Mein bester Freund
„Guten morgen .“ Er schaut mich nur an und lächelt. Ich betrachte ihn im Spiegel, während ich die Zähne putze. Gleich muss ich los zur Arbeit, in mir macht sich das Gefühl der Unlust breit. Er steht rechts hinter mir und mir fällt auf, dass er etwas kleiner geworden ist. Das wird er im Herbst immer.
Ich spucke die aufgeschäumte Zahnpasta aus und wasche mir das Gesicht mit kaltem Wasser. Nachdem ich mich abgetrocknet habe und noch einen letzten kurzen Blick in den Badspiegel werfe, muss ich enttäuscht feststellen dass meine Augenringe heute Morgen wieder besonders dunkel sind.
„ Na dann mal los.“ Er dreht sich um und geht, ich schaue ihm kurz nach, bis er die Badezimmertür hinter sich schließt.
Auch ich verlasse kurz nach ihm das Bad, greife nach meiner Handtasche und vergewissere mich ob ich alles eingepackt habe. Schlüssel, Portemonnaie, Kaugummis, alles da. Ein kurzer Blick in die Küche, der Herd ist aus.
Ich verlasse meine Wohnung und schließe die Haustür ab. Im Flur kehre ich nochmal um. Habe ich den Herd wirklich ausgemacht?
Wieder stehe ich in der Küche, natürlich ist der Herd aus. Ich klatsche zwei Mal in die Hände um mir selbst zu bestätigen dass er es wirklich ist. Er ist aus. Der Herd ist aus, wiederhole ich im Geiste.
„ Jetzt bin ich also verrückt geworden, was?“ Er steht mit verschränkten Armen neben dem Herd und nickt.
Wortlos verlasse ich die Küche und begebe mich zu meinem Auto, welches ich ein paar Straßen gegenüber meines Wohnblockes geparkt habe.
In meinem Büro bin ich heute überraschenderweise alleine, meine Kollegin scheint krank zu sein. Sonst ist sie immer eine halbe Stunde vor mir da und kocht uns einen Kaffee, in der von ihr mitgebrachten Filtermaschine. Ich bin froh, mir heute nicht ihr Gequatsche anhören zu müssen und in Ruhe arbeiten zu können. Auch ohne die Ablenkung durch ihre Liebesgeschichten und Alltagsdramen bin ich unkonzentriert genug. Aber ich möchte nicht unhöflich sein und höre mir an, was sie so zu erzählen hat und gebe ab und zu eine kurze Antwort um interessiert zu wirken.
Ich schalte meinen Computer an und blätterte den Stapel der Verträge durch, der auf meinem Schreibtisch gestapelt liegt. Ich muss sie heute noch bearbeiten. Am Freitag habe ich die ganze Arbeit einfach liegen lassen, weil ich keine Lust mehr hatte und dachte vielleicht komm ich einfach nach dem Wochenende nicht mehr wieder. Ich fange an den ersten Vertrag durchzublättern.
Es fühlt sich so an als würde mich ein Nebel umgeben, als würde ich neben mir selbst sitzen und mich bei meinen Tätigkeiten nur beobachten. Als wären alle meine Handlungen ferngesteuert.
Seine Hand berührt meine rechte Schulter. „Was machst du dir vor?“ fragt er. Ich blicke auf. Ich sehe sein schwarzes Gesicht, lächelnd steht er neben mir. Er hat keine Augen und trotzdem scheint er durch mich hindurchzusehen. „Ich weiß es nicht. “ antworte ich leise und blicke wieder runter auf den Vertrag, den ich bearbeiten wollte und meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich unterdrücke den Drang zu heulen und greife nach meinem Textmarker, um die wichtigsten Daten des Vertrages zu markieren.
Auf der Arbeit weine ich nur ungerne.
Ich arbeite, die Stunden vergehen nur langsam, immer wieder blicke ich auf die Uhr und frage mich warum sich jede Minute wie eine Ewigkeit anfühlen muss.
Zwischendurch checke ich mein Emailpostfach. Belanglose Nachrichten von verschiedenen Abteilungen mit Informationen zu Neuerungen des Betriebssystems. Langweilig.
Gegen 09:45 Uhr erhalte ich eine Mail von meiner Vorgesetzten.
„Kommen Sie bitte in mein Büro, wenn Sie Zeit haben.“ steht in der Nachricht. Ach verdammt, denke ich und stehe auf um es möglichst schnell hinter mich zu bringen. Ich bin so müde, ich habe kaum Kraft die paar Schritte von meinem Büro in das Büro meiner Chefin zu gehen. Er stützt mich und flüstert: „Ich hab doch gesagt, bleib zuhause.“ Er hat Recht, ich hätte auf ihn hören sollen.
Mein Herz pocht, als ich an die Tür klopfe. Sie ruft, dass ich herein kommen soll. Ich öffne die schwere Tür, lächle gezwungen und setze mich auf den Stuhl, der vor ihrem Schreibtisch, gegenüber Ihres Sitzplatzes steht. Dadurch fühle ich mich zurück in meine Schulzeit katapultiert, als es Ärger vom Schuldirektor gab. Da musste man sich auch immer in seinem Büro vor sein Pult setzen und sich die Standpauke anhören.
„Guten Morgen erstmal, geht es Ihnen gut? “ Die Chefin, eine etwas ältere, blondierte Dame mit angenehmen Geruch schaut mich besorgt an. Damit habe ich nun wirklich nicht gerechnet. Warum ist sie so freundlich? Das kenne ich nicht von ihr und irgendwie macht mir das noch mehr Angst, als von ihr angeschrien zu werden. Wie sonst immer.
„Soweit ganz gut, ja...Ähm, warum bin ich hier? “ frage ich vorsichtig. Sie greift nach ein paar Papierblättern, die neben ihrer Tastatur liegen und glättet sie mit ihrer faltigen Hand.
„Es kamen ein paar Anrufe von verärgerten Kunden, Sie haben einige Verträge falsch bearbeitet, die müssten Sie nochmal überarbeiten.“ Sie drückt mir den Papierstapel in die Hände und gibt mir zu verstehen, das Büro zu verlassen. Ich erwidere nichts und gehe, begleitet von meinem schwarzen Schattenfreund, der nach meiner Hand greift und sie zart mit seinen kalten Fingern streichelt. Ich schließe die Tür des Büros meiner Vorgesetzen mit etwas zu viel Schwung, einen Ticken zu laut.
„Das hast du wieder richtig gut hinbekommen, bald bist du deinen Job los du Dummkopf.“
Irgendwann ist der Arbeitstag vorbei. Das Heulen konnte ich mir im Laufe des Tages nicht verkneifen, aber ich war alleine im Büro und daher konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen. Er beobachtete mich beim Weinen und glitt mit seiner Hand durch meine Haare, er streichelte mich.
Ich bekam kaum Luft und mir wurde übel, ich hatte sogar Angst mich übergeben zu müssen, aber ich tat es nicht.
Inzwischen ist es Nachmittag und mein Schattenfreund und ich sitzen in meinem Auto und fahren nach Hause.
Von dem Beifahrersitz aus schaut er aus dem Beifahrerfenster und kritisiert meine Fahrkünste. „ Irgendwann fährst du dich noch in den Tod.“
Ist doch gut, denke ich. Alles ist besser als dieses Leben.
Zuhause angekommen werfe ich meine Handtasche in die Ecke des Wohnungsflures. Zuerst gehe ich in mein Schlafzimmer und ziehe meine bequemsten Klamotten an, bestehend aus einem übergroßen Kapuzenpullover und einer Jogginghose.
„Weißt du was? Heute ist es mal Zeit für dich für eine kurze Weile zu verschwinden“, sage ich auf dem Weg zum Wohnzimmer zu ihm, er liegt ausgebreitet auf der Couch und traut sich nicht zu mir rüber zuschauen. „Wie du meinst.“ Er wirkt nicht sehr eingeschüchtert von mir. Er weiß, dass er immer wiederkommt. Auch wenn er für einige Wochen oder sogar Monate weg ist, er kommt immer wieder. Er ist mein treuster Begleiter. Mein bester Freund.
Ich öffne die billige Weinflasche mit Drehverschluss, die ich neben meinem Couchtisch platziert habe und setze mich auf das kleine Stückchen Sofa das er mir übrig gelassen hat .Den Rest nimmt er mit seinem großen, schwarzen Körper ein und macht nicht den Anschein rücken zu wollen. Auf den Schoss lege ich mir die Tüte mit den Kartoffelchips, die ich auf dem Sofatisch habe liegen lassen, nachdem ich gestern einkaufen war. Ich liebe Essen, erst recht fettiges Essen. Es macht mich glücklich für einen kurzen Moment.
Ich setze die Weinflasche an meinem Mund an und nehme einen großen Schluck.
Der Wein schmeckt trocken und fruchtig und verursacht schlagartig ein gutes Gefühl in mir. Chianti, mi amore.
Er setzt sich auf, legt seinen Ellenbogen auf dem Knie ab und stützt seinen Kopf mit der Hand. Ich trinke und sehe ihn kleiner werden.
Er winkt mir. Noch einen Schluck muss ich nehmen, dann wird er weg sein. Und so ist es. Er ist weg, geschrumpft und dann in Rauch aufgelöst um erst wieder zu kommen, wenn es mir schlecht geht.
Ich schalte den Fernseher mit der Fernbedienung an, auf der er eben noch gelegen hat.
Ich suche meine Lieblingsserie aus und mache mir einen schönen Abend. Hauptsache ich bin abgelenkt, dann kommt er so schnell nicht wieder.