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Mehl im Haar
Drei Betten, zwölf Fenster, vier Stühle um den Tisch. Ein Flur, in dem sich feuchte Mäntel und Dreckschuhe auf Schachbrettfliesen stapelten. Eine Küche, die nie ganz aufgeräumt war, dafür aber nach Brezeln und Bananenbrot roch, wenn man abends heimkam. Eine Mama, die immer Mehl in den Haaren trug, und ein Papa, der fast jedes Buch auf der Welt gelesen hatte.
Das war Pauls Zuhause.
Es stand in einer Siedlung, die so sauber war, dass die Kinder in den Sommerferien in Pyjamas auf dem Asphalt sitzen, und ihre Käsebrote essen durften. In der sich alle über Udo von gegenüber aufregten, der sie samstagmorgens aus dem Schlaf riss, wenn er den Fingerabdrücken auf seinem Cabrio mit Poliermittel zu Leibe rückte – und dabei immer wieder zufällig an die Hupe stieß.
Hier steht es noch immer, Pauls Zuhause. Mit denselben Nachbarn und demselben Carport aus Holz und angelaufenem Plexiglas. Ein anderes Kind wohnt jetzt darin, mit seinen eigenen Eltern.
„Grüß dich, Paul“, schnarrt eine Frauenstimme. Sie gehört Doris, der Frau von Udo von gegenüber. Sie trägt eine Brille, die ihre Augen stecknadelklein macht. Um ihre dürren Schenkel schlabbert eine weiße Leggins, wie ausrangierte Bettlaken.
„Hallo“, sagt Paul.
Dann steht Doris eine Weile rum und tut – die knochigen Arme in die Hüften gestemmt – als würde sie den Rosenstock neben ihrer Haustür inspizieren. Doch Paul weiß, dass im Dezember keine Rosen wachsen. Und er weiß auch, dass Doris gehofft hat, ihn bei etwas Verbotenem zu erwischen. Ihr Blick bohrt durch seine Jacke, durch die Daunen, bis in seine Schulterblätter. Er sieht zu, wie sich seine Fingerknöchel weiß färben, wenn er den Fahrradlenker fester umfasst, und wie das Blut zurückkommt, wenn er ihn loslässt.
„Udo!“, ruft Doris. „Komm mal kurz her!“
Paul, der nicht hochsieht, hört Schritte und Flüsterstimmen und dann meldet sich Udo zu Wort. Sagt, er habe Paul in letzter Zeit oft hier gesehen, zu oft für seinen Geschmack, er würde ja zu gerne wissen, was Paul für Flausen im Kopf habe und überhaupt solle er dorthin verschwinden, wo er hingehöre. Dann knallt die Tür von gegenüber ins Schloss.
Weiß, rot, weiß, rot. Wenn man ganz fest auf seine Fingerknöchel starrt, lässt sich die Wut im Bauch besser aushalten.
Paul denkt an die Samstage, an denen Papa Udo einen „penetranten Wurm“ geschimpft hat, wenn der um kurz nach sieben sein Hupkonzert einläutete. An die gelbe Couch mit den Kissen und an die Bücherregale.
Die Tür von gegenüber öffnet sich erneut. Doris‘ Leggins sind jetzt aus Leder und lassen ihre Beine aussehen wie schrumpelige Würgeschlangen.
„Nur Blödsinn im Kopf“, bellt Udo. „Jeden Abend hier rumlungern … ich warn‘ dich, Bürschchen. Ich warn dich.“
Die Autotüren des Cabrios knallen und Udo hupt, obwohl die Straße so breit ist, dass er locker an Paul vorbeikommt. Bevor er losfährt, lässt er das Fenster runter.
„Nur, dass du’s weißt“, sagt Udo und in seinen Augen glitzert die Schadenfreude. „Wir sind nicht lange weg. Und meine Alarmanlage ist die beste in der ganzen Umgebung.“
Paul weiß nicht, ob es Udos Bosheit ist, das Quietschen der Reifen oder Doris‘ schadenfrohes Grinsen, die der Wut in seinem Bauch das Ruder übergeben. Das Gute ist, sie macht ihn mutig.
Paul öffnet das Gartentor, läuft den Kiesweg entlang und schlendert durch das Carport. Seine Finger gleiten über Werkzeugkisten, Hochdruckreiniger und die Abdeckplane des Rasenmähers. Nur das Fahrrad mag er nicht anfassen. Es gehört dem neuen Kind.
Paul fasst in seine Tasche und findet, was er sucht. Der silbrige Schlüssel schimmert im fahlen Licht, das die Straßenlaternen auf das Grundstück werfen. Er hat allen erzählt, er hätte ihn verloren. Er konnte ihn nicht abgeben. Er konnte das Haus nicht alleinlassen. Seit er ein Baby war, hat es auf ihn aufgepasst. Hat es gemacht, dass alles gut war.
Pauls Finger zittern, als er den Schlüssel in das Schloss steckt. Er passt genauso gut, wie vor acht Monaten.
Im Flur tanzt die Dunkelheit wie Ameisen vor seinen Augen, es riecht nach feuchten Mänteln und Dreckschuhen und kurz ist der Schmerz so stark, dass ihm die Luft wegbleibt.
Auf Zehenspitzen schleicht er weiter, schleicht ins Wohnzimmer, ohne Licht anzumachen. Er kennt jeden Zentimeter.
Paul hört nichts als seinen eigenen Atem. Sein Herz schlägt schneller, als er nach dem gelben Sofa tastet, doch seine Hände stoßen auf etwas Hartes und jetzt holt er doch das Handy heraus, um die Taschenlampe anzumachen.
Das erste, was ihm auffällt, sind die Bücherregale. Sie sind verschwunden. Anstelle des gelben Sofas steht da ein Esstisch und da drüben, wo es lächerlich falsch aussieht, haben sie ihr Sofa hingestellt. Es ist weiß, ohne Kissen, und der Kloß in Pauls Hals fängt an zu pochen.
Er macht das Licht aus und setzt sich auf den Boden vor die Terrassentür. In der Ferne schießen sie. Raketen, Böller, Kracher, wie immer um Stunden zu früh.
Paul denkt an Papa, an seine Falten beim Zeitunglesen. Und an Mama, die Brötchen in heißen Kakao tunkt, an Samstagen, an denen die Welt noch in Ordnung ist.
Er legt das Gesicht in die Hände, atmet tief ein und aus. Jedes Mal, wenn er das Haus besucht, jeden Tag nach der Schule oder dem Fußballtraining, haben die Erinnerungen so viel mehr Farbe. Wenn er draußen auf seinem Fahrrad sitzt, stundenlang vor dem Gartentor fühlt es sich an, als wäre dieses Leben nicht wirklich vorbei. Als hätte Mama noch fröhliche Augen und Mehl in den Haaren. Als würde da, hinter den Wänden, immer noch einer sitzen, der aussieht wie Paul in erwachsen, die Nase in ein Buch vergraben. Auf dem gelben Sofa mit all den bunten Kissen, zwischen Bücherregalen und Bananenbrotduft.
Er hätte sich nicht reinschleichen dürfen.
„Bist du ein Einbrecher?“, fragt eine Stimme und Paul schnellt herum. Sein Blick fällt auf ein Mädchen, das in der Tür zum Wohnzimmer steht. Im Lichtkegel der Flurlampe sieht sie aus, wie ein Gespenst. Dann geht alles ganz schnell.
Helles Licht flutet von der Decke und blendet seine Augen, eine Frau erscheint im Türrahmen, die Augen weit aufgerissen, und hinter ihr ein Mann, eher verdutzt als erzürnt, und sie stehen um ihn herum und löchern ihn mit ihren Fragen.
„Was machst du denn hier?“
„Wer bist du?“
„Wie kommst du hier rein?“
„Mami, ist das ein Einbrecher?“
„Wir müssen die Polizei rufen, wenn du nichts sagst!“
„Papi, jetzt sag, ob das ein Einbrecher ist!“
„Moment mal“, sagt die Frau. Sie ist jünger als Mama, mit langen, glatten blonden Haaren. Paul hat sie oft gesehen, wenn er draußen auf der Straße stand. Erst jetzt fällt ihm auf, dass ihr Bauch aussieht, als hätte sie eine Mango verschluckt.
„Bist du nicht der Sohn der Familie, die vor uns gewohnt hat?“, will sie wissen. „Wir haben dich bei der Besichtigung gesehen!“
Paul zuckt die Achseln.
„Wo sind deine Eltern?“, fragt der Mann.
„Anton“, zischt die Frau.
„Ja, was denn?“
„Sein Vater ist doch … du weißt schon.“ Sie blinzelt. Ihr Blick ruht auf Paul und die Züge um ihren Mund sind jetzt ganz weich. Ihre blauen Augen glitzern.
„Also, deshalb bist du hier“, sagt sie leise.
„Naja, ich …“, murmelt Paul. „Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen.“
Die Frau legt ihre Hand auf Pauls Schulter und drückt sie so fest, dass es wehtut.
„Natürlich“, sagt sie.
„Ich hätte nicht herkommen dürfen“, sagt Paul. „Es tut mir leid.“
Die Frau nickt. „Wir rufen deine Mutter an. Komm, gib mir ihre Nummer. Wie war nochmal dein Name?“
„Paul“, sagt Paul.
„Ich heiße Lisa!“, verkündet das Mädchen, das zwischen den Oberschenkeln ihrer Mutter hervorspäht. „Kannst du mir zeigen, wie man in ein Haus einbricht?“
Ihr Vater rollt die Augen.
„Komm mit“, sagt er, als Frau und Tochter in die Küche gehen, um Pauls Mutter anzurufen. Er winkt ihn hinter sich her die Treppe hoch, in Mamas Bügelraum, der jetzt ein Arbeitszimmer ist.
„Ich wollte dir noch was geben“, sagt der Mann, der Anton heißt. Er tritt an seinen Schreibtisch, öffnet eine Schublade und zieht einen kleinen Koffer hervor. Er ist braun, aus abgewetztem Leder, und darin liegt ein Papierstapel, der fast so hoch ist, wie Pauls Daumen.
„Was ist das?“, fragt Paul.
„Ein Buch“, sagt Anton. „Ich hab‘s gefunden, als ich den Einbauschrank ausgeräumt habe, kurz nachdem wir eingezogen sind. Aber ich wusste nicht, wie ich euch erreichen konnte, also hab‘ ich’s aufgehoben. Es ist … es ist sehr schön, wirklich, es ist eine Art Abenteuerbuch und der Junge … er heißt genau wie du.“
Paul schluckt. Als er den Koffer in der Hand hält, fühlt es sich an, als hätte er nie etwas Wichtigeres besessen.
„Sieh mal“, sagt Anton und deutet auf Buchstaben, die jemand in das Leder geritzt hat. L.D. Ludo Dorfer, denkt Paul. In seinen Augen brennt es wie verrückt.
„Danke“, murmelt er.
Eine Weile stehen sie rum. Treten von einem Bein auf das andere, während Paul tut, als würde er lesen, obwohl beide wissen, dass es nicht so ist.
Dann klopft es an der Tür und es ist Mama, die Paul so fest umarmt, wie überhaupt noch nie in den letzten acht Monaten. Und als sie das Buch sieht und von wem es geschrieben ist, küsst sie sein Gesicht, und obwohl Anton danebensteht, ist es Paul nur ein bisschen peinlich.
Alessandra und Lisa und Anton winken, bis Paul und Mama das Gartentor erreicht haben. Es hat angefangen zu schneien.
„Sehr fleißig“, sagt Mama zu Udo von gegenüber, der tut, als würde er Schnee schaufeln, obwohl alle wissen, dass es die Neugierde ist, die ihn kurz vor Neujahr auf die Straße treibt.
„Kannst du kurz auf mich warten?“, fragt Paul und Mama nickt. Das Buch im Koffer fest an die Brust gedrückt, flitzt er zurück durch das Gartentor, über den verschneiten Kiesweg, wo er den Finger auf den silbernen Klingelknopf drückt.
Anton erscheint in der Tür, er lächelt.
„Hast du was vergessen?“
„Ja“, sagt Paul. „Ich wollte dir auch was geben.“
Zum letzten Mal zieht er den silbernen Schlüssel aus der Tasche.
Anton hebt die Brauen, ganz kurz nur, dann wird sein Lächeln breiter. „Ich danke dir“, sagt er.
„Ein schönes neues Jahr“, sagt Paul.
Er läuft zurück zum Auto, zurück in Mamas ausgebreitete Arme. Über ihnen knallen Raketen, es ist Mitternacht.
„Wollen wir heim und Bananenbrot backen?“, flüstert Mama in Pauls Haare, und Paul fühlt sich so glücklich, wie nie in den letzten acht Monaten.
Zwei Betten, fünf Fenster, drei Stühle um den Tisch. Eine Mama, die wieder Bananenbrot backt, und ein Papa, der ein Buch geschrieben hat. Das ist Pauls Zuhause.