Frischfleisch. Tintenfisch.
Ich mixte einen Tatsachencocktail und fand nur eine Möglichkeit.
Ich holte tief Luft. Rückte die Maske zurecht. Schnappte meine Tasche. Stellte fest, dass ich den Sensor nicht aus dem Fleisch herausreißen konnte. Spannte alle Muskeln und stürzte davon.
Mein Glück war, dass ich nicht der einzige war, der sich der Verantwortung vor dem Protektorat entziehen wollte. Weitere Gäste griffen sich an Handgelenke. Im wilden Tumult entdeckte ich Sally abermals; sie machte sich, wie ich, davon.
Bis zwei Meter über dem Boden hatte ich meine Beine gut im Griff. Doch dann klemmte zwischen zwei Balken auf einer Kreuzung ein umgeworfener Bottich, Heringshappen hatten sich daraus ergossen. Im ersten Augenblick kam mir gar nicht in den Sinn, dem Sturz viel Beachtung zu schenken, und ich hetzte nach draußen.
Erst als ich merkte, dass ich Sally kaum zu folgen vermochte, griff ich an mein Sprunggelenk. Mir blieb die Luft weg, als mein Gehirn die Information ›zertrümmert‹ ins Schmerzzentrum leitete.
Stöhnend humpelte ich weiter. Kaum jemand befand sich auf den Wegen des Glitzerlabyrinths. Eisige Luft zerschnitt meine Luftröhren. Sally war kaum noch zu sehen. Ich biss die Zähne zusammen. Die Distanz verringerte sich, vergrößerte sich. Ich mobilisierte alle Reserven. Der Abstand brach weg.
Sie war in eine pulsierende Leuchtkastanienallee eingebogen. Endlich war ich nahe genug, sie von hinten umschlingen zu können. Ich drückte so fest zusammen, dass sie sich nicht mehr rühren und ich meinen Fuß entlasten konnte.
»Hör zu, Sallyoderwieauchimer«, zischte ich in ihr Ohr. »War geschickt von dir, mich zu benützen, um dich auf die Party einzuschleusen.«
»Kris?«, sagte sie gepresst. »Wo ist das Ihr geblieben?«
»Das hast du mitgehen lassen.« Ich deutete mit dem Kinn auf ihre Tasche. »Pass auf, ich habe nicht vor, dich zu verraten.«
»Schon vergessen, dass du mich eingeladen hast? Damit setzt du dich nur selbst in die Quallen.«
»Ich habe mich nicht an anderen bereichert.«
»Weshalb haben sie dir dann einen Spürsensor verpasst?«
»Unwichtig. Dem Geliebten von Lori May Bluefish-Zwiebel wird man mehr Glauben schenken«, sagte ich und bereute die Bemerkung sofort.
»Was willst du von mir? Ich kann dir nicht helfen.«
»Hast du eine Wohnung in Paprika City?«
»Nein.«
»Von wegen. Irgendwo musst du das Diebesgut zwischenlagern.«
»Ach so. Mir war nicht klar, dass du vom Fach bist«, keuchte sie. »Warum bist auf der Flucht? Du bekommst höchstens einen Tag Umgangs-Seminar.«
»Ich stelle hier die Fragen.«
Sally schnaubte verächtlich. »Was soll das werden? Denkst du, ich helfe tatsächlich jemandem, der mich rücklings anspringt und Forderungen stellt, wo eine simple Bitte viel mehr gebracht hätte?«
Ich zuckte innerlich zusammen. Sie hatte Recht. Beschämt ließ ich von ihr ab; sie blieb. Nach einer Weile sagte ich: »Es gibt gute Gründe, ein derartiges Seminar«, ich sank auf die Knie, griff an meinen Knöchel und keuchte, »zu ... meiden.«
»Du bist verletzt«, konstatierte das hinreißende Gesicht. Die Haare glitzerten im Baumlicht. Ich brachte ein qualvolles Lächeln zuwege.
Was danach kam, ist eine verschmierte Erinnerung. Ich entsinne mich an einen Schmerz, der in meinem rechten Arm flammte und ihn verbrannte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Jemand schrie. Vermutlich war ich es selbst. Rennen, Stolpern, Keuchen. Der Boden zog in bunten Schlieren vorbei. Schwindel und Brechreiz. Dann nichts mehr.
Irgendwann erlangte ich das Bewusstsein zurück. Meine Haut juckte. Ich erkannte eine Silhouette, die im Gegenlicht eine Tür öffnete, sich zu mir umdrehte. Die Kälte ließ mich zittern.
»Na also, der Geliebte ist wieder da«, sagte Sally, tätschelte meine Backe und schleifte mich mehr hinein, als dass sie mich stützte.
»Warum...«, fragte ich, während ich mich auf ein Kanapee niederließ und mich umsah. Eine dunkle Kellerwohnung, in das bläuliche Licht von mehreren Leuchtfischlampen getaucht. Ich erkannte Anglerfische und Borstenmäuler in den Druckbehältern. Preiswert aber ganz ansehnlich. Es roch nach salzigem Tang, alle zehn Minuten donnerte irgendwo ein Zug vorbei und ließ die Wände erzittern.
»Ruhig. Ich muss erst den Sensor entfernen«, sagte sie, »und ich heiße eigentlich Pia. Pia Sell.«
»Welch origineller Deckname«, sagte ich und mein wirrer Verstand schuf sofort einen für mich: Rick Korrut.
Pia löste den Spürsensor mit einem mir unbekannten Gerät aus dem Handgelenksfleisch, und irgendetwas in ihrem Lächeln sagte mir, dass sie meine Schmerzreaktion amüsierte. Danach presste sie eine Handvoll Eiswürfel in einem Handtuch gegen den Knöchel und legte den Mobi-Scan zur Seite.
»Es ist nur eine Verstauchung.« Sie zog eine Dose aus dem Kühlschrank und murmelte, das sei die letzte, die sie noch habe.
»Hier«, sagte sie, »den hast du nötiger als ich.« Damit verschwand sie im Bad. Ich hörte, wie das Wasser aufgedreht wurde. Der Suchtstoff-Neutralisator schmeckte nach Mandarinen. Ich nippte langsam und ertappte mich dabei, wie ich mir Pias nackten Körper vorstellte, der sich Heißwasser auf die Haut prasseln lässt, sich in den Bettlaken räkelt. Beinahe hätte ich mich verschluckt.
Nach einer Weile kam sie wieder. Ich stellte die Dose ab und entschied, dass Pia wesentlich besser zu ihren feinen Gesichtszügen passte.
»Ist es sinnvoll, mir Gedanken über das nicht gestattete Entfernen des Sensors zu machen?«, fragte ich, obgleich es mir Fisch war und ich die Erleichterung genoss, das Gerät los zu sein.
»Vielleicht. Wir sollten versuchen, etwas zu schlafen«, gähnte sie.
Ich nickte und griff nach der Decke, die am Kopfende lag. Die Blutwerte normalisierten sich, dennoch schien es mir, als wälzte ich mich stundenlang herum. Ich hatte mich nicht einmal bedankt. Irgendwann überlegte ich, ob es möglich wäre, einem Tiefseefisch ›Den sterbenden Schwan‹ beizubringen.
Um vier Uhr fünfzehn hatte ich genug und warf meinen Pod an, prüfte die Nachrichten, stellte fest, dass ich nur Zugang zum lokalen Netz bekam, wurde wütend, entzündete eine Zigalimette, rauchte, raufte mir die Haare, zupfte an den Einstichen herum, strich über den gestauchten Knöchel, schnippte Asche auf den Boden, stellte Musik an, wieder aus, rauchte eine zweite, zerkaute meine Unterlippe, schob meine Kniescheiben unter der Haut hin und her. Nichts von Lori. Wut wurde zu Unsicherheit, dann zu Sorge.
»Alles in Ordnung?« Silberfäden wickelten sich um Pias zarten Oberkörper, Ringelstrümpfe reichten so hoch, dass ich den Saumanfang nicht erkennen konnte. Sie lehnte an der Tür zum Schlafzimmer und schien mich bereits eine ganze Weile zu beobachten.
»Nein, ich ... oh Tintenfisch, ich meine ... danke.«
»Keine Ursache. Nun, hast du herausgefunden, wo dein Zweit-Körper abgeblieben ist?«
Ich schluckte. »Nein.«
»Würde es dich beruhigen, wenn ich dir sage, dass man nach jemand anderem gesucht hat?«
»Tatsächlich? Aber, der Sensor...«
»Vorsichtshalber werden seit dem Alarm immer alle Exemplare im Umkreis von fünfzig Metern aktiviert. Im Schlafzimmer ist eine Netzdose. Willst du sie benützen?«
»Wann ist das passiert?«, fragte ich kopfschüttelnd.
»Was meinst du?«
»Diese verschärften Sicherheitsbestimmungen.«
»Ach so. Letzte Woche musste Paprika City wegen Quallenalarms evakuiert werden. Du hast sicher davon gehört. Bei dem Chaos des Rückreiseverkehrs entschied der Oberrechner, keine Risken jedweder Art mehr einzugehen. Sofern es vermeidbare sind. Also menschliche.«
»Aber jemanden wegen Zimtzigarillos festzunehmen und einen derartigen Zinnober zu veranstalten, nur um ihn nach zwei Stunden wieder auf freien Fuß zu setzen«, dachte ich laut.
Pia zuckte mit einer Achsel, die Fäden klappten auseinander und gaben den Blick auf Schulter und einen Teil des Dekolletés frei. »Die Zahl der Exekutivebeamten wurde aufgestockt. Warum bist du wirklich geflüchtet?«
»Ebenso gut könnte ich dich fragen, weshalb du mir hilfst«, sagte ich und trat einen Schritt näher, sah ihr direkt in die Augen.
»Der Reiz des Ungewissen. Willst du deinen Zweit-Körper nicht suchen?«
»Ich habe etwas besseres gefunden.« Sie wehrte sich weder gegen die Umarmung noch gegen den Kuss. Doch dann zögerte ich. Wie lange war es her, dass ich selbst mit einer Frau ... ein halbes Jahr? Länger? Was würde sich ändern und seit wann kümmerten mich solche Gedankengänge? Nun, was soll ich großartig erzählen, es ist bekannt, dass sich das Unter-Druck-setzen nicht förderlich auf die männliche Potenz auswirkt. Kurzum, ich kriegte keinen hoch.
Es kam kein Lachen, keine Geste der Überlegenheit, wie ich sie erwartet hatte. Stattdessen hatte sich Pias Hals gespannt, der Kopf ein wenig zur Seite geneigt; sie lauschte. Dann hörte ich es auch. Ein kaum wahrnehmbares Pochen. Wir folgten dem Geräusch bis zur Wohnungstür.
»Nein warte«, sagte ich und packte Pias Hand fester als beabsichtigt. »Was, wenn die Exekutive draußen steht?«
»Dann wäre es ohnehin zu spät. Außerdem klopfen die nicht sondern brechen die Tür ohne Vorwarnung auf.«
Ich ließ von ihr ab und trat zurück, während sie öffnete.
Vor Jahren ließ ich einmal von einem Straßenmaler eine Zeichnung von mir anfertigen. Der Künstler benutzte Butterpapier, schlechte Kreide und besaß mehr Löcher in den Lumpen als Talent. Dennoch war das Ergebnis besser als das Bild des Jammers, das uns jetzt entgegenstolperte und in Pias Armen hängen blieb wie eine Horrorpuppe.
Sie schrie und wich zurück. Ich kann es ihr nicht verdenken, da ich plötzlich in doppelter Ausführung vor ihr stand. Wie hatte mein Sex-Ich nur eigenständig hierher gefunden? Zunächst brabbelte er wie ein Mensch mit gefrorenen Sprechorganen.
»Ich habe euch gefunden, dem Urmeer sei Dank...«
Pia brachte es irgendwie zuwege, sich von dem Körper zu lösen und ihn, ebenso wie mich wenige Stunden zuvor, auf das Kanapee zu ziehen.
»Ruhig, alles kommt in Ordnung«, sagte sie, nachdem die Schrecksekunde vorbei war, und dann, flüsternd an mich gewandt, während sie nach der Decke tastete: »Ich dachte, das wäre unmöglich.«
»Ist es auch. Vollkommen unmöglich. Ich hole den Entwässerungsspieß, halt du ihn so lange hin«, sagte ich, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass er allein gekommen war.
»Wir sollten uns anhören, was er zu sagen hat und was überhaupt passiert ist.«
»Bist du verrückt?«, zischte ich, »Der Körper ist defekt, ich kann von Glück sagen, wenn er zu reparieren ist.«
»Ich bin gesund«, kam es von der Couch. Angewidert musterte ich mein Eigentum, das halbnackt mit bluttriefender Nase und kaum verbliebenen Haarbüscheln im Halbdunkel hockte und mich ehrfürchtig beäugte, als wäre ich sein Schöpfer. »Ich wollte es dir schon viel früher mitteilen, Kris. Aber du konntest meine Hinweise nicht deuten. Ich habe mich entwickelt. Ich bin nicht weiter ein halbes Du, ich bin jetzt ich.« Das Ding lächelte, nicht zu fassen. Dann begann es zu husten, spuckte Schleim und Blut, rang nach Luft, würgte.
»Gesund?«, argwöhnte ich, wusste dann aber nichts weiter zu sagen. Alles lief schief, mein Freifahrtschein zu Lori May und dem damit verbundenen Luxus war eben zum Leben erwacht und damit gestorben. Mit drei Prozent Hirnmasse, die stets von Erinnerungen gesäubert wird; ohne Kindheit und Pubertät, ohne jeglicher Berechtigung. Lori durfte niemals davon erfahren, sie war auch so von genug Manien befallen.
»Kris, wir müssen ihm zuhören«, sagte Pia aufgeregt, »wir sind Zeugen einer neuen Lebensform. Willst du nicht wissen, was auf dem Ball passiert ist, oder wie er hierher gefunden hat?«
»Hör zu, das ist alles ein Riesenhaufen Fisch. Das darf einfach nicht passieren. Eine neue Lebensform«, äffte ich sie nach, »von wegen. Ich sehe hier nur einen defekten Zweit-Körper, der schnellstens dehydriert und repariert werden muss. Ach shit, was soll ich denn jetzt machen?«
»Das ist unhöflich.« Wir starrten ihn an.
»Sich über eine Person zu unterhalten die anwesend ist, verstößt gegen die Etikette.«
»Echte Personen werden gezeugt, geboren und wachsen auf«, unterbrach ich ihn, »und erzähl mir nichts von Etikette. Vielleicht teilen wir uns die selbe DNS, vielleicht haben wir uns sogar einmal ähnlich gesehen, aber das heißt noch lange nicht, dass du dich einfach wässern und behaupten kannst, eine Person zu sein.«
»Kris, bitte hör doch zu. Ich weiß, wie unglaublich das klingt«, sagte er und verschmierte Nasenblut zu einem roten Schweif auf der Wange, »aber es ist nun einmal so. Ich selbst konnte es kaum glauben. Wie verweigert man seine Identität vor sich selbst? Seit Wochen habe ich sie unterdrückt. Nicht immer gelang es. Bei manch einem Transfer hattest du weniger Spaß als erwartet, nicht wahr?« Es wartete, hustete, dann kam erneut die Frage: »Nicht wahr, Kris?«
»Das lag an den Damen. Ich habe bei der Auswahl geschlampt.«
»Nein, das war nicht der Grund, und das weißt du. Ich trage die Schuld. Ich habe mich gewehrt, wollte nicht länger dein Sexspielzeug sein.«
»Seit wann beschwert sich die Waschtrommel über Wäsche und Wasser?«, schimpfte ich. Ich hätte erstaunt sein müssen, einfühlsam, neugierig, vielleicht sogar hingerissen, doch aus irgendeinem Grund empfand ich nichts außer Zorn und Ekel.
»Kris, ich bin deiner DNS nachempfunden. Ich bin ein biologisches Wesen. Ein Mensch. Wie kannst du mich mit einer Maschine vergleichen? Ich bin ... empfindsam.« Er brauchte einige Augenblicke, um sich zu sammeln. »Hast du schon einmal von Restdaten gehört?«
»Wer hat das nicht? Winzige Datenbruchstücke, die wie ein Echo zurückbleiben und laut Hersteller völlig belanglos sind.«
Er nickte. Offenbar sollte das die Erklärung sein.
»Verstehst du nicht? Ich bin aus dir entstanden, aus den Daten, die zurückblieben. Aus den Echos und Resten, den oft genützten Straßen der Synapsen und des Zellgewebes. Und den Erinnerungen, die ich später selbst zurückhielt.«
»Ich kann nicht glauben, was ich da höre. Niemand hat dir das erlaubt!« Ich packte seine Schultern und schüttelte ihn so lange, bis mich Pia wegzerrte. Er hatte sich nicht gewehrt.
»Denkst du nicht«, hustete er, »dass ein Wesen, ein Individuum, nenn es, wie du willst, das fähig ist, bewusst Daten zu manipulieren, eine Identität verdient?«
»Nein, ganz und gar nicht. Das nennt sich Fehlfunktion. Man muss dein Gehirn neu formatieren. Shit, ich vergesse mich gleich.«
»Kris, es ist zu spät. Je früher du das akzeptierst, desto eher kannst du dir überlegen, was du jetzt tun willst«, sagte Pia und entsprach dem Verhalten, das ich hätte zeigen müssen.
»Einen Teufel werde ich tun«, schimpfte ich.
»Du hast die Anleitung noch nicht gelesen.«
»Es existiert nichts Derartiges.«
»Sie befindet sich hier drin«, sagte das Etwas und tippte sich an die Schläfe. »Für den Präzedenzfall, der jetzt eingetreten ist.«
»Siehst du«, sagte ich an Pia gewandt, »er ist hinüber, total übergeschnappt.«
»Das denke ich nicht«, sagte sie langsam und wandte sich an ihn, »im Grunde klingt das, was du sagst, vernünftig. Wie können wir in diese Anleitung einsehen?«
Der Körper schniefte Blut zurück in die Nase. War er so ergriffen von Pias Unterstützung oder zersetzte er sich? »Über die selbe Verbindung, die man zum Spoolen verwendet. Das Dokument wird sich selbstständig öffnen.«
›Gen-for-two‹ bestätigte, was der Dummy geäußert hatte und schloss mit dem Hinweis, der DNS-Spender, in diesem Falle ich, müsse sich nach der aktuellen Rechtslage die nächsten zwei Jahre um seinen Ableger, wie er sich ausdrückte, kümmern. Ich erschauderte in den Fangarmen des Tintenfischs, die ich bereits spürte und trennte die Steckverbindung. Flüche gegen Paprika City, die Gesetze, Menschen im allgemeinen und den Dummy im besonderen ausstoßend, stapfte ich durch die Wohnung und hörte mir seine Geschichte an. Wie er Didones Schrei mit seiner Erklärung, er sei nicht Kris, provozierte, wie er ein paar liegengebliebene Kleidungsstücke zusammenraffte, im Getümmel entkam, unsere Spuren im Glitzerschnee fand, ihnen folgte und durch die Flashbacks des Loslösungsprozesses Fetzen meiner Wahrnehmung sah und bis zur Wohnungstür fand. Es täte ihm leid, dass mir die Entkopplung so starke Schmerzen bereitet hatte.
Oben, unten, alles das selbe, dachte ich. Die Wirkung der Spritze, die ich mir in die Armbeuge gejagt hatte, erwischte mich stärker als beabsichtigt.
Irgendwann kroch ich auf dem Schlafzimmerboden herum und war kurz davor, mich in den Zebrateppich einzuwickeln, da hörte ich eine vertraute Stimme. Unmöglich, dachte ich und lallte etwas, das ich selbst nicht verstand.
»Kris! Also ich muss mich doch sehr wundern.«
»Lori? Gibt’s nicht, du bist hier?«
»Sieh nach oben in deinen Pod«, sagte sie. Erst jetzt stellte ich fest, dass das Gerät immer noch lief. »Hast du dir schon wieder zu viel Beruhigungsmittel verabreicht? Mein Fisch, du siehst furchtbar aus. Also, weshalb wolltest du so dringend zurückgerufen werden?«
»Lori, du siehst«, ich blinzelte, »...siehst hinreißend aus.« Ein Anblick des Grauens. Schon wieder eine OP, zweifellos eine dieser Spontan-Schnippseleien. Sogar die Opazität des Gesichts-Geleeverbandes war erhöht worden, um das gespannte, blutverklebte Fleisch zu verbergen. Ich würgte. Umringt von ihrem Beratungsstab hatte sie sich auf der Erholungsliege halb aufgerichtet, ließ sich gerade die Zehennägel polieren und fixierte mich aus den Augenaussparungen.
»Es könnte dir auch nicht schaden, dich einmal in die Hände von Dr. Butzwisch jr. zu begeben, Schätzelchen.«
»Bitte entschuldige meinen Aufzug. Die letzten Stunden waren dornenreich.«
»Kris, komm bitte zur Sache.« Ich blickte dümmlich in die Runde, bis Lori die Fußpflegerin aus dem Zimmer scheuchte, und, als ich immer noch nichts sagte, die restlichen Hampelmänner nach draußen kommandierte, ehe sie fortfuhr: »Du steckst in Schwierigkeiten, nicht wahr? Und dabei hatte ich dich gewarnt, nicht in diese Meer-Stadt zu flugschiffen, Schätzelchen. Aber du hörst ja nie auf mich.«
»Die Lage hat sich geändert, Liebling.« Seit wann bereitete mir deutliches Sprechen solche Schwierigkeiten? »Lori, ich bin nicht sicher, ob ich ohne Probleme ausreisen kann. Wenn du dafür sorgen könntest, dass ich hier wegkomme, regle ich alles weitere.«
»Weißt du, ich habe es langsam satt, dich immer zurückkaufen zu müssen.«
»Es wird nicht wieder vorkommen. Versprochen. Sobald ich bei dir bin, werde ich dir alles erklären. Es ist nicht meine Schuld, das musst du mir glauben.«
»Ich muss gar nichts und ich habe dich gewarnt. Es könnte schwierig werden, dich aus dem Hinteren-Blau-Protektorat herauszubekommen, besonders aus Paprika City. Also, was ist diesmal passiert?«
»Gar nichts; ich meine, nichts Schlimmes, es gab einen kleinen Vorfall auf dem Flughafen mit dem Dummy, und ich habe es versäumt, die Aufklärung in Auftrag zu geben.«
»Ah, der Dummy, dieses wunderbare Modell.« Loris Stimme hellte sich auf. »Du bringst ihn unbeschadet zurück, hoffe ich.«
»Nun, das ist kompliziert.« Ich unterdrückte eine hilflose Geste.
»Einen Moment, Kris. Weshalb hast du ihn mitgenommen? Du erinnerst dich an unsere Abmachung, nicht wahr?«
»Natürlich, Lori Schatz, der Dummy ist dein und wird es immer sein. Ich nahm ihn mit, um ihn in meiner Nähe und somit in Sicherheit zu wissen. Letzthin wurde bei Chuck eingebrochen, du weißt, mein Nachbar. Ich wollte kein Risiko eingehen, das verstehst du doch.«
»Nein, ich verstehe nur, dass ich dir seit langem rate, in einen höheren Bezirk zu ziehen.«
»Sobald sich mein Roman verkauft hat. Es geht gut voran, Liebling. Lori? Schatz? Was ist los?« Sie antwortete nicht, starrte ins Leere. »Geht es dir nicht gut, was hast du denn?« Diese elenden Gesichtsschneider, dachte ich noch, während mir klar wurde, dass Lori etwas fixierte, das sich hinter meinem Rücken befand.
Pia stolperte mit dem Dummy ins Zimmer und gab mir zu verstehen, dass es ihm schlecht ging; er blutete jetzt stärker aus der Nase und schwankte beängstigend zum Takt der zitternden Wände.
»Ah, eine echte Bluefish-Zwiebel in meinem Schlafzimmer«, flüsterte sie und deutete auf den Pod.
»Oh mein Gott, oh mein Gott, oh mein Gott«, kreischte Lori May, als sie Pias Gummihandschuhe entdeckte. Ich dachte das selbe, aber vor allem, dass jetzt alles aus sein könnte.
»Pia, raus hier. Alle beide«, zischte ich schneidend. »Weg mit den Handschuhen.«
»Hör zu, er hat alles besudelt. Und ich wische das Blut nicht mit bloßen Händen weg.« Mein Zweit-Ich schien es ihr nicht krumm zu nehmen.
»Kris, was ist hier los?« Loris Stimme war eine Mischung aus Wimmern und Wüten. »Willst du mich den Herrschaften nicht vorstellen?«
»Lori, ich habe die beiden auf dem Ball kennen gelernt, nichts weiter.«
»Sag ihr, sie soll diese schrecklichen Handschuhe aus meinem Blickfeld nehmen.«
»Pia, bitte.«
»Ich denk nicht dran. Du solltest lieber herkommen und mir helfen.«
»Gleich. Geht so lange raus. Bitte.«
»Nein Kris, das werde ich nicht. Und Ihr könntet den Blick genauso gut abwenden.«
»Wie heißt Ihr, Schätzchen?«, fragte Lori, deren Wissen um ihren Stand die Angst verdrängt hatte.
»Sally«, sagte Pia herausfordernd und trat näher. »Sally Pai.«
Die Haut unter dem Geleeverband zuckte kaum wahrnehmbar. »Nun, Sallyschätzchen, es gibt gewisse Fehler im Leben, die macht man nur einmal.«
Plötzlich wusste ich nicht mehr, was mich an Lori faszinierte. Dann löste der Dummy eine Art Kettenreaktion aus. Er stürzte auf mich zu, wir gingen beide zu Boden und er begann zu sprechen, bevor ich reagieren konnte: »Lori, seid Ihr noch da? Kris hat die Wahrheit gesagt, er ist unschuldig. Seht uns genau an. Seht mich genau an.«
Loris Blick sprang zwischen uns hin und her, und während sich auf ihrem Gesicht das Erkennen des Dummys als das, was er war, formte, wurde es totenstill. Dann ließ ein Zug die Wände abermals erzittern und in der folgenden Stille begann Lori zu sprechen: »Kris und Kris’ Zweit-Körper also, eine kleine, falsche Familie nach einem kleinen Vorfall. Erklär es mir, Kris, und beeil dich besser, denn länger als eine Minute gebe ich dir nicht Zeit.«
»Lori, mein Schatz, ich weiß doch selbst nicht, was geschehen ist. Am Flughafen hat sich seine Hand von allein gewässert. Ein paar Stunden später behauptete er, eine selbstständige Person zu sein. ›Gen-for-two‹ hat für diesen Fall sogar eine Anweisung implantiert, die man aus seinem Gehirn spoolen kann. Willst du sie sehen?«
»Du hast einen wichtigen Punkt übersprungen, nicht wahr?«
»Nein, mein Liebling.«
»Wie viele, Kris? Und hüte dich davor, jetzt zu lügen.«
»Ich verstehe nicht.« Ich verstand besser, als mir lieb war. Mein Herz setze einen Schlag lang aus. Wie lange wusste sie es schon?
Der Dummy hustete: »Über welchen Zeitraum?«
»Halt die Klappe, du dummes Ding!«, fuhr ich ihn an. Die Wirkung der Spritze ließ nach. Es war mir egal, ich versuchte zu retten, was zu retten war: »Lori, hör nicht auf diesen defekten Behälter. Er ist instabil und fantasiert. Sieh ihn dir nur an, er fällt gleich auseinander. Ich mach dir einen Vorschlag: Du holst mich hier raus, ich besorge mir einen frischen Körper und wir fangen ganz von vorn an. Na, was hältst du davon, Liebling? Erinnere dich an die wundervolle Zeit, die wir gemeinsam verbracht haben.«
»Du denkst wirklich, dass es so einfach ist, nicht wahr? Das ist immerzu dein Problem, Kris.« Es folgte eine Pause, ehe sie fortfuhr: »Ich bin müde und muss mich erholen.« Sie rief nach einem Schmerzmittel und unterbrach die Verbindung.
Meine Augen suchten noch eine Weile auf dem dunklen Bildschirm, so als hofften sie dort die hundertfünfzigtausend Tints zu finden, die ich für ein neues Modell hinzublättern hatte. Ich sah nur eine Lösung, ich musste den Körper loswerden und irgendwie versuchen, meinen Rückflug anzutreten. Wenn ich mich unauffällig verhielt, könnte es klappen, ich würde einen Kredit aufnehmen, einen neuen Körper züchten lassen und die Schulden irgendwie abstottern. Während mir diese Möglichkeit durch den Kopf ging, war mir natürlich bewusst, dass sich eher die Kopffüßler aus der Politik zurückziehen als dass dieser Plan jemals Realität würde. Ich spielte mit dem Gedanken, mir noch eine Dosis zu injizieren, ließ es dann aber sein.
Pia hatte seit Loris Drohung nichts mehr gesagt. Ich fand sie in der Küche, wo sie die Blutspur aufwischte. Durch das gedämpfte Fischlampenlicht waren die Flecken eine kaum wahrnehmbare, schwarze Masse. »Weißt du, Kris«, sagte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen, »mein erster Eindruck von dir ist noch derselbe. Du bist oberflächlich und selbstsüchtig, anstatt Rückgrat zu zeigen, verbiegst du die Wahrheit so, wie es dir passt. Zudem bist du noch von dieser Bluefish-Zwiebel abhängig.«
»Mag sein«, flüsterte ich. »Aber ich bin kein Dieb. Und ich bin dir nichts schuldig.«
Ich ging ins Schlafzimmer. Kein Dieb.
Eine Zeit lang beobachtete ich das Geschöpf, wie es in Fötusstellung röchelte und gegen Krämpfe und Angst ankämpfte. Als es das Bewusstsein verlor, ging ich in die Knie und hauchte: »Du kannst Rick heißen, wenn du willst.« Es war seltsam, der Zorn war verschwunden. Ich schulterte ihn, als ein warmes Gefühl meinen Brustkorb umfloss. Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich, dass ich einen Freund hatte, dem ich vertrauen konnte. Wenn auch nur kurz.
Der Putzlappen quietschte. Nach einer Weile sagte ich: »Wir gehen jetzt. Danke für deine Hilfe, Pia.«
»Was hast du mit ihm vor?«
»Ich werde versuchen, ein zweites Ticket aufzutreiben und nach Hause flugschiffen.«
»Und danach?«
»Nun, wenn er die Reise überlebt, also ... ich habe keine Ahnung. Mein Bett ist jedenfalls groß genug für zwei.«
»Du wirst ihm doch nichts antun, oder?«
»Schon vergessen, was in der Anleitung steht? Ich bin für ihn verantwortlich. Vielleicht wird es ja ganz lustig, wenn wir in der Zwillings-Show Fragen über Gedankensplitter beantworten.«
»In der Betriebsanleitung meiner letzten Putzkugel gab es auch einen Warnhinweis, dass man sie nicht gegen die Wand schleudern darf.« Sie sah mich an und schien sich nicht recht für ein Lächeln entscheiden zu können.
»Was kümmert dich das?«, sagte ich erschöpft, obgleich der Körper federleicht war. »Du solltest froh sein, dass du uns los bist.«
»Kris, was ist das? Sieh doch mal, der Körper läuft aus«, sagte sie, plötzlich aufgeregt.
Sie hatte Recht, ich stand in einer Pfütze. Daher rührte also das warme Gefühl. Ich versuchte, Rick von meiner Schulter zu heben, doch die erwartete Schwere des Körpers blieb aus. Meine Bewegung war viel zu kräftig, ich verlor das Gleichgewicht und rutschte aus. Der Körper segelte mehr, als dass er fiel, und fegte schließlich über eine Kommode, auf der einige Drucklampen standen. Die Behälter schwankten und knallten schließlich auf den Boden. Einen Augenblick lang zischten die Ventile, verstummten, pfiffen lauter und zerbarsten. Pia schrie auf und zwang mich zu der Feststellung, dass auch das Glas einer Ramsch-Lampe fähig war, einem Menschen den Hals aufzuschlitzen.
»Kris, Kris, sie kommen«, krächzte Rick über einen verdrehten Arm, »die Anleitung hat automatisch die Presse informiert. Tut mir leid, dass ich nichts gesagt...«
Die Leuchtkraft der Fische ließ nach, während sie in dem neuen Druckumfeld zappelten und schließlich zerplatzten. Es wurde finster.
Man sagt, jeder Mensch bekommt heutzutage seine fünf Minuten Ruhm. Bei mir waren es genau drei Minuten achtzehn Sekunden, vom Zeitpunkt des Türaufbrechens bis zu meiner Festnahme.
Pia und Rick wurden auf der Stelle erstversorgt und weggebracht. Ich selbst kam mit Schnittverletzungen und einem unzureichend behandelten Schock davon. Lange fragte ich mich, woher die Presse wusste, dass auch Exekutive und Notarzt vonnöten waren. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass die Anleitung Daten von Ricks Lebensfunktion übertragen haben musste und begnügte mich damit. Ich bekam keine Möglichkeit, ihn später noch einmal zu fragen. Er wurde in Stasis versetzt, um den Zerfall aufzuhalten. Soweit ich weiß, ist er immer noch eingefroren.
An die Einzelheiten der Anklage erinnere ich mich nicht genau. Der Prozess wurde absichtlich kurz gehalten. Ich weiß noch, dass ich wegen verursachten Unfalls mit schwerer Körperverletzung in zwei Fällen, Informationsunterschlagung und Widerstands gegen die Protektoratsmacht in dem Bottich landete. Dass Lori Mays Krallen im Spiel waren, habe ich keine Sekunde lang bezweifelt.
Eine knappe Stunde nach der Urteilsverkündung wurde ich entkleidet und in die Halle mit den Bottichen geführt. Ohne die Pillen hätte ich mich heftig dagegen gewehrt, in das mit Sauerstoff angereicherte Meerwasserbecken zu steigen, ich wäre nicht untergetaucht und hätte unter keinen Umständen freiwillig Flüssigkeit eingeatmet. ›Back to the sea‹ bezeichnete die Prozedur. Der Hybridtintenfisch im Oberrechner hielt es für die am besten geeignete Methode, sich zu sammeln, zu bereuen und zu büßen, indem man zu seinen Wurzeln zurückkehrte: ins Meer.
Am schlimmsten waren die Riesenperlen, die wie vergrößerte, weiße Kaviareier permanent gegen den Körper schrammten und den menschlichen Leib stabilisieren sollten. Dagegen waren der Druck im Innenohr und die getrübte Sicht ein Segen. Selbst die brennenden Lungen waren nicht so schmerzhaft.
Immer wieder Leuchtschriften mit Botschaften der Reinwaschung, wechselnd im Stundentakt. ›Schwebend wollen wir uns erneuern‹, ›Gebt uns Salz, es ist unser Gold‹ und dergleichen waberten durch das Wasser. Der Plural sollte wohl so eine Art Gemeinschaftsgefühl erzeugen. Anfangs hätte ich alles dafür gegeben, mich bewegen und diese verdammten Botschaften zerschlagen zu können. Aber drei Jahre sind lang und irgendwann ist man um jedes neue Wort froh, das nicht von einem selbst stammt.
Ich stellte mir vor, dass ich nicht der einzige war, der in einem Besserungs-Bottich gegen die Übelkeit, die Einsamkeit und das Beklemmungsgefühl kämpfte. Das half ein wenig, wenn auch nicht viel.
Nach drei Jahren feierte ich meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag mit einer Extraportion Nährlösung, die man mir zugeteilt hatte, und der Aussicht auf Begnadigung. ›Wir feiern Geburtstag‹ leuchtete auf. Zum ersten Mal seit sechs Jahren dachte ich an meine Eltern. Ich hatte erwartet, wütend oder traurig zu werden. Stattdessen fühlte ich nur eine weitere Riesenperle, die mir ins Kreuz drückte.
Ich erinnerte mich an die Nachricht, die mir, geschrieben auf echtem Papier, von einem Boten übergeben worden war. Im Geiste faltete ich den Bogen auseinander, las die Worte über den Unfalltod meiner Eltern, die zu jener Zeit gerade einen Aufenthalt in einem Bottich der ersten Generation verbüßt hatten. Wegen eines unbedeuteten Einbruchs.
Danach grübelte ich über Rick und kam zu keinem Schluss. Oft hatte ich in meiner Bottich-Zeit an ihn gedacht und mir eingeredet, dass er meine Gedanken hören konnte, wenn ich mich nur stark genug darauf konzentrierte. Ich empfing nie etwas von ihm.
Dann kam der Tag meiner Entlassung und er verlief so unspektakulär, dass ich beinahe glaubte, die Strafe hätte gar nicht stattgefunden.
Die Auscheck-Halle war riesig. Ich entdeckte Lüster, die wie Gewächse von der hohen Decke baumelten. Meine Augen fochten einen Kampf gegen die Luft, die ich nicht mehr gewohnt war. Um mich abzulenken, zählte ich in der Wartezeit die Quadrate des Schachbrettbodens. Die Augäpfel schmerzten, aber ich zählte weiter.
»Achthundertdreißig in der Länge, fünfhundertdreißig in der Breite«, sagte jemand, der neben mir Platz genommen hatte. »Ich habe sie oft gezählt, während ich gewartet habe.«
»Pia«, sagte ich ergriffen, »du bist, du hast ... es ist so schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Nach so langer Zeit.«
Ihre Hand griff nach meiner. »Ja.«
Nicht fähig, noch etwas zu sagen, umarmte ich Pia mit Tränen in den Augen. Schon wieder Salzwasser, dachte ich demütig, aber froh.
Dann löste mich ein Sicherheitsbeamter sanft aus ihren Armen und begleitete mich zu einem frei gewordenen Schalter. Ich erhielt einen gesäuberten Pass, einfache Kleidung, ein Hygienepaket und zweihundert Tints Startgeld in ein neues Leben.
Ich zog mich um und kehrte in die Halle zurück. Langsam gewöhnten sich Augen und Lungen wieder an die Luft. Pia hatte sich verändert. Ihr Hals wurde von einem Stützgitter gehalten, das die Bewegungsfreiheit des Kopfes einschränkte und mir einen Stich versetzte, die Haare waren länger aber immer noch blond. Nur ihre Haut wirkte unverändert samtigblass. Als ich ihr entgegenschlurfte, wurde mir klar, dass ich sie vermisst hatte. Ich sehnte mich nach Nähe. Langsam, sagte ich mir, vor den verkümmerten Muskeln bist du gewarnt worden, und ich bekam sie zu spüren.
»Kris, es ist viel passiert, während du weg warst.«
»Schsch«, sagte ich, »später. Das hat Zeit.«
»Bist du sicher?«
»Oh ja.« Ich lächelte und zog sie vom Hocker hoch. »Komm, lass uns nach draußen gehen. Ich möchte den Himmel sehen.«
Wir verließen das Gebäude und traten ins Freie.