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Mein bunter Schmetterling
“Mein kleiner Schmetterling”, schmeichelte mir mein Vater und nahm mich mit. Ich war vier Jahre alt und hatte meinen Papa einen ganzen Sonntag lang für mich allein. Wir durchstreiften die Wiesen vor dem Haus und die Wälder dahinter. Die Zeit schien still zu stehen. Wir hatten Tee und Butterbrote dabei. Und ich wusste, irgendwo hatte er auch ein paar Bonbons versteckt. Wir spielten Fangen auf der Wiese. Wir lachten viel. Wir sangen zusammen. Und zwischendurch fing Papa Schmetterlinge mit einem großen Netz. Er zeigte mir die Falter und nannte ihre Namen. Tagpfauenauge, Kohlweißling, Zitronenfalter. Sie waren wunderschön, so zart, so fragil. Einige der gefangenen Falter ließ Papa wieder fliegen, andere nahm er mit. Am meisten gefielen mir die winzigen Bläulinge. Ihre intensiv eisblauen Flügel konnte man schon von weitem sehen, obwohl sie doch so klein waren. Ich lief hinter ihnen her.
"Wartet auf mich, ich will mit euch spielen!", rief ich.
"Komm, komm und schau!", riefen sie.
Sie zeigten mir kleine Steinhaufen, auf denen sie sich niederließen. Sie flogen zu den bunten Blüten auf der Wiese, es zog sie zu einer Pfütze.
"Komm mit uns!", riefen sie und ich flog hinterher.
Zu Weihnachten bekam ich die "Kleine Raupe Nimmersatt“ geschenkt. Ich liebte das Buch heiß und innig. Ich gab es nie wieder her.
"Komm, bunter Schmetterling!", rief mein Vater im Jahr darauf. Im Flur stand nun mein eigenes, kleines Schmetterlingsnetz Seite an Seite mit seinem Großen.
"Du darfst den Schmetterlingen nicht hinterherlaufen," tadelte mein Vater "so kann man sie nicht fangen."
Ich lernte, die Wiese zu beobachten, den Schmetterlingen mit den Augen zu folgen. Aber es waren so viele. Welchen der vielen bunten Falter sollte ich beobachten? Rechts, Links. Ach und hinter mir, ein Universum voll Schmetterlinge. Wenn sie sich auf einer Blüte niedergelassen hatten, pirschte man sich langsam an sie heran und schwang dann das Netz von der Seite Richtung Blüte. Sobald der Falter im Netz war, musste man es drehen, damit er nicht direkt wieder hinaus flogen. Papa nahm sich viel Zeit, mir den richtigen Fangschwung beizubringen.
"Das hast du toll gemacht! Ich bin stolz auf dich!", sagte er.
Er prüfte die Ausbeute in meinem Netz. Einen guten Fang nahm er mit, die anderen ließ er fliegen.
Ich hockte im Gras und beobachtete die Schmetterlinge. Ich horchte.
"Wo seid ihr? Ich will spielen!" Sie antworteten nicht.
"Ich bin nicht dein Schmetterling”, widersprach ich leise, als ich sechs Jahre war. Ich beobachtete ihn. Er quetsche die winzigen Köpfchen der Falter zwischen Daumen und Zeigefinger, um sie zu töten. Er spießte die kleinen Körper auf dünne Stecknadeln. Er prüfte die aufgespießten Falter. Flügel, Fühler, Beinchen. Wenn nicht alles intakt und vollzählig war, wenn sie nicht perfekt waren, warf er sie in den Müll. Nur die Makellosen hatten eine Chance. Er pinnte sie auf ein Spannbrett. Dann breitete er ihre zarten Flügel aus, behutsam, damit die bunten Schuppen nicht zerstört würden. Die ausgebreiteten Flügel wurden mit Spezialpapier fixiert. Ich dachte, gekreuzigt. Der getrocknete und gespannte Schmetterling kam in einen kleinen Glaskasten. Mit der Zeit sammelten sich in dem Kasten zahlreiche Schmetterlinge an. Wie viele mehr landeten in der Tonne? Je nach Größe passten bis zu zwanzig Exemplare in einen solchen Schaukasten. Mein Vater arrangierte die bunten Falter nach optischen Kriterien. In der Mitte das größte Exemplar der Sammlung, umgeben von kleineren Arten, oft farblich sortiert. Er gab sich sehr viel Mühe damit, es war hübsch anzuschauen. Der mit viel Geduld und Liebe gestalte Schaukasten erhielt einen Ehrenplatz über dem Sofa im Wohnzimmer. So wie all die anderen Kästen, die sich mit der Zeit füllten. Als ich das Haus verließ und eine eigene Wohnung bezog, waren es so viel Kästen, dass die Wand über dem Sofa schon lange nicht mehr ausreichte. Die Sammlung war in den Flur gewandert und zierte dort die Wände. Wir hatten einen langen, großen Flur.
"Mein großer Schmetterling!" Ich ging zur Schule und lernte schnell lesen und schreiben. Mittlerweile kannte ich auch ziemlich viele Schmetterlinge mit deutschem und botanischem Namen. Ich blätterte nächtelang durch die Bestimmungsbücher meines Vaters.
"Was du alles weißt, großartig!"
Ich liebte es, wie er das sagte. Dieser ganz besondere Klang: großartig!
"Meine Große, willst du mich begleiten?"
Ich ging gerne mit. Ich wollte die großen, seltenen Falter fangen. Oleanderschwärmer, Linienschwärmer, Große Weinschwärmer. Schwärmer waren sehr selten und ich war wild darauf, sie meiner eigenen, kleinen Sammlung einzuverleiben. Zum Geburtstag wünschte ich mir eine eigene Ausrüstung zum Präparieren von Insekten. Ich beschrieb kleine Kärtchen mit ihrem deutschen und lateinischen Namen, dem Fundort und Datum und steckte sie auf die dünnen Schmetterlingsnadeln, direkt unter den Körper. So machte man das als Profi. Wir besuchten Schmetterlingsbörsen und kauften Raupen von seltenen Arten. Wir bewahrten sie, sehr zum Missfallen meiner Mutter, im Kühlschrank bis zur Verpuppung. Zum Schlüpfen nahmen wir sie wieder heraus. Wir wurden recht erfolgreiche Züchter von “Totenköpfen”, einem sehr begehrten und seltenen Nachtfalter. Überzählige Exemplare präparierten wir und verkauften sie an andere Schmetterlingsliebhaber. Wir verbrachten sehr viel Zeit miteinander.
"Meine Wissenschaftlerin", nannte mich mein Vater .
Ich ging aufs Gymnasium und hasste meinen Vater. Natürlich nicht gleich, so abrupt. Der Hass schlich sich ganz leise und völlig unspektakulär in mein Bewusstsein. Es fing mit so harmlosen Dingen an wie dem Naseputzen. Plötzlich konnte ich es nicht mehr ertragen, wie Papa sich die Nase schneuzte. Oder, früher trug ich gerne die Hemden meines Vaters. Er beklagte sich oft darüber, dass ich ihm wieder ein Hemd geklaut hatte und - mit einer kleinen Stickerei versehen - in eine Bluse verwandelt hatte. Ich hatte keine Verwendung mehr für diese Blusen und warf sie auf den Müll. Sein Körpergeruch wurde mir unangenehm. Ich ging ihm immer öfter aus dem Weg. Ertrug seine Umarmungen nicht mehr. Fand seine Witze grauenvoll. Mir wurde speiübel, wenn ich an den Schmetterlingskästen im Flur vorbei musste. Die gemeinsamen Ausflüge brach ich ab.
"Keine Zeit, ich muss Hausaufgaben machen", sagte ich immer öfter.
Kein Wort über Schmetterlinge. Als ich die Oberstufe erreichte, sprach ich eigentlich gar nicht mehr mit ihm. Papa stellte das Schmetterlingssammeln ein und suchte sich ein neues Hobby. Mich interessierte es nicht.
Ich studierte. Wir sahen uns selten.
"Wie geht es dir? Gut, danke! Und dir?"
Ich erzählte nichts von meinem Leben und wollte auch nichts von seinem Leben wissen. Man sah sich anfangs noch zu Weihnachten und den Geburtstagen, später nur noch zu runden Geburtstagen. Mit Mitte Vierzig begann ich Bilanz zu ziehen. Ich hatte einen Beruf, den ich sehr erfolgreich ausübte, der mich aber nicht begeisterte, einen Mann, den ich mochte, aber nicht liebte, interessante Bekannte aber keine Freunde und ein großes Haus, in dem ich nicht zu Hause war. Ich war eine freudlose, zynische, blasierte Frau und viel zu früh gealtert. Meine Lebensuhr lief ab, ohne dass es mich beeindruckte. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es mein Leben sei. Ich versuchte, mein Leben zu finden. Die Psychotherapeutin vermutete Missbrauch. Ich ging nicht wieder hin. Ein Geistheiler lud meine Chakren auf. Es hat nicht geholfen. Beim Familienstellen vergoss ich zahllose Tränen. Weswegen, wusste ich nicht. Ich sammelte spirituelle Bücher und Selbsthilfegruppen wie vor Zeiten Schmetterlinge. Ich nahm zu. Ich verdoppelte fast mein Gewicht. "Wie die kleine Raupe Nimmersatt", dachte ich.
“Weine nicht, kleiner Schmetterling!” sagte mein Vater an meinem 50. Geburtstag. Das war kurz bevor er starb. Nach der Beerdigung ging ich direkt ins Haus meiner Eltern und nahm die Schaukästen von der Wand. Während sich die Trauergesellschaft zu Kaffee und Kuchen traf, fuhr ich in den Wald. Ich nahm alle Kästen aus dem Auto und trug sie bis zu einer großen, alten Buche. Dort öffnete ich sie, nahm Falter für Falter heraus und entfernte die kleine Nadeln. Die starren Körper bettete ich auf den Waldboden. Ich versuchte die kleinen Leichen so vorsichtig wie möglich nebeneinander zu legen, um sie nicht zu zerstören. Aber die meisten waren schon so alt und brüchig, sie zerfielen in meiner Hand. Es dauerte über eine Stunde, bis die Kästen geleert waren. Ich hatte kleine Kerzen in Gläsern mitgebracht, die ich um die aufgebahrten Falter stellte und anzündete. Die ganze Zeit über habe ich geweint, ein tiefes, unstillbares Weinen. Am Grab meines Vaters hatte ich nicht weinen können. Jetzt wühlte sich alles nach oben. Ich weinte um das kleine Mädchen, ich weinte um die junge Frau, ich weinte um die alte Frau. Ich weinte um verpasste Chancen und ungekannte Lebensfreude, um zerstörte Kreativität und erstickte Sensibilität. Ich weinte um die vielen ermordeten Falter. Ich weinte um meinen Vater.
"Schmetterlinge tötet man nicht, Papa!"
Ich schaute auf die Kerzen. Ich sah meinen Vater, er nahm mich an der Hand. Er zeigte mir die Wiesen, die Felder, die Wälder. Er lehrte mich Beobachten. Gründlich und sorgfältig zu arbeiten. Kritisch zu sein. Mich selbstständig zu informieren, zu recherchieren. Mich und meine Arbeit zu organisieren. Er hat mir die Welt gezeigt und sich größte Mühe gegeben, mir das Leben beizubringen. Auf seine Art.
Als die Kerzen niedergebrannt waren, überdeckte ich die kleinen Körper mit Erde und Laub, so gut ich konnte. Ich kam erst nach Mitternacht nach Hause. Die Kästen warf ich in den Müll. Die Raupe Nimmersatt hatte es geschafft, zu schlüpfen. Ich konnte das auch. Ich hatte das Rüstzeug dafür.