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Meeresrauschen

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21.09.2008
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Meeresrauschen

Sie fühlte einen Stoß, verlor den Halt und fiel und fiel ...

Schweißgebadet erwachte Jemina aus einem Traum. Es war wieder dieser Traum! Jemina, die mit bürgerlichem Namen Cora Schuster hieß und nun einen biblischen Namen in der Gemeinschaft trug, litt unter Höhenangst. Schaurige Erlebnisse hatten zu ihrer Phobie geführt, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Der Blick in die Tiefe war in ihrem Fall keine unbegründete Angst. Oh ja, sie wusste nur zu gut, was das Trauma ausgelöst hatte. Zwei Jahre waren vergangen und sie fand noch immer keine Ruhe. Ihre Brüder und Schwestern rieten ihr, sie müsse sich der Angst stellen und in die Situation begeben, in denen die Angst auftritt. Konfrontationstherapie nannten sie es. Konkret bedeutete das für sie, ab nach Portugal, rauf auf die Felsen und vom höchsten Punkt runterschauen. Erleben wie die Angst hochkommt, die Beine weich werden und die Knie zittern. Die Situation war ihr nur zu bekannt. Bitzlichterinnerungen holten sie unablässig ein, wurden zur Qual. Sie musste sich befreien, bis an alle, über alle Grenzen gehen. Um ihren Seelenfrieden zu finden, musste sie es tun! Den Weg noch einmal beschreiten, die Bilder des Schreckens noch einmal durchleben, zurückkehren an den Ort, wo alles begann. Sie hatte keine Wahl, sie musste in ihre Vergangenheit reisen.

Auf der Suche nach verborgenen Traumstränden hatte sie im Internet vor zwei Jahren den malerischen Ort an der Algarve entdeckt. Nach fünf Stunden Flug, mit einem Zwischenstopp in Lissabon, betrat sie zum ersten Mal in ihrem Leben portugiesischen Boden. Von Faro aus ging es mit einem kleinen Shuttlebus in rasanter Fahrt weiter zum eigentlichen Ziel, einem beliebten Ferien- und Badeort.
„Na toll, den Flug haben wir überlebt, den Fahrstil überlebt keiner!“, sagte einer der Insassen sarkastisch. Ein südländischer Typ, der weiter vorne saß. Cora musste lachen, diesen Gedanken hatte sie auch. Aufmerksam geworden, wer da hinter seinem Rücken über ihn lachte, wandte er sich um, glotzte ungeniert. Sie hörte ihn anerkennend pfeifen. Aller Augen richteten sich auf Cora. So ein Flegel, dachte sie errötend. Verlegen schaute sie aus dem Fenster, weil er sie nicht mehr aus den Augen ließ.

Unterwegs sammelte sie erste Eindrücke. Ein schönes Fleckchen Erde!
Kleine Fischerdörfer mitten im Paradies. Wildromatische Buchten, umgeben von bizarren Felsen und goldgelben Stränden. Zwischen weiß getünchten Häusern der Dorfbewohner und einer duftenden Blütenlandschaft lag hoch oben, über honigfarbenen Felsen ihr Feriendomizil. Die exklusive Appartementanlage Marasol, eingebettet in einen Hang und mit viel Grünfläche umgeben, wirkte noch weitläufiger, als die Fotos der Agentur Happy Holidays im Internet erahnen ließen.

Von der Dachterrasse hatte man einen weiten Blick bis zum Hafen, mit den friedlich im Wasser dümpelnden Booten, die sonnenhungrige Badegäste an entlegene Strände brachten. Jemina lehnte an der Brüstung und sog tief die salzige Luft ein. Von hier oben konnte man den parkähnlichen Garten überschauen. Das terrassierte Grundstück, von blickdichten Hecken umzäunt und schmiedeeisernen Eingangstor. Majestätisch ragten stattliche Palmen über kunstvoll angelegten Blumenbeeten und Kakteen. Zum Springbrunnen im mediterranen Stil säumten weiße Skulpturen den Weg. Vor zwei Jahren konnte sie sich nicht sattsehen an der Pracht, exotischen Pflanzen, den satten Rasenflächen. Jetzt stand sie hier, verloren, in Gedanken versunken, nahm das alles kaum wahr. Jemina hatte ein anderes Ziel vor Augen. Langsam verlor die untergehende Sonne ihre Kraft. Sie trat aus dem Schatten, die letzten Strahlen noch zu erhaschen; wie die Sonne, kraftlos, so fühlte sie sich auch.

Er verbringe jedes Jahr um die gleiche Zeit seinen Urlaub in dem beschaulichen Badeort, erzählte Fabio ihr damals. Sie fieberte der Begegnung entgegen. Um ihre Nerven zu beruhigen, rauchte sie eine Zigarette und lauschte dem Meeresrauschen. Eine warme Brise wehte, die Sinne betörend, Wellengeräusche, vermischt mit dem wohligen Rascheln der Blätter, sich wiegender Palmen im Wind.
Es war alles so geblieben, wie sie es in Erinnerung hatte. Und doch war alles ganz anders. Sie war nicht hier, um Urlaub zu machen. Jemina war nach Portugal zurückgekehrt, um ihren Frieden zu finden. Sie sah hinüber zur Poollandschaft und den Sonnenschirmen mit schilfgedeckten Dächern, da ... wo alles begann.

Cora hatte erst vor wenigen Minuten auf einem der bereitstehenden Liegestühle Platz genommen, hielt die Augen geschlossen, als sie durch die Augenlider einen mächtigen Schatten über sich spürte.
Sie blinzelte, erkannte den Mann aus dem Bus, der sie schon auf der Fahrt zum Marasol so unverfroren gemustert hatte.
„Hallo, so allein, schöne Frau? Ich bin Fabio Goncalves“, stellte er sich vor und deutete eine Verbeugung an. Mit ausgestrecktem Arm hielt er ihr einen Longdrink entgegen.
„Darf ich Sie zu einem Drink einladen? Machen Sie mir die Freude, bitte!“
Er beherrschte ihre Muttersprache und wirkte nicht unsympathisch. Sie schlug ihm die Bitte nicht ab und so kamen sie ins Gespräch. Sie unterhielten sich über Land und Leute, über dies und das, bis sie schließlich erstaunt fragte: „Wo haben Sie denn so fehlerfreies Deutsch gelernt?“
Er habe schon einige Monate in ihrer Heimat verbracht und pflege recht intensiven Kontakt mit Berlin und München, viel mehr zu zwei jungen Damen, die dort leben, berichtete er breit grinsend.
„Lisa und Marie habe ich übrigens auch hier kennengelernt“, sagte er bedeutungsvoll und zwinkerte ihr zu. Er hatte etwas an sich ... ein bisschen frech, herausfordernd, selbstgefällig. Sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein zeigte leicht snobistische Züge. Kritisch musterte sie ihn. Pechschwarze Haare, dunkle, geheimnisvolle Augen, die neugierig auf sie gerichtet waren. Seinem durchtrainierten Körper sah man an, dass er viel Sport trieb. Insgeheim musste Cora zugeben, er konnte sich durchaus sehen lassen. Weil er ganz offensichtlich mit ihr flirtete, wies sie ihn gleich einmal darauf hin, dass sie außer ein wenig Entspannung gar nichts suche.
„Für Ihr schönes Land interessiere ich mich dagegen sehr“, zwinkerte sie ihm dabei ebenso unmissverständlich zu.
„Oh, ich zeige Ihnen sehr gerne die Gegend, es wäre mir eine Ehre, Sie begleiten zu dürfen.“ Sein Blick nahm einen verschwörerischen Ausdruck an.
„Sie haben sicher genug zu tun“, erwiderte sie mit feinem Spott.
„Stets zu Ihren Diensten!“, antwortete er forsch und schlug mit dem Handrücken an eine imaginäre Mütze, mimte einen Gruß.
„Ich zeige Ihnen überhaupt alles, was Sie sehen wollen!“, fügte er dreist hinzu. Täuschte sie sich, oder meinte er es anzüglich? Nun, sie hatte nicht vor, sich in die zahlreichen Liebschaften des smarten Portugiesen einzureihen und setzte ihn deshalb davon in Kenntnis, dass es in ihrem Leben schon jemanden gab, der sehnsüchtig auf ihre Rückkehr warte.
„Schade, dass mein Schätzchen nicht dabei sein kann.“ Ihr Tonfall klang traurig.
„So so, es gibt schon ein Schätzchen, das höre ich aber gar nicht gerne“, lachte er.
„Warten Sie, schauen Sie selbst!“ Aus ihrer Badetasche kramte sie das Portemonnaie hervor, hielt ihm stolz ein Foto vor die Nase. Sie betrachtete es auch noch einmal liebevoll, bevor sie es wieder in die Tasche zurücksteckte.
„Sind Sie schon lange mit ihm zusammen?“, fragte er fast beiläufig.
„Ja, seit sieben Jahren. Ende des Jahres trage ich einen anderen Nachnamen“, sagte sie schmunzelnd.
„Dann muss es wohl etwas Ernstes sein!“, konstatierte er nachdenklich.
„Ja, das ist es!“ Sie nickte bestätigend. „Der wichtigste Mensch in meinem Leben!“ Cora hielt es für besser, mit offenen Karten zu spielen. Er sollte gleich wissen, woran er mit ihr ist. Wenn er über diese Wendung nicht erfreut war, ließ er es sich nicht anmerken und lud sie dennoch später zum Abendessen ein. So hatte es angefangen.

Fabio schien zu akzeptieren, mit ihr keinen Fang für eine kleine Urlaubsromanze gemacht zu haben.
Er startete keine weiteren Annäherungsversuche und als er sie beim Abschied bat, am nächsten Tag etwas mit ihm zu unternehmen, hatte Cora nichts dagegen einzuwenden.
Mit einem Fremdenführer an ihrer Seite würde sie das Land mit all seinen Facetten kennenlernen. Und es war beruhigend zu wissen, dass er keine anderweitigen Ambitionen hegte. Ein verhängnisvoller Irrtum, wie sie noch am eigenen Leib zu spüren bekommen sollte.

Er brachte sie zum windumbrausten Cabo de Sào Vicente, dem südwestlichsten Punkt des Kontinents, mit imposanten Leuchtturm. Über den Klippen wurde ein unvergleichlich schönes Naturschauspiel geboten. Hier war es vorbei mit dem geruhsamen Schippern am Mittelmeer, an dieser Stelle wurde das Meer wahrlich ungemütlich. Mit Urgewalt schlug es tosend gegen die hohen Steilklippen und der Wind peitschte das Wasser bis zur oberen Spitze empor.
„Unglaublich“, sagte Cora und sah fasziniert auf das Spektakel unter ihr.
„Ja, wirklich unglaublich!“, bestätigte Fabio, aber sah dabei nicht in die Tiefe.
Sein Blick ruhte auf der Frau neben ihm und sachte legte er seinen Arm um ihre Schultern. Sie lächelte zwar, aber machte eine kleine Drehung, entzog sich ihm.
„Schade“, murmelte er, im donnernendem Getöse des Meeres unterging.
Eine stramme Brise wehte vom Atlantik her über das wilde Kap; nicht von ungefähr nannte man es zu früheren Zeiten das Ende der Welt.

Jeden Tag überraschte er sie mit neuen Attraktionen, dachte sich Routen aus.
Sie lernte nicht nur die bekannten Ferienorte mit den kilometerlangen Sandstränden kennen, er reiste auch mit ihr ins Hinterland. In den urigen Fischerstädtchen und verträumten Bergdörfern schien die Zeit stehengeblieben zu sein. Sie kehrten in ein - von außen unscheinbares - Landgasthaus ein, von der anheimelnden Atmosphäre verblüfft. Drinnen war es urgemütlich. In kleinen Nischen standen hübsch gedeckte Tische, hochlehnige Korbsessel mit dick gepolsterten Sitzkissen davor.
Vom Holzkohlengrill servierte man ihnen leckeren Fisch und Kartoffeln aus der Folie. Dazu gab es noch herzhaftes Landbrot und einen kräftigen Hauswein.
„Auf das, was wir lieben“, prostete ihr Fabio zu und sah sie bewundernd an.
Sie erhob auch ihr Glas, wurde aber durch eine überaus freundliche Bewirtung der alten Bäuerin abgelenkt, die noch etwas Käse, Oliven und kleine Schälchen zum Dippen hinstellte. Cora widmete sich dem köstlichen Essen und bemerkte nicht, wie sonderbar Fabio sie anstarrte. Es machte ihn wütend, weil sie ihm zu wenig Beachtung schenkte.

Bei einer Tour mit der großrädrigen Pferdekutsche taute er wieder auf. Sie saßen ganz dicht beieinander. Unruhig war sie bemüht, noch etwas zur Seite zu rutschen.
„Ist es nicht herrlich?“, fragte Fabio vergnügt, machte eine ausladende Geste.
Sie zweifelte, ob er die Landschaft meinte und fragte sich, ob es wirklich nötig war, seinen Oberschenkel so fest gegen ihren zu pressen. Er schien es zu genießen. Gemächlich zuckelten sie an einer Kapelle mit Glockentürmchen und kleinen Windmühlen vorbei. Unter einer knorrigen Eiche weideten im Schatten Ziegen, ein Schafhirte lehnte an einem bunt bemalten Holzwagen, auf dem träge sein Hund lag. In der ländlichen Idylle gab es romantische Gehöfte mit verwilderten Gärten, Lämmer sprangen umher, Haine mit Oliven- und Orangenbäume, riesige Felder mit Wildblumen, eine duftende Blütenvielfalt und immergrüne Bäume. Wohltuende Ruhe, Bilder, die Sinne und Seele streichelten. Bei Cora wollte sich dieses Gefühl nicht einstellen; auf die aufdringliche Nähe des Mannes neben ihr schob.

Einmal saßen sie in einem gemütlichen Straßencafè, unter einem herrlich blühenden Oleanderbaum, da nahm er ihre Hand, sah ihr tief in die Augen, suchte nach Worten.
„Ist es nicht wie ein Traum?“, fragte er und meinte nicht die schöne Umgebung.
„Ja, wunderschön, vielen Dank für die unvergesslichen Momente, Fabio.“
Sie waren wie selbstverständlich zum Du übergegangen. Cora zog sanft ihre Hand aus seiner, verschleierte den peinlichen Moment, indem sie rasch zu ihrer Tasse griff. Sie ließ ihren Blick über die Blütenpracht in leuchtend rosa schweifen und entging dabei, wie sich sein Gesichtsausdruck verfinsterte. Natürlich war ihr eine gewisse Zuneigung nicht verborgen geblieben, aber sie glaubte wirklich, in erster Linie habe er Spaß daran, ihr seine schöne Heimat näher zu bringen; andere Hoffnungen längst aufgegeben. Auch hierin irrte sie sich.

Mit dem Mietwagen fuhr Jemina die Küste entlang und war wieder überwältigt von der phantastischen Aussicht auf wild zerklüftete Felsen, die aus dem Atlantik ragten. Langsam fuhr sie die kurvenreiche Küstenstraße entlang, vorbei an den vielen - von Felsen geschützten - einsamen Badebuchten. Im grün und blau schillernden Wasser schaukelten die bunten Boote der Fischer, bereit zur Ausfahrt; Touristen eine Exkursion in die unzähligen Grotten und Höhlen anboten. Trotz allem, dem Zauber des Landes konnte sie sich nicht entziehen. Sie sah sich suchend um, fuhr weiter Richtung Süden und fand die Stelle schneller, als sie erwartet hatte. An einer winzigen Bucht hielt sie an und stieg aus dem Wagen. Nur ein weiteres Fahrzeug hatte dort geparkt und sie erkannte Fabios Jeep; weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Diesen Moment hatte sie herbeigesehnt und auch gefürchtet. Hier war es passiert, genau hier! Da war sie wieder, die Angst! Kroch langsam in ihr hoch, breitete sich wie ein wucherndes Krebsgeschwür aus, schnürte ihr die Kehle zu, ihr Herz begann zu rasen. Sie litt unter Schweißausbrüchen, wischte sich unablässig über Stirn, Wangen und Dekolletè. Am liebsten wäre sie umgekehrt, vor der Vergangenheit geflüchtet, aber sie wusste auch, es würde dann nie ein Ende nehmen.

Jemina kämpfte gegen ihre Akrophobie an, spürte Schauer über den Rücken jagen und musste sich zwingen, in die Tiefe zu sehen. Unter ihr tobte das Meer. Keine Sekunde jedoch ließ sie die atemberaubende Kulisse vergessen, was hier vor zwei Jahren geschehen war. Sie fröstelte und hielt den Atem an. Hoch oben über den Klippen sah Jemina der Brandung zu, wie sie mit ungeheurer Wucht gegen die steil aufragenden Felswände schlug; das ewige Spiel mit dem Meer. Die bewegte Oberfläche reflektierte das gleißende Licht der Sonnenstrahlen und tauchte kristallklares Wasser in türkisschimmernde Blautöne. Über windumtoste Klippen wanderten geheimnisvolle Schatten und ließen die Szenerie gespenstisch erscheinen. Jemina zog die Schulterblätter zusammen und hielt den Kopf gesenkt; stützte das Kinn auf ihre - wie zum Gebet - gefalteten Hände.

Sie dachte daran, wie hinterhältig er sich in ihr Vertrauen eingeschlichen hatte. Im Nachhinein verstand sie es. Er hatte sie arglistig getäuscht! Mit ihrer Neugier auf das fremde Land wollte er sie ködern und führte sie zunächst an beeindruckende Schauplätze, aber die größte Entdeckung stand ihr noch bevor.

Panik stieg in Jemina auf, als ein weiteres Auto an der Bucht hielt. Hier hatte sie mit ihm gekämpft, hier war es geschehen! Beim Anblick des breitschultrigen Mannes, der aus dem Wagen gestiegen war und sie an Fabio erinnerte, durchzuckten kleine Bilder, Momentaufnahmen ihr Gedächtnis. Ihr wurde schwindelig und der Wunsch zu flüchten übermächtig, nur fort ... weit fort. Und doch gelang es ihr, die Angst zu überwinden. Sie kletterte - so schnell sie nur konnte - zur einsamen Badebucht hinunter und sah den Fremden hoch oben stehen. Es war nicht Fabio, wie sie erleichtert und gleichzeitig enttäuscht feststellte. Widersprüchliche Gefühle kämpften in ihr; dabei hatte sie doch nichts zu befürchten. Er konnte ihr nichts mehr anhaben, schalt sie sich selbst. Jemina zog ihre Schuhe aus und lief barfuß durch den feinkörnigen Sand. Um sich abzulenken, sammelte sie Muscheln, die dicht verstreut lagen. Langsam fiel die Anspannung von ihr ab. Da oben stand Fabios Jeep, er musste hier irgendwo sein und sie würde auf ihn warten. Sie wollte, musste ihren Frieden finden.

Möwen glitten elegant - nur ein paar Handbreit - über ihren Kopf hinweg. Sie beobachtete Windsurfer, die auf ihren Brettern balancierend, riesigen Wasserwänden trotzten und sah zu, wie gewaltige Wellen auf den Strand zuliefen, am Ufer brachen und weiße Schaumkronen hinterließen. Eine Oase der Ruhe; die nur manchmal von Flugzeugen im Landeanflug oder dem knatternden Geräusch der Motorboote, die Taucher weit aufs Meer hinaus brachten, durchbrochen wurde.

Auch als Cora auf Märkten nach Reiseandenken Ausschau hielt, war Fabio dabei, drängte sich förmlich auf, sie zu begleiten. Bei den Ausflügen war es ihr gelungen, ihn auf Distanz zu halten. Sie sah nicht, wie seine Augen einen bösen Ausdruck annahmen, sie durchdringend musterten. Sie bemerkte auch nicht, wie er zusehends mürrischer wurde, düsteren Gedanken nachhing. Er verstand es nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt der Schönheit des Landes, nicht ihm! Und wie sehr die Nichtbeachtung an seinem Ego nagte, davon hatte sie keine Ahnung. Verletzte Eitelkeit, und mit seiner - für ihn typischen - Arroganz nicht begreifen konnte, warum der Funke nicht übersprang. Während es ihm immer schwerer fiel, seine - von ihr zugedachten - Rolle zu spielen, war Cora stets freundlich, aber konsequent unnahbar geblieben. Sie sammelte viele neue Eindrücke, lernte täglich dazu, aber den Mann an ihrer Seite kannte sie nicht!

Ja, es war ein Riesenfehler, ihm zu vertrauen. Mit seiner anfänglichen Zurückhaltung hatte er sie getäuscht. Sie war ihm auch ganz ohne Argwohn gefolgt, als er ihr ein paar Tage später ein besonders lauschiges Plätzchen, einen Geheimtipp an der Küste, zeigen wollte. In seinem Jeep waren sie gemeinsam zu dieser versteckten Bucht gefahren. Erst als er vorschlug, beim Sonnenbaden die Badebekleidung abzulegen und sie dabei begehrlich ansah, kamen ihr Bedenken, doch es war zu spät ... viel zu spät! Es war ein strahlend schöner Tag, die Bucht so menschenleer und friedlich wie heute; nur Stille, Wasser und Sand. In der flirrenden Hitze tauchten silbrige Lichtreflexe in die Wellen ein, glänzende Funken schienen an der Oberfläche zu tänzeln, das Meer glitzerte geheimnisvoll. Von Westen wehte eine leichte Brise, strich sanft über ihre Haut. Unter einem wolkenlosen Himmel zeigte Fabio plötzlich sein wahres Gesicht. Er fing an, sie zu begrabschen und ließ sich auch - trotz heftiger Gegenwehr - nicht davon abbringen; bereit zu erzwingen, was sie ihm nicht freiwillig geben wollte.

Niemand konnte ihre Schreie hören, als er versuchte, sie zu vergewaltigen.
Cora hatte ihn getreten, gekratzt und gebissen. Mit all ihrer Kraft wehrte sie sich und es war ihr tatsächlich gelungen, ihm zu entwischen. Er hatte sie über die steilen Treppen verfolgt und bis ganz oben zur Bucht gehetzt. Hier fand ein erbitterter Kampf statt, doch gegen den kräftigen Mann hatte Cora keine Chance. Sie bettelte und flehte, fand doch kein Gehör. Unter Tränen drohte sie ihm, ihn anzuzeigen. Es waren ihre letzten Worte. Fabio hatte sie brutal gepackt, zum Abgrund geschleift und kaltblütig in die Tiefe hinunter gestoßen, sie fiel und fiel ...

Jemina hatte sich der Gefahr gestellt und musste nur noch die letzte Hürde nehmen. Würde sie den heiß ersehnten Frieden endlich finden, wie man ihr prophezeit hatte? Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, denn plötzlich tauchte er auf. Mit seinem muskelbepackten Oberkörper entstieg er gerade dem Meer; stand noch bis zur Hüfte im Wasser und schob ein Brett vor sich her. Fabio war einer der Windsurfer, die sie aus der Ferne beobachtet hatte.

Jetzt ging Jemina hinter ihm her, er konnte sie nicht sehen und auch nicht hören. Bei seinem Jeep angekommen, öffnete er gerade die Heckklappe, als sie ihn ansprach. Ungläubiges Staunen stand in seinen Augen. Nur eine Schrecksekunde lang, dann erkannte er schlagartig, was mit ihm geschah. Eine überirdische Macht ergriff Besitz von ihm. Ausgeliefert! Dem Staunen war blankes Entsetzen gewichen. Die Augen weit aufgerissen, fassungslos, das Gesicht zur Fratze verzerrt; sein Mund klappte auf und zu, stieß gurgelnde Laute aus, die Lippen formten stumme Worte. Von übermenschlichen Kräften wurde er mit seinem Surfbrett zum Abgrund gedrängt. Er wusste, es gab kein Entrinnen. Nackte Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, Todesangst, die ihn um Hilfe schreien ließ. Gellende Schreie, eine letzte Hoffnung noch, die mit Wind und Wellen, dem Rauschen des Meeres unterging.

Man fand seinen leblosen Körper erst Stunden später. Weil es keine Spuren von äußerer Gewalt durch Fremdeinwirkung gab, hielt man es für einen tragischen Unfall. Man mutmaßte, Fabio sei am Abhang über sein Surfbrett gestolpert und unglückselig die hohe Böschung hinabgestürzt.

Die Trauergäste standen erschüttert an Fabios Grab.

„Aus der Erde sind wir genommen, zur Erde sollen wir wieder werden, Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub", sagte der Pfarrer und warf eine Schaufel Sand auf das frische Grab. „Ruhe in Frieden.“

 

Hallo Darkeyes

Sie musste sich befreien, bis an alle, über alle Grenzen gehen. Um ihren Seelenfrieden zu finden, musste sie es tun!

Klingt mir, wie eine Anleitung zu Selbstmord, bei dem angezeigten Symptom. :D

Doch so kann man sich täuschen, wie ich am überraschenden Ende feststellen musste. Wobei das Ergebnis in Umkehrung letztlich gleich bleibt.

Sie ist schön geschrieben, die Geschichte, beinah eine Liebeserklärung an das Land. Allerdings zieht es sich für eine Kurzgeschichte sehr in die Länge, die Spannung erschlaffte mir trotz der anmutigen Bilder. Von den Ausschweifungen her könnte ich es mir in solcher Form durchaus in einer Novelle oder einem Roman vorstellen.

Etwas verwirrend scheint mir, die Erwähnung dieser Sekte zu Beginn, da sie später überhaupt keine Bedeutung mehr gewinnt. Obwohl der Ratschlag, den die Mitglieder der Protagonistin erteilten, in dieser Form und auf dem Nährboden pseudotherapeutischer Kenntnis durchaus nicht unwahrscheinlich klingt. Auch ihr Erleben, als sie an der Klippe steht und in die Tiefe schaut, wirkt mir etwas versponnen, nicht real. Es relativiert sich etwas, da sich zeigt, dass der Hang doch begehbar, folglich keine Steilwand ist. Und letztlich ist es Fiktion, die mit dem sonderlichen Abgang von Fabio wirklich einen Touch von seltsam gewinnt.

Von der anmutigen Bildsprache her und auch dem Überraschungseffekt, insgesamt gern gelesen.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Anakreon,

Dankeschön für Dein Interesse an meiner Geschichte und Kommentar.

Inspiriert zu der Geschichte wurde ich tatsächlich durch einen Urlaub in Carvoeiro, einem wunderschönen Ferienort an der Algarve. Die Küste hat auch bei mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ja, ich muss gestehen, dass ich das Land faszinierend finde.

Wahrscheinlich ist es deshalb auch etwas ausschweifend geworden, weil ich diese Bilder vor Augen habe und auch so empfunden habe, wie ich es schon in meiner Geschichte bezeichnet habe, eine atemberaubende Kulisse, die mich nicht mehr loslässt. So, genug geschwärmt. Wenn ich hier schon die Werbetrommel rühre, wo bleiben meine Prozente vom Reisebüro? :lol:

Die anfängliche Verwirrung war so geplant. Ich wollte den Leser im Glauben lassen, meine Protagonistin sei einer Sekte beigetreten und hielt es so für eine gute Lösung, wenn man zum Schluss erfährt, dass sie gar nicht mehr unter den Lebenden weilt.

Im Jenseits könnte es ja auch Brüder und Schwestern geben, war meine Überlegung dabei. Klar, das alles ist ein bisschen seltsam, aber für so verrückte Ideen gibt es zum Glück diese Rubrik.

Ich hatte einmal Spaß daran, einen Racheengel auf Reisen zu schicken und wie steht schon in der Bibel geschrieben: Auge um Auge, Zahn um Zahn...

Es freut mich sehr, dass es Dir gefallen hat. :-)

Liebe Grüße

Darkeyes

 

Hallo darkeyes,

insgesamt gerne gelesen.

Allerdings hat die Geschichte ihre Längen, vor allem was die Landschaftsbeschreibungen betrifft, wäre weniger mehr gewesen.

Dass Fabio Cora überall herumführt, verstand ich nicht ganz, wenn sie vergeben ist. Er war wirklich fast überall mit ihr und das wahrscheinlich ohne Bezahlung. Woher hat er die Zeit hergenommen?

Die Gespräche zwischen den beiden klangen eher nach dem Einheitsbrei, den man so von sich gibt, ohne dass wirklich eine zunehmende Zuspitzung zum Höhepunkt stattfindet. Ich verstand die Motive von Fabio nicht, wieso er sie umbrachte. Wenn er so gut Deutsch kann und doch bereits seine zwei deutschen Frauen mit Maria und Lisa hatte, dann kann er sich doch genauso gut eine andere suchen. Er soll, wie du ihn beschreibst, gut aussehen. Wieso dann diese Überreaktion. Da muss doch etwas vorhanden, was ihn dazu gebracht hat, sie umzubringen.


Die Sekte mit den Brüdern und Schwestern finde ich eher verwirrend, da sie nicht wirklich etwas zur Geschichte beiträgt. Ich dachte mir zwar, dass sie deshalb als Tote ihn dann so umbringen kann. Aber dem Gedanken konnte ich nicht viel abgewinnen.

Insgesamt finde ich die Geschichte ausbaufähig und eher verwirrend als unterhaltend, weil die Beschreibung portugiesischer Landschaften zwar von dir schön und detailverliebt beschrieben wurde, allerdings auf Kosten der Handlung. Die Intentionen von Fabio, sie zu verführen und Cora, jemanden zu haben, der herum führt, ohne ihre Beziehung zu ihrem Mann zu gefährden, hättest du m.E. besser herausarbeiten sollen, dann würde ich das Ende nicht als plötzlichen Bruch empfinden, als würde es ein Ende geben müssen.

MfG Mantox

 

Hallo Mantox,

Dankeschön fürs Lesen und Kommentar!

Ja, kann sein, dass ich noch zu sehr unter den Eindrücken des Landes gestanden habe, als mir die Idee zu der Geschichte kam und von daher die Handlung/Personen etwas zu kurz gekommen sind.

Klar könnte sich Fabio eine andere suchen, aber er sollte den Typ Mann verkörpern, der sich für unwiderstehlich hält. Marke womanizer: Herzensbrecher, Charmeur, Casanova, von sich selbst überzeugt-, noch dazu tatsächlich gutaussehend ist und nicht begreifen kann/will, wenn eine Frau
gar nicht auf ihn reagiert. Einen Mann mit snobistischen Zügen, (so habe ich ihn ja auch beschrieben) dessen Ego darunter leidet, weil die Angebetete (Cora) ihm kaum Beachtung schenkt, während er sich - über seine Rolle als Fremdenführer - doch mehr erhofft, sie aber bei den Ausflügen nur Interesse für sein schönes Heimatland zeigt; trotz seiner Bemühungen unnahbar bleibt.

Woher er die Zeit nimmt, ihr das alles zu zeigen? Fabio verbrachte doch jedes Jahr seinen Urlaub in dem beschaulichen Badeort, wie er auch Cora erzählt hatte und sie deshalb auch sicher sein konnte, ihn hier wieder zu finden.

Ich wollte den Leser im Glauben lassen, Cora sei einer Sekte beigetreten und erst ganz am Schluss (Überraschungseffekt) auflösen, dass sie bereits im Jenseits weilte (wo sie auch einen biblischen Namen tragen- und es Brüder und Schwestern geben könnte!?) und dort eben keine: "Ruhe in Frieden" fand, nachdem sie von den Klippen gestoßen wurde.

Du fragst, was ihn dazu gebracht hat, sie umzubringen? Aus Wut, Enttäuschung, verletzter Eitelkeit, weil sie drohte ihn anzuzeigen ... vielleicht? Da stellt sich doch die Frage, kann es überhaupt Gründe, geschweige denn eine Erklärung dafür geben, warum ein Mord geschieht?

Im Übrigen muss unter der Rubrik seltsam auch nichts logisch nachvollziehbar sein und ein wenig Verwirrung stiften, lag durchaus in meiner Absicht.
Ob meine Geschichte ausbaufähig ist, muss ich mal in Ruhe überdenken.

Danke für Deine Mühe und Verbesserungsvorschläge!

Liebe Grüße

Darkeyes

 

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