Mehrins Schicksal
1
Sie kamen in der frühen Nacht und was sie mitbrachten war Tod und Zerstörung. Ihre langen Mäntel waren schwarz und bestickt mit den Sigeln eines fremden Gottes. Es waren dreißig an der Zahl und sie kamen auf weißen Hengsten durch den Wald geritten. Ihre Gestalt war furchteinflößend, ebenso die Waffen, die sie trugen. Schwerter, Äxte, Lanzen und Morgensterne waren in ihren Händen. Schilder trugen sie bei sich, auf denen das alte Wappen Munilds prangte.
Schweigend ritten sie im Galopp vorbei an den Tannen und Eichen. Die Hufen der Pferde trampelten auf dem Unterholz und scheuchten kleinere Tiere auf.
Auf ihre weißen Gesichter hatten sie Ruß aufgetragen, was sie wie Krieger aus längst vergessenen Zeiten aussehen ließ. Die Munild waren einst mit rußgeschwärzten Gesichtern in die Schlacht gezogen, bevor sie die Zeit für immer verschwinden lassen hatte.
Entschlossenheit stand in ihren dunklen Augen. Ihr langes Haar wehte hinter ihren Köpfen. Unter dem Mondschein ritten sie vorran, um Leben zu rauben.
2
Voldin war der erste, der sie sah. Er hatte sein Haus verlassen, um einen Spaziergang durch den Wald zu machen. Seine Familie hatte das Abendessen beendet, und er war ausgezogen, um die Stille des Waldes und seine Unberührtheit in sich aufzunehmen. Jeden Abend ging er so aus dem Haus. Noch wusste er nicht, dass diese Wanderung seine letzte im lieblichen Grün des Waldes sein würde.
Die Sonne war bereits untergegangen, und so trug er eine Lampe bei sich. Er sang Reime, die man schon in Mehrin gesungen hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Jetzt war er 49 und ihm blieben nicht mehr viele Jahre. Es machte ihn traurig, wenn er daran dachte, dass er vielleicht nie erleben würde, dass sein jüngster Sohn Koner heiratete. Koner war erst fünf. Ein aufgewecktes Bürschchen, voller Lebensfreude und von der Klugheit nach seiner Mutter Iona geschlagen. Voldin liebte ihn sehr. Mehr noch als seine anderen beiden Kinder, wie er sich widerstrebend eingestehen musste. Trotzdem behandelte er alle gleich, auch wenn er den Verdacht hatte, dass ihn sein Alter nachsichtiger hatte werden lassen. Mit seinen anderen Kindern war er härter ins Gericht gegangen, als mit Koner. Und es war nicht zu ihrem Nachteil gewesen. Aus ihnen waren ordentliche Menschen geworden, die die alten Tugenden schätzten und nach ihnen handelten.
Voldin war zufrieden mit sich und seinem Leben. Und die Jahre, die ihm noch blieben, wollte er in Mehrin verbringen. Voller Frieden und Glück sollten sie sein. Der einzige Wunsch, um dessen Erfüllung er die Götter anbettelte, und dessen Scheitern er nicht verkraften könnte, war, dass es ihm vergönnt sein mochte, Koner aufwachsen zu sehen.
Voldin hatte aufgehört zu singen, sondern summte stattdessen unbewusst eine Melodie, die die Schönheit der Natur in Töne wiedergab. Er betrachtete die hohen Bäume, deren Wipfel ein Dach über den Weg zu bilden schienen. Fasziniert beobachtete er, wie der Mond durch die Äste strahlte und alles in bezauberndes Licht hüllte. Die Luft war angenehm kühl und ließ seine Haut leicht erschauern. Die Schönheit dieses Augenblicks war so überwältigend, dass sich Tränen der Freude in seinen Augen sammelten. Lass diesen Moment nie vorrübergehen Terna...
Er hörte das Schlagen von Hufen. Sofort war ihm klar, dass dies nichts Gutes bedeuten konnte. Er löschte das Licht seiner Lampe. Das Geräusch der Hufen kam näher, und Voldin entschied, dass es besser war, er würde dem Ankömmling sein Gesicht nicht preisgeben - doch es war nicht nur ein Reiter. Der Wind trug das Geräusch einer Menge Pferde zu ihm. Mindestens ein Dutzend, schätzte er. Er kauerte sich hinter ein großes Gebüsch, das am Wegrand war. Dornen an dessen Ästen rissen ihm die Haut an vielen Stellen auf, doch er spürte den Schmerz kaum.
Er konzentrierte sich ganz auf die herrannahenden Reiter. Ihre Pferde ritten schnellen und schon bald würden sie die Stelle passieren, an der er sich versteckte. Bis auf die Hufen und ein vereinzeltes Schnaufen eines Pferdes konnte er nichts von ihnen hören. Er schob ein paar kleinere Äste zurück, um eine bessere Sicht auf den Weg zu haben. So verharrte er in der Dunkelheit, die nur der Mondschein durchbrach, und lauschte den herrannahenden Reitern und den unheimlichen Geräuschen des Waldes hinter ihm. Er war gut geschützt in seinem kleinen Versteck. Gestrüpp, Sträucher und Baumstämme umgaben ihn. Außerdem fiel der Weg an der Seite in einem Graben ab.
Und dann kamen sie. Zunächst waren sie nicht mehr, als Schemen in der Nacht, was sie in Voldins Augen noch gefährlicher erschienen ließ. Es war eine ganze Armee, die da ritt.
Zwanzig, dreißig Mann, auf hohen Rössern und gehüllt in Mänteln. Er sah das Metall der Waffen, wie es im Mondschein eisig erhellt wurde. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, und der Drang tiefer in den Wald zu fliehen, um in dem undurchsichtigen Gelände Schutz zu suchen, keimte in ihn auf. Noch hatte er Zeit zu laufen. Noch waren sie weit genug entfernt, und er vermutete, dass sie ihm nicht folgten, selbst wenn sie ihn hören würden. Doch seine Furcht lähmte seine Glieder. Er verharrte hinter seinem Versteck und achtete darauf, sich nicht zu bewegen. Er glaubte zu spüren, wie der Boden unter ihm zitterte.
Sie waren nur noch wenige Meter von ihm entfernt, und er sah endlich die Gesichter der Reiter. Es waren Fremde, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Gesichter wie Stein hatten sie, geschwärzt mit Farbe, oder was es auch immer sein mochte. Den Blick starr nach vorne gerichtet, als würde sie die Umgebung nicht interessieren, oder als nehmen sie sie erst gar nicht war. Langes Haar, das zu Zöpfen gepflochten war, zierte ihren Kopf. Und sie trugen Waffen.
Voldins Herz hörte für einen Moment auf zu schlagen, als die ersten ihn passierten. Es waren Krieger, die er hier sah. Und sie befanden sich auf dem Weg nach Mehrin. Dem Weg, den Voldin selbst genommen hatte. Er stieß ein Dankgebet gen Himmel, dass er so schlau gewesen war, sich zu verstecken, als er Hufschläge hörte. Hoffentlich kommen sie in friedlicher Absicht...
Doch darauf konnte er nicht vertrauen. Er musste einen Weg finden, seine Kameraden im Dorf zu warnen. Das war er seiner Heimat schuldig. Sollten diese Krieger wirklich vorhaben das Dorf zu überfallen, würden sie keine Möglichkeit haben Mehrin zu verteidigen. Doch immerhin würden sie dann im Kampfe für ihre Heimat sterben und nicht im Schlaf von ihren Feinden feige ermordet werden. Doch es gab keinen Weg sie zu warnen.
Sie ritten schnell, und auf dem kürzesten Weg ins Dorf, während Voldin zu Fuß gehen musste, und dass auf Schleichwegen, durch stark bewachsenes Gebiet. Er würde zu spät kommen. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob es nicht besser wäre, wenn er sich tiefer im Wald verstecken würde, und erst im Morgengrauen wieder nach Mehrin zurückkehrte. Es könnte ihn sein Leben kosten, wenn er es jetzt schon täte, und seine Freunde waren sowieso verloren.
Doch dieser Gedanke war feige und er schämte sich. Sein Vater hatte ihn anders erzogen. Er hatte Ehre kennengelernt, und wenn er sterben würde, dann war es ihm recht.
Als der ganze Trupp vorrübergezogen war, machte sich Voldin auf den Weg durchs Unterholz. Er ging schnell, rannte aber nicht, da die Gefahr zu groß war, dass er über irgendeinen Gegenstand stürzte und sich womöglich das Bein brechen würde. Das Letzte, was er wollte, war, in der Kälte und der Einsamkeit, umringt von alten Bäumen qualvoll zu verhungern.
Überall ragten Wurzeln aus dem Boden, manche verdeckt vom Schnee, und sie alle schienen nach seinen Füßen zu greifen. Jetzt war der Wald alles andere als schön; jetzt war er ein Monster mit vielen Augen und vielen Tentakeln, die nach einem schnappten. Seine Glieder waren alt, und obwohl er noch Kraft in sich hatte, fingen die Muskeln in seinen Oberschenkeln schon bald an zu schmerzen. Früher, als er noch ein junger Mann gewesen war, mit gestählten Muskeln vom Bäumeschlagen und Getreideernten, hätte ihn ein Marsch durch dieses Gelände nichts ausgemacht, dachte er verbittert. Doch die Zeiten waren vorbei.
Sein Atem ging rasend und sein Herz klopfte so stark, als würde es jeden Moment durch seine Brust stoßen und an die frische Luft gelangen. Doch er quälte sich weiter vorran, immer die Gesichter seiner Kinder und das seiner lieben Frau vor den Augen.
3
Thiatra lag in Homins Armen. Am späten Abend war sie aus dem Haus ihres Vaters geschlichen. Durch das Fenster war sie unbemerkt entkommen. Sie hatte sich mit ihrem Geliebten in einer Scheune verabredet. Sie gehörte einem Bauern, dessen Haus aber weit von der Scheune entfernt war, und sie somit keine Angst haben mussten, entdeckt zu werden. Die Scheune lag außerhalb von Mehrin hinter zwei großen Feldern auf denen Gerste angebaut wurde. Es war gespenstisch gewesen, in der Dunkelheit über die Felder zu gehen, hin zu einem alten, baufälligen Gebäude. Doch die Sehnsucht nach ihrem Jungen, wie sie Homin liebevoll nannte, hatte sie ihre Ängste schnell vergessen lassen. Nun erhielt sie den Lohn für die Unannehmlichkeiten, die sie hatte auf sich nehmen müssen.
Sie lagen im Heu. Engumschlungen und unbekleidet. Der Schein einer Kerze spendete ihnen Licht. Die Kerze stand auf einer Holzkiste, und Homin hatte sie mit seiner Sorge, das Heu könnte Feuer fangen, gelangweilt. Jetzt hatte er die Kerze vergessen, nahm sie an. Sie gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Dabei kratzten seine Bartstoppeln an ihren Wangen. Doch daran störte sie sich nicht weiter. An ihrem Oberschenkel spürte sie, dass sich seine Männlichkeit zur vollen Größe aufgerichtet hatte, und bereit war in sie einzudringen. Zunil, eine ihrer besten Freundinnen im Dorf, die etwa im gleichen Alter wie Thiatra war, allerdings schon viel früher als sie Erfahrungen mit Jungen gemacht hatte, nannte ihn des Mannes wahres Schwert. Wenn sie diesen Ausdruck benutzte, mussten sie beide immer lachen. Naja, eigentlich ist es nur beim ersten Mal für ein Mädchen ein echtes Schwert. Denn nur dann vergießt es wirkliches Blut, pflegte sie häufig zu erzählen. Homins Schwert hatte ihr Blut vergossen, und damals hatte sie vor Schmerzen gestöhnt. Das würde nun nicht mehr passieren. Jetzt würde sie nur noch vor Lust stöhnen und schreien.
Sie hörte auf ihn zu küssen und wandte sich stattdessen anderen Regionen des männlichen Körpers zu. Sie nahm sein Ding in den Mund und lutschte daran. Er wurde immer ganz wild, wenn sie das tat, und sie genoss es, wie er willenlos ihr gegenüber wurde. Doch machte es ihm nie lange mit dem Mund, da sie nicht wollte, dass er seinen Samen verschwendete. Sie wollte seinen Samen in ihrem Schlitz spühren. Sie wollte, dass er in ihr kam.
Als sie aufhörte, fragte sie: "Bist du bereit? Willst du es jetzt?"
"Was glaubst du denn?", fragte er mit einem Grinsen.
"Ich glaube, dass du vielleicht gar nicht mehr lange kannst, und es dir nicht mehr gelingen wird, wenn ich ihn mir nicht augenblicklich reinstecken lasse."
Homin warf sie auf den Rücken und kniete sich vor ihrem Unterleib.
"Ich werde es dir beweisen", sagte er und nahm ihre Bein auf seine kräftigen Schultern.
4
Die Reiter erreichten das Ende des Waldes. Vor sich sahen sie nun das Dorf. Sie hatten sich vorgenommen zu plündern und es war ideal dafür. In einem Thal gelegen, nach allen Seiten umgeben von Bergen. Abgeschottet von der Welt. Sie waren dreißig an der Zahl, alles bewaffnete Krieger, die bereit waren, ohne die geringsten Gewissensbisse, zu töten. Sie waren eine Macht, der das kleine Dorf nichts entgegenzubringen hatte.
Sie legten die kurze Strecke, die zwischen dem Wald und dem Dorf lag, in kürzester Zeit zurück, und schon bald tauchten die ersten Häuser vor ihnen auf. Einige sprangen von ihren Pferden, die Waffen in den Händen machten sie sich daran in die Heime einzudringen. Türen wurden eingetreten und ihr Holz zersprang unter den schweren Stiefeln. Die ersten Schreie durchschnitten die Stille; sie sollten nicht die einzigen bleiben. Die Räuber drangen in die Häuser ein und mordeten.
Das erste Haus, das ihnen zum Opfer fiel, war das des Jupent. Er war der Priester der Gemeinde, und lebte zusammen mit seiner Frau und drei Söhnen. Vom Geräusch seiner zerberstenden Tür aufgeschreckt, wollte er gerade zum Dolch greifen, den er seit Ewigkeiten unter seinem Bett aufbewahrte. Doch schon kam ein Hühne durch die Tür des Schlafraums gestürmt. Unter seinem schwarzen Mantel blitzte ein Kettenhemd auf, was über einem Lederharnisch gezogen war. Der Hühne mit rotem Haar trug eine Streitaxt bei sich, die von solcher Größe war, das er sie mit beiden Händen hielt. Das alles sah Jupent durch das Mondlicht, das durchs Fenster drang.
Neben ihm schrie seine Frau Kenla. Jupent hörte sie kaum. Adrenalin durchfuhr seinen Körper. Er sprang aus dem Bett und wollte die Klinge seines Dolchs im Bauch des Eindringlings versenken, doch dazu kam es nicht. Der Hühne holte mit der Axt aus, und ließ sie auf Jupent herabstürzen. Sie spaltete ihm den Schädel entzwei. Das Blut floss in Fanfaren und beschmutzte den Boden. Seine Frau schrie, wie von Sinnen. Augenblicke später ereilte sie das gleiche Schicksal. Weitere Männer kamen in das Zimmer. Gemeinsam durchwühlten sie die Sachen. Kleidung wurde durch die Gegend geschmissen; die Diebe interessierten sich nur für den Schmuck und die Goldmünzen. Zwei der drei Jungen starben ebenfalls in dieser Nacht. Der Dritte war vom Glück gesegnet. Er hatte sich unter dem Bett versteckt, in dem die Brüder gemeinsam schliefen. Er musste mit anhören, wie seine älteren Geschwister erschlagen wurden. Er hörte ihre Schreie und das Treffen von Metall und Knochen. Trotzdem schaffte er es, keinen Laut von sich zugeben. Was er weniger seiner Vernunft, als vielmehr der Lähmung zu verdanken hatte, die von seinem ganzen Körper Besitz ergriff. Der Junge trug den Namen Garin und war gerade einmal vier Jahre alt, als er miterleben musste, wie seine ganze Familie innerhalb kürzester Zeit abgeschlachtet wurde. Er lag noch unter dem Bett, als die Männer das Haus längst verlassen hatten. Alles Wertvolle hatten sie mitgenommen.
Die meisten der Dorfbewohner wurden im Schlaf überrascht, oder beim Liebesspiel, und waren völlig wehrlos. Sie standen in Morgenröcken und barfuß ihren Angreifern gegenüber, die leichtes Spiel hatten. Ihr Werk glich einer Schlachtung. Sie machten weder vor Frauen, noch vor Kindern halt. Blut floss eimerweise, so dass man einen See damit hätte füllen können. Manche aus dem hinteren Teil des Dorfs (dort, wo einst Anteron gewohnt hatte) hatten die Todesschreie der anderen gehört und waren aus ihren Häusern gelaufen. Als sie sahen, wie Reiter in Mehrin eindrangen und ihrem Drang zu Zerstören freien Lauf ließen, flüchteten sie über die Felder.
Frauen kreischten und Kinder weinten. Das Entsetzen zog über Mehrin und ihm entkam nichts und niemand. Wie ein kalter Schleier senkte sich der Tod über das kleine Dorf, das bis zu dieser Nacht von größerem Unglück verschont geblieben war.
5
Thiatra schreckte hoch. Sie befand sich neben Homin auf einem Heuhaufen. Bis vor wenigen Augenblicken hatten sie sich noch geliebt und sie hatte den Abend als einen der schönsten ihres Lebens im Gedächtnis. Als sie die Schreie hörte, war diese Erkenntnis wie ausgelöscht. Sie saß aufrecht und ihre Lippen zitterten, als sie sprach.
"Schreie", sagte sie. "Da kommen Leute und sie schreien."
Doch Homin hatte es bereits gehört. Er sprang auf und zog sich seine Hose, aus Leder gefertigt, an.
"Schnell!" Er reichte ihr ihre Kleider. Zuerst machte sie keine Anstallten sich zu rühren, erst als sie in Homins Augen blickte, löste sich ihre Starre. Sie hatte entsetzliche Furcht. Die Schreie wurden lauter, und die Menschen, die sie ausstießen, kamen näher. Sie rannten auf die Scheune zu, wahrscheinlich um Unterschlupf zu finden. Etwas Schreckliches war im Gange, diese Gewissheit erschlug Thiatra plötzlich.
Sie nahm Homin die Sachen aus der Hand und bedeckte ihre Blöße.
"Was sollen wir tun?", fragte der Junge. Sie hatte ihn noch nie so erlebt. Bis dato kannte sie ihn nur, als selbstbewussten und zuversichtlichen Menschen. Er war es gewesen, der immer Rat wusste, und der ein Lächeln zu Stande brachte, wenn die Situation zum Heulen war. Es erschreckte sie fast so sehr, wie die Schreie, die durch die Nacht hallten.
"Am Besten, wir verstecken uns, bis wir wissen, was das zu bedeuten hat", sagte sie und Homin nickte. Nachdem sie vollständig angezogen waren, löschte Thiatra die Kerze und wühlte das Heu auf, so dass man die Spuren ihrer Liebe nicht mehr darin erkennen konnte.
Die Scheune war ein großes Gebäude und es gab viele Verstecke. Doch am geeignetsten schien der Heuboden zu sein. Sie stiegen die Leiter, die viel zu viel Jahre auf dem Buckel hatte, hinauf und sahen sich in der Finsternis um. Hinter Holzkisten, die der Bauer in einer Ecke unter dem Dachfürsten aufgestapelt hatte, glaubten sie das ideale Versteck gefunden zu haben.
Sie verkrochen sich dahinter und lauschten den näherkommenden Menschen. Durch einen Ritz hatte Thiatra das Tor der Scheune im Blick. Sie verharrten erst wenige Augenblicke, als das Tor aufgestoßen wurde. Sie konnten die Gestalt eine Frau eintreten sehen. Verwirrt sah sie sich um. Ihr folgten weitere Menschen. Frauen mit ihren Kindern, alte Leute, wie auch Männer im besten Alter. Alles in allem waren es vielleicht Zwanzig, die sich in der Scheune versammelten. Sie sprachen nicht; die meisten von ihnen irrten aufgeregt umher, als wären sie auf der Suche nach irgendetwas. Panik trieb sie an.
Kinder weinten auf dem Arm ihrer Mütter; es war ein schrecklicher Anblick. Hatte Thiatra vor einer Stunde noch befürchtet, dass ihr Vater sie entdecken könnte, war ihr diese Angst nun abhanden gekommen, und war schlimmeren gewichen. Es war sinnlos sich hinter Holzkisten zu verstecken, die von dicken Spinnweben bedeckt waren. Den Menschen in der Scheune würde es egal sein, dass Thiatra mit Homin den Abend hier verbracht hatte.
"Lass uns runtersteigen!", flüsterte sie dem Jungen an ihrer Seite zu. Er beobachtete das Geschehen unter ihnen mit Faszination.
"Was meinst du?" Er sah sie erschrocken an. "Wir können nicht runter, sie würden wissen, was..."
Thiatra unterbrach ihn scharf: "Es ist egal, was sie wissen, oder sich zusammenreimen werden. Irgendwas Schreckliches ist passiert, und sie werden andere Sorgen haben! Schau sie dir doch an! Panik steht in ihren Gesichtern. Und wir müssen rausfinden, warum sie dort steht. Ich habe Angst, Homin!"
"Ja, ich auch. Also gut!" Er kam hinter seinem Versteck hervor und stieg auf die obersten Sprossen der Leiter, die unter dem neuerlichen Gewicht, das sie nun zu tragen hatten, stöhnte.
Thiatra folgte ihm. "Sei vorsichtig!", flüsterte sie ihm zu.
Die Dorfbewohner, die sich immer noch wie eine wildgewordene Kuhherde in alle Richtungen bewegten, sahen Homin. Manche deuteten mit dem Finger auf ihn, Frauen wichen von der Leiter weg.
"Wer ist da?", rief ein Mann mit krächzender Stimme. Homin erkannte sie, als die von Guhlim, einem Feldarbeiter. Guhlim stand in der Herrachie über Homin, und teilte ihm Befehle aus. Er hatte darüber zu entscheiden, wann Homin seine Arbeit beenden konnte, oder wann er noch länger bleiben musste, weil er seine Arbeit nicht sorgfälltig erledigt hatte. Er war ein sadistischer alter Mann, ohne Familie, oder Freunde. Homin hatte oft darüber nachgedacht, dass dies der Grund für Guhlims Verbitterung sein musste. Er hatte Mitleid mit dem Alten gehabt, der zweifellos in Einsamkeit sterben würde, aber nur an manchen Tagen. An den anderen hatte er Guhlim die Pest, mit einem anschließenden langanhaltenden Todeskampf, gewünscht.
"Schmeißt die Leiter um!", schrie ein weiterer Mann, noch bevor Homin antworten konnte. Der Satz ging ihm durch alle Glieder und für einen Moment blieb er einfach auf der dritten Sprosse stehen, und beobachtete, wie sich zwei Männer der Leiter näherten.
"Nein! Wir sind es!" Die Männer stoppten. "Thiatra, Tochter des Thuniel, und Homin!"
Hätte Thiatra nicht geschrieen, so dachte Homin, hätten die beiden Männer die Leiter umgestoßen, und er hätte sich jeden einzelnen Knochen in seinem Körper gebrochen.
Homin nahm legte die restlichen Sprossen wie im Fluge zurück. Thiatra war vorsichtig und folgte ihm langsam.
Als Homin wieder festen Boden unter seinen Füßen spürte war er erleichtert, dass er heil hinuntergekommen war. Vor sich sah er nun eine verängstigte Menge.
"Was ist geschehen?", fragte er.
"Das Dorf wird überfallen!", schrie eine Frau, aus dem Hintergrund. "Barbaren mit Beilen und Schwerten... alles schlachten sie ab."
Thiatra blieb auf der Mitte der Leiter stehen. Ihr Mund stand offen. Die Gesichter ihrer Mutter und ihres Vaters gingen ihr immer wieder durch den Kopf.
6
In Mehrin brannten derweil die ersten Häuser. Die Räuber hatten sie mit Fackeln entzündet und der aufgekommene Wind tat das Seinige dazu, um das Feuer zu verbreiten. Gemeuchelte Menschen lagen auf den Straßen in der Lache ihres eigenen Blutes. Manche von ihnen röchelten noch, und kämpften gegen ihre Schmerzen an. Ihre Mörder hatten keine Ehre gezeigt, und ihnen nicht den Todesstreich verpasst, sondern sie qualvoll an ihren Verletzungen dahinraffen lassen. Unter ihnen befanden sich auch Kinder. Kleinkinder hatte man aus den Armen ihrer Mütter entrissen und vor ihren Augen die kleinen Kehlen durchgeschnitten. Es gab nicht viele Männer, die sich in dieser Nacht, mit Waffen gegen ihre Peiniger stellten. Die, die den Überfall zeitig mitbekommen hatten, waren samt Familie geflohen. Meist zu den Feldern hin, aber es gab auch welche, die versuchten zum Wald zu gelangen. Der Wald war die sicherste Möglichkeit sich zu verstecken, doch der Weg dorthin war lang und es war freies, ebenes Gelände, auf dem man lief.
Diejenigen, die dieses Wagnis auf sich nahmen, waren des sicheren Todes. Vier Reiter ritten ihnen nach und hatten sie schon bald eingeholt. Ihre Waffen glänzten matt im schwachen Mondlicht, als sie auf die Flüchtenden niederfuhren und sie zu Fall brachten.
Die Gegenstände, die man als wertvoll angesehen hatte, wurden in großen Säcken verstaut, die die Reiter zu einem großen Haufen, auf dem Dorfplatz vor dem Gebetshaus, anwachsen ließen. Ihre Beute fiel nicht groß aus - die Menschen lebten bescheiden in diesem Teil des Reiches - doch es würde genügen, um die Truppe für einige Wochen zu versorgen.
Aus Mehrin blieb nicht mehr, als eine verwüstete Ruine zurück. Die Dorfbewohner, die nicht den Weg über die Felder gewählt hatten, hatten den Tod gefunden. Einen äußerst barbarischen noch dazu. Ihre Heime waren geplündert und zum Teil abgebrannt.
Die Erde hatte die Farbe des Blutes angenommen. Von dem Reitertrupp war kein einziger getötet worden. Kein Schwerthieb hatte einen von ihnen getroffen, und auch kein Pfeil, von einem Bogen abgeschossen. Lediglich kleinere Schnittverletzungen trugen manche von ihnen davon, die ihnen Holzsplitter, oder Glasscheiben beigefügt hatten.
Rhodurin, ihr Anführer, zupfte sich an seinem roten Vollbart, als seine Bande sich am Dorfplatz versammelt hatte. Sie standen im Halbkreis um ihre Beute. Es herrschte toten Stille. Nur das Knistern des Feuers war zu hören, und abgebrannte Holzbalken, die in Häusern zusammenkrachten. Alle warteten darauf, dass er etwas sagte. Sie erwarteten, dass er den Befehl gab, das Dorf zu verlassen und, mitsamt den Säcken voller Wertsachen, zu ihrer Unterkunft ritten. Ihre Unterkunft, das bedeute das Höhlensystem am Fuße des Berges Darun, einem niedrigen Berg im westlichen Nirith-Gebirge. Doch Rhodurin hatte einen anderen Plan, der sie noch mehr verzücken sollte, als die Aussicht auf ein warmes Bett und ein saftiges Stück gebratenes Fleisch.
"Hört her!", rief er seinen Männern zu. Seine Stimme war gewaltig und war im Stande, selbst den härtesten Mann erzittern zu lassen.
"Ihr habt alle gesehen, wie diese Ratten auf die Felder geflüchtet sind!" Er deutete am Gebetshaus vorbei gen Osten. Ein zustimmendes Gemurmel entwich aus den Reihen seiner Anhänger.
"Wir werden ihnen nach Osten folgen, und ihre Frauen rauben! Was haltet ihr davon?"
Er grinste verspitzt. Jubelschreie und Gelächter bekam er als Antwort.
Und schon ritten sie weiter, am Gebetshaus und weiteren Wohnhäusern vorbei. Der Boden erbebte unter ihnen. Eine Scheune kam in Sicht.
Sie kamen auch an Anterons kleinem Heim vorbei, machten aber keine Anstalten dort einzudringen. Es sah aus, wie das Haus eines einfachen Mannes, wo sie sowieso nicht viel vorfinden würden. Und die paar Goldmünzen mochten halt bei ihrem Besitzer bleiben, wenn er denn noch am Leben war. Die Beute, die sie gemacht hatten, war befriedigend.
In einem Akt sinnloser Zerstörungs-Wut warf einer der Hinteren eine brennende Fackel aufs Dach, welches sofort in Flammen aufging. Anteron würde es nie in Erfahrung bringen.
Die Gesichter der Räuber hatten sich währenddessen erhellt. Indem sie ihrer Wut freien Lauf ließen, wurde jede Zurückhaltung aus ihren Körpern gespült und sie taten, was ihnen in den Sinn kam. Rhodurin und die drei, die ihm am nahesten standen, legten Wert auf Disziplin und das Einhalten strenger, von ihnen selbst aufgestellter, Regeln, doch taten sie dies nicht, wenn sie auf einem Raubzug waren. Selbst bei den etlichen Saufgelagen, die sie in ihrem Versteck veranstalteten ging es gesittet zu. Alle waren darauf bedacht, nicht aus der Reihe zu fallen; Rhodurin war ein harter und ungnädiger Mann, der jedes Vergehen streng bestrafen ließ.
Die Pferde trampelten über die Felder, die mit Matsch aus halbgeschmolzenen Schnee, überzogen waren. Das große Gebäude, neben dem Siloturm war das Ziel ihrer Herren.
Sollten sich einige von diesen Schweinen wirklich in der Scheune versteckt haben, mit der Hoffnung man würde sie verschonen und sich nicht die Mühe machen, ihnen zu folgen, war diese Torheit die letzte in ihrem Leben, dachte Rhodurin eisig.
7
Voldin schaffte es nicht bis zum Dorf. Es war nach der Hälfte seines Weges geschehen. Er war über eine Wurzel gestolpert und der Länge nach hingefallen, wobei er mit dem Kopf auf einen Stein schlug. Für einen Moment war im schwarz vor Augen und sein Bewusstsein verließ ihn.
Als er die Augen wieder öffnete, wusste er nicht, wieviel Zeit verstrichen war. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Er fühlte sich, als hätte er einen erholsamen Schlaf hinter sich, der den halben Tag lang angedauert hatte.
Doch es war noch dunkel. Er hatte also nicht lange so dagelegen. Er wusste sofort, dass er sich im Wald befand, als er aufgewacht war, doch hatte er keine Ahnung, warum es ihm so wichtig war, schnell nach Mehrin zu gelangen.
Schmerzen schrieen von seinem linken Bein auf. Er richtete seinen Oberkörper auf, wobei er seinen Rücken an den Stein lehnte, und versuchte, das Bein zu bewegen. Es gelang ihm nicht.
Er beschwor nur neue Schmerzen herauf. Auf seinem Gesicht stand Schweiß. Er wischte sich mit dem Arm darüber. Seine Augen sahen etwas anderes als Schweiß. Eine dunkle Flüssigkeit - Blut!
Panisch tastete er seinen Kopf ab, und fand die Wunde schließliche oberhalb der Schlefe.
Zwei Finger breit weiter unten und ich wäre jetzt tot, schoss es ihm durch den Kopf. Doch er hatte Glück gehabt (später sollte er zu der Erkenntnis kommen, dass es sich keinesfalls um Glück handelte. Glück wäre gewesen, wenn er einen kurzen Schmerz verspürt hätte und daraufhin sofort gestorben wäre).
Sein Bein, sein verdammtes Bein...
Er musste versuchen aufzustehen. Es war Nacht und er befand sich mitten im Wald, im dichten Unterholz. Es würde lange dauern, bis man ihn finden...
Was war, wenn man ihn nicht fand? Was war, wenn er tagelang hier liegen bleiben musste? Er würde natürlich verhungern. Nein, verbesserte er sich. Zuerst starb man am Durst.
Er zog sich mit seinen Armen vorwärts. Es funktionierte. Unter starken Schmerzen schaffte er es, sich vorzuarbeiten. Er robbte so durchs Unterholz. Alle Vernunft klammerte er aus seinem Kopf aus, sondern dachte nur ans Vorrankommen. Er war ein Wahnsinniger, dem es egal war, wie sinnlos sein Unterfangen war.
8
Rhodurin stand mit seinem mächtigen Hengst vor dem Scheunentor. Hinter ihm stiegen seine Leute von ihren Pferden. Sie konnten sie unangeleint dort stehen lassen - sie würden nicht weglaufen. Sie waren erzogen worden, von ihren Reitern. Selbst vor Feuer schreckten sie nicht zurück, und auch das Geschrei des Kampfes machte ihnen nichts aus.
Rhodurin stieg erst ab, als sein Pferd wenige Schritte vor dem Tor war. Seine Stiefel landeten in einer Fütze, die sich aus geschmolzenen Schnee gebildet hatte. Er spürte Nässe, die seine Strümpfe vollsog. In seiner Hand trug er eine Streitaxt. Sie war seine bevorzugte Waffe, und wann immer es ging, wählte er sie aus, wenn er Blut vergießen musste.
Rhodurin schlug damit gegen das Holz. Nicht so stark, dass es barst, mehr war es ein Anklopfen.
Oder die Ankündigung eines nahenden Todes.
Dann drehte er sich zu seinen Leuten um, und begann aus voller Kehle zu lachen. Der Rest der Truppe stimmte mit ein.
Rhodurin stieß das Tor auf und blickte in entsetzte Gesichter. Er trat ein und gab seinen Leuten ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten.
Das Innere der Scheune war dunkel, erst als Krieger mit Fackeln in den Händen eintraten, wurden die Menschen, die sich dort aufhielten, gänzlich sichtbar.
Männer standen in zwei Reihen schützend vor ihren Frauen und ihren Kindern. Sie hatten sich bewaffnet; es waren Schaufeln, Sensen und Heugabeln, die sie in ihren zitternden Händen hielten, und den Angreifern entgegenstreckten. Es waren Bauern (unter ihnen viele Alte), die sich gegen eine ganze Armee stellten.
"Tötet sie!", befahl Rhodurin, worauf seine Männer nach vorne stürmten. Die Verteidiger wichen wenige Schritte zurück. Frauen und Kinder schriehen und flehten irgendetwas, was Rhodurin nicht richtig verstand. Aber wahrscheinlich waren es nur die Worte, die sie immer zu hören bekamen, wenn sie dabei waren zu töten.
Einer der Bauern trat aus der Reihe hervor. Mit einer Mistgabel attakierte er einen, der Schwarzbekleideten. Dieser wehrte den Angriff mit seinem Schild ab, und schwang sein Beil. Es erwischte den jungen Mann, der kaum die Reife von zwanzig Wintern überschritten hatte, und fügte ihm eine Wunde an seinem rechten Arm zu. Er schrie vor Schmerz und Überraschung.
Als er seine provisorische Waffe fallen ließ, wurde er mit einem weiteren Hieb niedergestreckt. Eine Wunde klaffte quer über seiner Brust, als er sich im Todeskampf auf dem staubigen Boden wandt. Das riss die anderen Beteiligten aus ihrer Starre. Die Dorfbewohner griffen an.
Sie rannten in die Spitzen von Speeren und in die Klingen von Zweihänder-Schwerten.
Die Dorfbewohner wurden eingekreist und von allen Seiten schlug man auf sie ein. Köpfe wurden gespalten und Gliedmaßen abgetrennt; das Heu, das vereinzelt auf den Bodenbrettern verstreut lag, färbte sich rot. Mütter mussten mitansehen, wie ihre Ehemänner, Väter oder Söhne abgeschlachtet wurden. Manche konnten diesen Anblick nicht ertragen, und versuchten die Männer zu retten, indem sie verzweifelt und mit blosen Fäusten auf die Barbaren einschlugen.
Sie starben, ohne dass sie etwas ausgerichtet hätten.
Nachdem alle Männer des Dorfes, die Zuflucht in der Scheune des Bauern Koneras gesucht hatten, entweder erschlagen oder abgestochen waren, ließ Rhodurin die Frauen von den Kindern trennen. Vor den Augen ihrer Mütter wurden den Jungen und Mädchen die Kehle durchschnitten. Rhodurin tat es selbst, mit dem Messer, dass er bei seinem ersten Raub benutzt hatte, und das er seitdem immer mit sich führte. Die Klinge war stumpf und an vielen Stellen hatte der Rost bereits angesetzt.
Die Schnitte waren unsauber und wirkten wie die eines Stallburschen, der zum ersten Mal ein Messer führt. Das machte das Sterben der Kinder nur noch grausamer und vor allem länger. Am Boden wandten sie sich, ihre kleinen Hände griffen an ihre Hälse, durch die vore wenigen Jahren noch Muttermilch geflossen war. Ihre Augen standen ihnen aus den Höhlen und die Äderchen platzten wegen des großen Drucks. Zum Schreien waren sie nicht mehr fähig. Selbst Säuglinge waren unter ihnen. Das Schicksal spielte ihnen allerdings gnädiger mit. Sie starben, als man sie zu Boden fallen ließ. Die Mütter verloren ihren Verstand und ihre einzige Hoffnung war, dass man auch ihrem Dasein ein baldiges Ende machen würde.
9
Noch bevor er einen Blick auf das Dorf erhaschen konnte, hörte Voldin die Schreie seiner Brüder und Schwestern. Hatte er je Zweifel über die Absichten der Reiter gehabt, so waren sie jetzt entgültig verstummt. Das Herz wurde ihm schwer. Die Trauer fiel so plötzlich über ihn herein, dass sie selbst den Schmerz und den Wahnsinn verdrängte.
Mit leerem Kopf und nur mit dem Gefühl seines verletzten Beins, hatte er sich vorran geroppt. Er hatte fast Unmögliches geschafft. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass er eine solch weite Strecke nur kriechend zurücklegen konnte. Und jetzt... mit der Trauer war das Ende seiner Reise eingeleitet. Resignation machte sich in seinem ausgelaugten Körper breit, und hinderte ihn daran die Kraft aufzubringen, die es brauchte, um auch das letzte Stück zu überwinden. Er war so nahe dran, doch jetzt fragte er sich, wozu. Was solte es bringen, wenn er noch weitere Qualen auf sich nahm? Seine Frau und seine Kinder waren verloren, würden im Sterben liegen oder waren bereits tot. Die Habseeligkeiten würden nicht mehr da sein. Auch wenn er (was ihm immer unwahrscheinlicher erschien) es schaffen würde, aus dem Wald rauszukommen, Mehrin würde er gewiss nicht mehr erreichen. Und wer sollte ihm vor dem Wald finden, wenn nicht die Räuber, die nach ihrem Beutezug, den Rückweg antraten? Vielleicht war in Mehrin keiner mehr am Leben, der Voldin hätte finden können? Und wenn man ihn doch fand, könnte es zu spät sein. Er wusste, dass er nicht länger als zwei Tage würde überleben können. Er konnte es nirgendwo dran festmachen, doch er wusste es.
Der Gedanke, dass eines seiner Kinder oder seine Frau überlebt haben könnte, dass sie die Angreifer früh genug bemerkt hatten und geflohen waren, kam ihm nicht. Er spürte das sie tot waren.
Jeder sorgende Vater und Ehemann tut das, dachte er und die erste Träne tropfte auf eine dicke Wurzel, die unter ihm verlief. Er legte sich zurück. Die Wurzel schmerzte an seinem Rücken, doch dieser Schmerz war weitaus schwächer als der in seinem Bein, und nichts im Vergleich zu dem Schmerz, der seine Seele für sich beanspruchte. Er breitete seine Arme aus und die erschöpften Lider fielen ihm zu. Sein Geist schwebte langsam davon und bald war er in einem Zustand zwischen Traum und Wachheit. Koner gehörten seine letzten Gedanken, bevor sein erschöpftes Herz aufhörte zu schlagen und seinen Qualen ein Ende setzte. Nie hatte er daran gedacht, dass er mit Trauer sterben würde; das Leben hatte ihm gut mitgespielt: Er hatte Kinder, auf die er stolz war, und eine wunderbare Frau, die Trotz ihres Alters nichts von ihrer Schöhntheit eingebüßt hatte. Zudem plagten ihn keine Geldsorgen, und auch im Glauben war er ein gefestigter Mann gewesen.
Doch es war anders gekommen.
10
Manche der Reiter waren zurück durch Mehrin geritten, um im Wald einen Baum zu schlagen. Äxte dafür hatten sie im Dorf gefunden. Es dauerte nicht lange und man hatte den passenden Baumstamm ausfindig gemacht. Den Männern war es ein Leichtes ihn zu Fall zu bringen. Mit Tauen (die hatte man in der Scheune entdeckt und als geeignet betrachtet), die um die Sattel festgebunden waren, schleifte man den Stamm, der doppelt so breit wie ein Mann war, auf die Felder vor der Scheune.
Dorthin hatte man zuvor die Frauen gebracht, um sie zu vergewaltigen. Rhodurin persönlich hatte die Frauen sortiert; erschienen sie ihm zu alt und zu hässlich, so machte man ihrem Leben ein schnelles Ende. Den Rest hatten seine Männer mitgetrieben. Kraftlos und unter Schreien hatten sie sich ihren Peinigern hingegeben, die nicht davor zurückschreckten, auch die Jüngsten zu benutzen. Thiatra befand sich unter ihnen. Sie wehrte sich nicht, als sie zu Boden gedrückt wurde und Männer auf sie stiegen. Sie ließ es über sich ergehen. Es war, als wäre jedes Gefühl aus ihrem Körper entwichen. Was sie in dieser Nacht erlebt hatte, so dachte sie, während einer der Barbaren seinen Samen in sie spritzte, war wohl genug, um den tapfersten Krieger den Verstand zu rauben.
Als die Reiter mit dem zurechtgeschlagenen Baumstamm eintrafen, wurden sie von Rhodurin mit einem schallenden Lachen empfangen.
Er breitete seine Arme aus und rief: "Seht, welch prachtvolles Stück Holz meine Kameraden mir mitbringen!"
Die Reiter stiegen von ihren Pferden und lösten die Taue von den Satteln. Jeweils zwei Mann zogen an den beiden Tauen, um den Baumstamm vorwärts zu bekommen. Die Frauen, aber auch Rhodurins Mannen, starrten gebannt. Sie fragten sich, wozu dieses Schauspiel veranstalltet wurde.
Thiatra dagegen wusste, dass es sich nur um eine weitere Grausamkeit handeln konnte, die sich ein kranker Geist erdacht hatte.
Durch Sägen, die man schnell herbeigebracht hatte, wurde der mächtige Stamm in vier kleinere durchteilt. Es kostete den Männern Mühe, doch ihnen war anzusehen, dass sie ihr Werk vollenden wollten, was es auch kosten wollte. Sie wolten es sich nicht erlauben, vor ihren Kameraden Schwäche zu zeigen.
Rhodurin schickte weitere seiner Mannen in den Wald. Sie berachten kleinere Äste mit, die sie zu Bündeln auf den Rücken ihrer Pferde transportierten. Nun war allen Anwesenden bewusst, was sie zu erwarten hatten: Scheiterhaufen würden ihr Schicksal darstellen.
Die vier Pfäle wurden mit Äxten an den Enden angespitzt, und man hob Löcher aus, im gleichmäßigen Abständen zu einander. Dort setzten die Barbaren die Pfäle ein und bedeckten die Löcher wieder mit Erde. Man schlug sie so weit in den Boden, dass man sich sicher war, sie würden nicht umfallen. Es dauerte mehrere Stunden, bis die vier Scheiterhaufen standen, und bereit waren ihre Opfer aufzunehmen.
Rhodurin wählte sie aus. Es waren vier der verschiedenstens Frauen: Hernt Salvig, die über fünfzig war und trotzdem die Schönheit ihrer Jugend bewart hatte, Tuna, eine Anwärterin auf den Priester-Titel, für die diese Nacht besonders schändlich war, da ihr das Körperliche streng untersagt war, Fidelin, die erst den achten Frühling erleben sollte, und Thiathra, die Tochter des Schmieds Thuniel.
Die anderen Frauen waren dazu verdammt, ihr Schicksal mitansehen zu müssen. Rhodurin sagte ihnen, wenn sie es schafften, es zu tun, ohne auch nur ein einziges Mal die Augen abzuwenden, würde man ihnen einen schnellen Tod mit dem Messer gestatten. Sollten sie willensschwach sein, stände ihnen Folter bis zum Morgengrauen und ein anschließender Tod bevor.
Thiatra ließ sich wehrlos an den Pfal führen. Ein Mann riss ihre Arme nach hinten und sie stieß einen spitzen Schrei aus. Doch ansonsten blieb sie ruhig; sie hatte sich längst mit ihrem Schicksal abgefunden.
Auch die anderen Frauen leisteten keinen Versuch der Gegenwehr. Nur das kleine Mädchen zappelte und schrie mit kratziger Stimme. Als ein Mann sie hochheben wollte, trat sie ihm in den Unterleib. Er stürzte zu Boden und wandt sich dort, die Hände an seinen Genitalien.
Das löste Gelächter bei seinen Kameraden aus.
Das Mädchen wollte gerade davonrennen, als ein fetter Kerl mit einem widerlichen Gesicht, in dem Warzen wie Pilze sprossen, sie an den Haaren packte und zu sich hoch riss. Er klammerte das Mädchen an seinen Körper und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Der Kopf des Mädchens flog zur Seite und Tränen rannen aus ihren Augen. Sie weinte, als der Mann sie zum Scheiterhaufen trug. Er holte eine Kordel aus seiner Hosentasche und band die Hände des kleinen Geschöpfes hinter dem Pfal, an dem sie sterben würde, zusammen.
Das tat man auch mit den drei anderen Frauen.
11
Die Flammen züngelten hoch gen Himmel, angefacht von einem aufkommenden rohen Wind. Das Rot des Feuers brannte in der tiefschwarzen Nacht. Und vier Seelen verloren ihr Leben.
Schreie des Schmerzes und des Klagens durchschnitten die Stille, und für ewig würden sie an dem Ort zu hören sein, an dem einst das Dorf Mehrin gestanden hatte, in dem seine Einwohner in Eintracht gelebt hatten.
Thiatra wandt sich an dem Pfal, während das Feuer zuerst ihre Kleidung, und dann ihre Haut ansenkte. Der beißende Rauch verschonte sie davor, in die lachenden Gesichter ihrer Peiniger zu sehen. Sie dachte an Homin, an die körperliche Liebe, die sie wenige Stunden zuvor vollzogen hatte, und sie dachte an ihre Familie: An ihre liebe Mutter, die sich ihr ganzes Leben um sie gesorgt hatte, um ihren Vater, der nur das Beste für seine kleine Tochter gewollt hatte, an ihre Geschwister, die sie über alles liebte.