Mitglied
- Beitritt
- 05.04.2002
- Beiträge
- 73
Mein Engel
Heute Abend soll es passieren. Heute Abend muss es mir gelingen. Es ist alles so perfekt. Sie ist genau die Richtige. Die erste Frau seit langem, bei der ich alles um mich herum vergesse, wenn ich mein Gesicht in ihrem langen, blondem Haar vergrabe. Die Erste, die mich seit langem wieder zum Lachen und zum Weinen, die mir Freude in mein trostloses Leben bringt. Ich muss sie haben, heute nacht noch. Und ich weiß, sie will mich auch.
Der Abend verlief wie geplant. Sie liebte das Theater und sie sah bezaubernd aus in ihrem Abendkleid. Danach gingen wir ins „La Galeria“ und ich bestellte uns das Hummergericht und einen lieblichen Rotwein auf französisch. Sie gestand mir, sie käme aus Marseille und wir unterhielten uns den restlichen Abend auf französisch.
Ich bin das glücklichste Geschöpf unter den Sternen. Selbst meinen „mageren Appetit“ verzieh sie mir mit einem Lächeln, das mein Herz wie Eis in der Sonne schmelzen ließ.
Als ich sie nach Hause begleitete, bat sie mich noch auf ein Glas Wein zu sich. Natürlich mit ihrem verführerischem Blick und dem aufmunterndem Lächeln.
Jetzt sitze ich auf ihrem Sofa und mache ihr Komplimente. Wie schön ihre Wohnung ist, wie exquisit ihr Kunstgeschmack... Ich höre mir selber gar nicht zu. Der Augenblick ist da, in dem ich meine Maske fallen lassen könnte. Ich habe sie da, wo ich sie haben will.
Doch ich zögere.
Habe Angst wieder allein zu sein. Ich werde es tun, denn ich muss, aber ich werde noch ein wenig warten.
Sie öffnet die Weinflasche und gießt uns Beiden ein. Ich beachte die Gläser nicht und stehe auf. „Darf ich bitten.“ Aus den Boxen erklingt ein langsamer Walzer von einem unbekannten Komponisten. Doch das ist unwichtig, alles ist unwichtig, nur sie nicht. Ich muss sie noch einmal berühren, bevor wir zum Unvermeidlichen schreiten. Sie lehnt ihren Kopf an meine Brust und lässt sich führen. Ich kenne ihre Gedanken. Sie glaubt, ich spiele mit ihr, doch was ich vorhabe ist bitterer ernst.
Ich fange an sie zu küssen auf Stirn, Wange, Mund. Sie erwidert diese heiß und innig. Ein Schauer der Erregung lässt ihren Körper erzittern. Dann wendet sie sich ab, doch durch ihre Blicke lässt sie keinen Zweifel aufkommen, wo sie mich jetzt haben will.
Meinetwegen. Jeder Ort ist so gut wie der Andere für das, was ich vorhabe.
Verführerisch lässt sie sich auf ihr Bett gleiten und schaut mich erwartungsvoll an. Ich werde ihre Erwartungen übertreffen. Ich beuge mich über sie und necke ihren Hals mit verspielten Küssen. Lustvoll streckt sie mir ihre Kehle entgegen. Ich kann ihr junges, süßes Blut riechen, wie es wild in ihren Adern pulsiert. Auch ich kann mich nicht mehr halten und beiße zu.
Sie stöhnt vor Erregung auf und erschlafft in meinen Armen. Doch ich trinke, trinke, trinke diesen Quell des Lebens, sauge ihn auf den Ursprung meiner Verdammnis, stehle ihr, was mein Erzeuger mir einst stahl. Sie wird immer blasser und ihr Laken immer röter. Aber es muss alles raus, alles, sonst funktioniert es nicht. Hektisch sauge ich immer weiter, zuviel hängt von diesem Moment ab.
Jetzt kommt nichts mehr und ihr Herz steht still. Das muss reichen. Ich beiß mir in die Zunge und küsse ihren offenen Mund. Feine Fäden Blut ergießen sich auf ihre Zunge und rinnen ihre Kehle hinab.
Trink doch mein Engel, trink! Warum trinkst du denn nicht?
Wie benommen stolpere ich einen Schritt nach hinten. Meine Seele krampft sich vor Schmerz zusammen. Hätte ich ein Herz, würde es lichterloh brennen.
„Nein. Du darfst nicht sterben. Du musst trinken sonst stirbst du!“
Sie liegt jetzt schon eine Stunde dort in ihrem eigenen Blut. Ich sitze daneben und streiche über ihr langes, blondes Haar. Ihr Gesicht liegt da, so friedlich, so glücklich wie es mir scheint und in ihrem Mund mein Blut. Ich vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren und flüstere ihr ins Ohr: „Trink mein Engel. Bitte. Trink.“