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Meeting
'Kacke!', rief es in seinem Gehirn, als sein Schuh versank in jener grossen, glänzenden, saftigen, braunen Wurst, die jemand dort hingelegt hatte, dessen Verhältnis zu seinen Ausscheidungen unverkrampft war.
Er aber war verkrampft, denn er hatte einen Termin, von dem seine Existenz abhing und den er unmöglich in einem Schuhwerk wahrnehmen konnte, das angereichert war mit einer Masse, deren Parfüm in der ihm fremden Hundekultur einen hohen Stellenwert haben mochte, das jedoch die Nasenflügel seiner, vielleicht durchaus tierliebenden Meetingpartnerin in nervöse Zuckungen versetzen würde. Das Bild dieser Nase sprang ihn an und wurde so gross wie die Abluftrohre einer riesigen Klimaanlage. Sie würde ihn einatmen und ausatmen und wegwirbeln wie ein Staubkorn.
Sein Angebot konnte noch so attraktiv sein, überlagert von Düften, die so gar nicht zu jener Frühlingsfrische passten, die er seiner Meetingpartnerin für ihre nächste Kollektion vorschlagen wollte, wäre ihr Urteilsvermögen getrübt, als flüsterten überwollende Gesellen ihr Missgünstiges ins Ohr.
Er war so spät dran, dass der Takt seiner Schritte genau vorgegeben war und ihm keine Freiheit liess, irgendetwas zu unternehmen, um das Desaster abzuwenden, welches näher kam mit der Wucht eines Öltankers. Sein Herz flatterte wie die Nasenflügel seiner Meetingpartnerin, eine Synchronizität, die ihm ein gepresstes Lächeln abrang.
Kein Rasen zum Abstreifen. Kein Brunnen zum Eintauchen. Die Welt mochte sich seiner nicht annehmen, verwandelte sich vielmehr in einen Gefängnisflur, in dem er weiter gehen musste bis zum Ende, wo die Zelle wartete.
Wie konnte eine derart kleine Ansammlung von Pflanzennährstoffen ein Lebewesen seiner Grösse derart in Bedrängnis bringen? Wäre er eine Ameise und der Haufen wäre auf ihn gefallen – gute Nacht. Aber er war keine Ameise!
Das wenigstens war ein Hoffnungsschimmer, obwohl der Stress seine Gedanken mit solcher Kraft an die Innenwand seines Schädels presste, dass die verbleibende Problemlösungskapazität diejenige einer Ameise nur um wenig überstieg. Tapfer klammerte er sich an das verbliebene Bisschen Intellekt und setzte es dafür ein, auf einen geistigen Hügel zu gelangen, von wo er die Lage überblicken konnte, um einen Ausweg zu finden.
Er könnte vor ein Auto laufen. Ein Anruf aus dem Spital wäre die ultimative Entschuldigung für ein versäumtes Meeting, mit eingebautem Mitleidsfaktor. Er verbot sich das Weiterspinnen solcher Auswege, die eher Wege ins Aus waren, und stellte erleichtert fest, dass ihn dieser geistige Ausrutscher an den Lösungsspreizer erinnerte, den sie im letzten Kreativseminar durchgenommen hatten. Es ging darum, sich von einem eingefahrenen Lösungsweg zu befreien, indem er als dickes Seil gedacht wurde, dessen Teilschnüre sich am Ende aufdröseln und gespreizt hinlegen liessen, sodass sich der eine und einzige Lösungsweg plötzlich in zahlreiche Alternativen aufästelte. Dazu gehörte das spontane Benennen auch ungangbarer Wege: Die Schuhe in den Müll stopfen und barfuss weitergehen. Ein paar neue Schuhe kaufen, was mangels Schuhgeschäft nicht möglich war. Jemanden bitten, die Schuhe waschen zu dürfen, wobei er sich schaudernd vorstellte, wie er mit den Fingernägeln die Reste aus dem Sohlenprofil puhlte mit derselben Hand, die er anschliessend zum Gruss reichen würde.
Das Geschäft seiner Meetingpartnerin lag fünfzig Meter voraus. Das Herz führte einen Boxkampf gegen die Brust und im Hirn schimpfte es auf den Lösungsspreizer, da er keine Lösung als Basis hatte und folglich jede Alternative nur eine Variation von nichts sein konnte.
Als er pünktlich neben dem Eingang des Geschäftes stand, war ihm mit monumentaler Klarheit bewusst, dass er auf keinen Fall eintreten und den Teppich mit seiner Duftnote stempeln durfte. Während er mit flinken Fingern den Schuh abstreifte, sah er dreissig Prozent seiner Erfolgschancen schwinden. Und wie sein befreiter Fuss aufsetzte, verabschiedeten sich die nächsten zwanzig Prozent, denn da war ein Loch in der dunklen Socke, was den grossen Zeh leuchten liess.
Das war zu viel. Wie ein angezählter Boxer wankte er zum Eingang, um den finalen Schlag zu empfangen. Aber die Tür liess sich nicht öffnen.
Weder ziehen noch drücken half. Die Uhr zeigte zwei Minuten zu spät, also noch im Rahmen. Auf dem Öffnungszeitenschild stand "Montag geschlossen", aber heute war Dienstag.
Irritiert stellte er fest, dass sich bei der Erinnerung an gestern ein Sonntagsgefühl einstellte, woraus sich logischerweise für heute ein Montag ergab. "Montag geschlossen" bedeutete also, dass er erlöst war, wobei sein Körper im Alarmzustand verblieb und es einer Weile bedurfte, bis die frohe Botschaft durchsickerte in alle Verästelungen seines Nervensystems und dem Flattern und Vibrieren ein Ende setzte.
Wohlig leer und leicht wandte er sich seinem Schuh zu, nahm ihn fast liebevoll ins Visier in der grossen Gewissheit, wieder Herr der Lage zu sein. Er würde die Sohle unter fliessendem Wasser mit einer Zahnbürste putzen.
Entschlossen, sich nicht von dem Duft einer vergorenen mit schwefligen Komponenten ausgestatteten Substanz abschrecken zu lassen, stiess er seinen Fuss wie eine Lanze in den Schuh, als er eine weibliche Stimme sagen hörte: "Wir waren doch für morgen verabredet. Aber kommen Sie doch herein. Heute sind wir wenigstens ungestört."