Mehr als alles andere auf der Welt
"The old home town looks the same,
As I step down from the train..."
Der Lieutenant drehte die Anlage des GMC-Trucks auf volle Lautstärke.
"And there to meet me is my mama and my papa
Down the road I look and there runs Mary
Hair of gold and lips like cherry
It´s good to touch the green, green grass of home..."
"Dass Sie diese Kassette immer mitschleppen, Lieutenant..." - "Erinnert mich an meine Freundin, Sarge." - "Hat sie es geschafft?" - "Ja, sie wohnt noch in Uptown." - "Uptown? Da lebt noch jemand? Meine Familie ist da vor anderthalb Jahren draufgegangen. Bei ´ner Plünderung, nach der grossen Trockenheit... Ein paar Wichser haben bei uns nach Lebensmitteln gesucht. Wir hatten nichts."
Der Lieutenant schwieg. Was sollte er sagen? Tut mir leid, Sarge, dass ihre Frau und ihre sechs Kinder aufgeschlitzt und dann bis auf die Knochen abgenagt worden waren? Ich leide mit ihnen? Scheiße. Pam würde es auch erwischen, soviel war sicher. Am Ende wird es alle erwischen. "Halten Sie dort an, Sarge. Zwischen den Autowracks."
***
"Absitzen! Alle runter von der Ladefläche! Alles absichern! Demeleunaere, achten Sie auf die Gruppe Penner da drüben. Sie sind mit der Leiche da beschäftigt, aber man weiss ja nie. Wenn die aufmucken, putzen Sie sie weg." - "Mit Vergnügen, Sir!" Die Soldatin lachte. "Und sollte hier noch ein Fahrzeug vorbeifahren: Sofort anhalten!" - "Sir, wir haben seit Wochen kein Fahrzeug mehr... und wo sollten sie auch Sprit... Jawohl, Sir!"
Die Tankstelle war vor einem Jahr aufgebrochen und geplündert worden. Das war, als es für die Bevölkerung kein Benzin mehr gab. Der Lieutenant setzte sich auf den Drehstuhl des Kassierers. Sein neuer improvisierter Gefechtsstand. Na immerhin gab es ein Radio mit Kassettendeck. Kassetten halten mehr aus als CDs. Und ob das Telefon funktionierte? Im Hörer tutete es. Dann klickte es. "Hallo?" Eine Stimme, so klar und rein wie ein Gebirgsbach. "Pam, ich bin es. Wir sind in der Stadt." - "Du hast es also geschafft. Ich beglückwünsche mich jeden Tag dafür, dass ich Dich gewählt habe. Brian, es ist so heiss, dass ich es nur in der Badewanne aushalte. Du Tapferer, Du, kommst Du mich besuchen?"
***
"The old house is still standing
Though the paint is cracked and dry
And there is that old oak tree I used to play on..."
Die Tür schlug zu. "Brian, die Gegend ist gesichert. Der Sarge ist draussen." - "Corporal Hoffmann, ich danke Ihnen. Die Männer sollen sich im Schatten abwechseln." - "Brian... wer singt denn die Schnulze? Das ist ja noch unerträglicher als die Hitze draussen", ihr Finger klickte auf Stop. Sie war rothaarig und sah geil aus. "Schau mal, was ich gefunden habe", Hoffmann nahm einen Schluck aus einer Whiskeyflasche. "Ist heil geblieben, keine Ahnung warum. Willst... Wollen Sie auch?" Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: "Ich würde unheimlich gerne nochmal ficken." - "Hoffmann... Ashley, ruh Dich aus, okay?"
Sie hatte ihre Isomatte neben seine gelegt. In T-Shirt und Tarnhose versuchte er trotz der extremen Hitze irgendwie zu schlafen. Hoffmann flüsterte: "Wie konnte das passieren, Brian... Lieutenant?" - "Ashley, sie nennen es den Super-Treibhauseffekt. Die Klimaveränderung war das Eine. Aber als sie so schnell eintrat, dass dieser Prozess sich selbst verstärkte, konnten sie ihn nicht mehr stoppen. 95% der Erde sind eine lebensfeindliche Wüste, und die Temperatur steigt und steigt." Brian hörte sie wieder trinken. "Ashley, in Zukunft wird es auf der Erde noch soviel Leben geben wie in einem Krematorium." - Sie sagte lange nichts und dann: "Sie sind der Intellektuelle."
***
"Tiger drei, kommen. Hier ist Bunker Delta", das war der Code der Militärbasis nördlich von Baltimore. "Hier Tiger drei." - "Lieutenant, hier ist Colonel Broeker. Sie haben in den letzten drei Jahren gute Arbeit geleistet." Als die Infrastruktur zusammenbrach, hatte sein Zug Lebensmittel verteilt. Als keine Lebensmittel mehr da waren, hatten sie Unruhen zusammengeschossen. Danach hatten sie irgendwie versucht zu überleben und ihm völlig sinnlos erscheinende Transportaufträge ausgeführt. "Als letztes werden Sie daher zu uns nach Bunker Delta verlegen."
"Warum, Sir?" - "Unsere Wissenschaftler haben eine 15%ige Wahrscheinlichkeit dafür errechnet, dass sich das Klima im Laufe einiger Jahrhunderte wieder erholen wird. Eine ausgewählte Gruppe von Zivilisten und Soldaten wird sich nach Bunker Delta begeben. Dazu wird Ihre Einheit gehören. Ein großes Privileg, Lieutenant. Wir werden dort nach Plan Kinder zeugen, und unsere Nachkommen werden den Wiederaufstieg der Menschheit einläuten. Stellen Sie sich das vor! Ist das nicht grossartig?" - "Jawohl, Sir." - "Gut, Lieutenant. Wir sehen uns um 0200 Zulu in Bunker Delta", krächzte das Funkgerät. Das war in acht Stunden. Zu schaffen. "Sir, meine Freundin ist in Uptown." Atmen. "Negativ, Lieutenant. Sie steht nicht auf der Liste der Zivilisten." - "Sir!" - "Es tut mir leid, Lieutenant. Wenn Sie eine Frau wollen, suchen Sie sich aus dem Bunkerpersonal eine aus. Es geht hier um das Überleben der gesamten Menschheit, mein Sohn! Wir sind im Krieg, und im Krieg ist mit Verlusten zu rechnen."
***
"H... hättn Se n´Schluck W...wasser für uns... sind am Verdursten..." - "Verpiss Dich, Leichenfresser, oder ich knall´ Dich ab!" Private First Class Demeleunaere schoss ein paarmal in die Luft, und der Penner verzog sich. Das Mädchen hatte Spass an ihrer Arbeit. Mittlerweile waren auf der anderen Strassenseite mehr Penner aufgezogen. "Das gefällt mir nicht, Lieutenant. Unser Truck ist voll mit Wasser, Lebensmitteln und Medikamenten. Alles, was diese Wichser wollen. Wir sollten aufbrechen."
Der Lieutenant betrachtete einen grünen, eiförmigen Gegenstand in seiner Hand. Dann steckte er ihn in seine linke Seitentasche. "Sarge, ich muss nach Uptown. Dieses Bike funktioniert noch. Wenn ich bis 2000 Zulu nicht zurück bin, verlegen Sie ohne mich nach Bunker Delta."
"Hören Sie, Sarge, Sie warten nicht länger. Keinen Augenblick!"
***
"Then I´ll awake and look around me
To the cold grey walls that surround me
And then I realize that i was only dreaming..."
"Du hast mir Musik mitgebracht?" - "Mmmh." Er mampfte Toast mit Orangenmarmelade. "Dünn bist Du geworden, mein Spatz. Aber Deine Speisekammer ist voll. Wie hast Du das geschafft? Es wird doch nirgendwo mehr Nahrung produziert." Sie war die einzige Bewohnerin der ganzen Strasse, vielleicht hatte sie irgendwo Vorräte gefunden? "Ach, man schlägt sich so durch. Möchtest Du noch Tee?" Barfuss und im Nachthemd legte sie sich zu ihm. Sie war noch schöner als früher. Er schaute auf die Wanduhr. Fünf Uhr nachmittags, 2100 Zulu. Das war gut.
"Erinnerst Du Dich daran, was wir damals auf dem College gesagt haben? Du wirst mich nicht wieder allein lassen, oder? Das würde ich nicht aushalten, keinen Tag würde ich es noch ohne Dich aushalten" sie schluchzte und Brian spürte ihre Tränen auf seiner Brust. Er strich ihr über das Haar. "Wir hatten so viel Angst vor dem Alleinsein, dass wir gesagt haben, bevor im Alter einer von uns stirbt, sterben wir gemeinsam... Nein, ich lasse Dich nicht mehr allein. Ich würde Dich nie im Stich lassen. Ich lasse Dich nie wieder allein." Schweigen, dann: "Aber wir müssen nicht sterben. Wir werden tapfer sein und überleben. Irgendwo wird es Nahrung geben für uns, und Wasser. Lass uns zum Meer fahren, nur Du und ich, würde Dir das gefallen?" Sie legte ihren Kopf auf seine Brust und antwortete nicht.
Sie presste sich an ihn. Ihre babyblauen Augen waren feucht, als sie ihn wieder ansah. "Wird es wehtun?" - "Nein, überhaupt nicht. Baby, ich verspreche es Dir." - "Danke." Als sie sich wieder an ihn schmiegte, griff er in seine linke Seitentasche.
Er drückte sie fester an sich. Dann fand seine rechte Hand den eisernen Ring. Fest presste er die Linke an sich. "Ich liebe Dich, Brian." - "Ich liebe Dich auch, Pam. Ich liebe Dich. Mehr als alles andere auf der Welt."
Dann zog er den Sicherungsstift.