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Mausers Profil
Felix Mauser saß in einem geräumigen Wartesaal und zupfte nervös an seiner gelben Krawatte. Es war sein viertes Vorstellungsgespräch diese Woche.
'Diesmal wird es klappen. Die Stelle ist mir wie auf den Leib geschrieben.', sprach er sich selbst Mut zu.
„Mauser Felix?!“, riß ihn eine hohe, nasale Stimme aus seinen Gedanken.
Prompt erhob sich der mittelgroße, hagere Mann und eilte zum Empfangschalter. Er war etwa Mitte dreißig und doch hatte er bereits ein paar Haarsträhnen, die so grau waren wie sein Anzug.
Die kleine, zierliche Empfangsdame begrüßte ihn mit einem Lächeln, das sich bis zu den Ohren zog. Durch ihre überdimensionale, runde Brille sah sie aus wie eine bizarre Mischung aus Fliege und Breitmaulfrosch.
„Bitte setzen Sie das hier auf und warten auf den Signalton!“, säuselte sie und streckte ihm einen metallenen Helm entgegen. Verdutzt starrte Herr Mauser das seltsame Ding an. Er sah lange Kabel daraus entspringen, die hinter dem Schreibtisch verschwanden. Hilfesuchend wanderte sein Blick von der wunderlichen Kopfbedeckung zu der Breitmaulfliege. Die höfliche Dame jedoch schob ihre Mundwinkel nur noch etwas höher, wodurch diese krampfhaft zu zucken begannen. Mit einem knappen Nicken deutete sie auf den Metallhut in ihrer Hand. Herr Mauser verstand den Wink und nahm ihn ihr endlich ab.
„Darf ich fragen, was das ist?“
Als hätte sie auf ein Stichwort gewartet, sprudelte die Frau aufgeregt los: „Das ist der Characterizer Prototyp 1 B9, eine großartige Erfindung von renommierten Wissenschaftern aus aller Welt. In sekundenschnelle analysiert er die Persönlichkeit eines Menschen und erstellt ein umfangreiches Profil. Wir sind das erste Unternehmen, das damit ausgestattet wurde. Faszinierend, nicht wahr?“
„Ja, ja, in der Tat.....ähm, faszinierend“, murmelte Herr Mauser verwirrt und etwas ängstlich.
Nervös sah die Fliegenfrau auf die Uhr und sagte bestimmt, ohne dabei ihr Lächeln zu verlieren: „Nun setzen Sie den Characterhat bitte auf. Herr Billroth erwartet Sie bereits. Sie wissen ja, Zeit ist Geld.“
Grinsend fügte sie hinzu: „Keine Angst. Es geht ganz schnell und tut auch nicht weh.“
Herr Mauser hatte ein mulmiges Gefühl, doch er wollte die Geduld der netten Dame nicht weiter strapazieren, also gehorchte er. Tatsächlich spürte er gar nichts und etwa zehn Sekunden nachdem er den Helm aufgesetzt hatte, ertönte ein leises Piepen.
„Wunderbar! Vielen Dank, Sie können jetzt reingehen“, verkündete die Sekretärin heiter.
„Äh...danke auch“, stammelte Herr Mauser, setzte den Hut ab und betrat das Büro.
Ein glatzköpfiger Mann, der für seine Körperfülle um mindestens zwei Köpfe zu klein geraten war, saß dort hinter einem dunklen Barockschreibtisch und studierte ein Blatt Papier.
„Grüß gott, Herr Maier“, sagte er, ohne aufzublicken.
„Grüß gott, Herr Billroth. Verzeihen Sie, mein Name ist Mauser.“
„Ja, ja, wie auch immer. Es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie für die Position nicht geeignet sind.“
„Wie bitte? Aber, aber woher....? Ich hab doch noch kein Wort....“
„Das brauchen Sie auch nicht, Herr Maiser. Ich hab hier alles, was ich wissen muss. Schwarz auf Weiß. Mit diesem Profil kann ich Ihnen nur viel Glück für die weitere Suche wünschen.“
Kopfschüttelnd und immer noch in die Lektüre vertieft, fügte er leise hinzu: „Das werden Sie brauchen.“
Herr Mauser war fassungslos. Seine Kehle war ausgetrocknet und er schluckte.
„Ich versteh das nicht. Schließlich haben Sie mich doch eingeladen. Meine Qualifikationen dürften Sie also überzeugt haben.“ Seine Stimme überschlug sich vor Aufregung.
„Beruhigen Sie sich doch. Naja, das dürfte Ihnen wohl schwer fallen bei Ihrer labilen Psyche. In der Tat, ihr Lebenslauf und ihre Berufserfahrung haben mich angesprochen. Doch, wissen Sie, Herr Moser, heutzutage braucht man mehr, um in der Arbeitswelt zu bestehen. Persönliche Eigenschaften, sogenannte Softskills, haben da viel mehr Gewicht, mein Lieber. Das wissen Sie doch bestimmt.“
Er hatte sich bei den letzten Worten erhoben und sah Herrn Mauser nun zum ersten Mal an.
„Ja, das weiß ich...“, murmelte Herr Mauser wie ein trotziges Kind.
„Wie bitte?“
„Ja, das weiß ich,“ wiederholte er laut und war selbst ein wenig überrascht über seinen plötzlichen Mut.
„Ich besitze auch bestimmt alle für die Stelle erforderlichen Eigenschaften. Sie geben mir ja aber gar keine Chance! Was steht denn da überhaupt über mich drinnen?“
„Ist ja gut, zügeln Sie Ihr cholerisches Temperament!“
Widerwillig seufzend, setzte Herr Billroth sich wieder hin und nahm den Ausdruck abermals zur Hand.
„Meinetwegen, Sie wollten es ja nicht anders. Ihr EQ liegt im untersten Grenzbereich. Ihre Hands-on-approach-ability ist nicht vorhanden. Teamgeist, zwei von zwanzig möglichen Punkten. Loyalitätsbereitschaft, drei von dreißig. Soziale Kompetenz unzureichend, gelinde gesagt. Ihr Aggressivitätskoeffizient konnte gar nicht errechnet werden, weil er zu hoch war. Ich will nicht noch mehr ins Detail gehen, das würde Sie nur quälen und ich bin ja kein Unmensch. Wissen Sie, Herr Maurer, es ist mir ehrlich gesagt unerklärlich, wie Sie überhaupt jemals einem Beruf nachgehen konnten.“
Herr Mauser wurde schwindlig.
„Darf ich mich setzen?“
„Ungern, mein Lieber, ungern. Sie verschwenden nur meine und Ihre kostbare Zeit.“
Er setzte sich trotzdem und überhörte Billroths prompten Kommentar: „Hab ich schon Ihren hohen Rebellionsfaktor erwähnt?“
„Das kann alles nicht sein. Ihre Maschine muss sich irren. Haben Sie denn nicht das Empfehlungsschreiben meiner ehemaligen Chefin erhalten? Da wird doch bestätigt, dass ich stets ein loyaler und kompetenter Mitarbeiter war“, sagte der kreidebleiche Mann, nachdem er sich etwas beruhigt hatte.
„Die Maschine, wie Sie sie nennen, irrt sich bestimmt nicht. Schön, dass Sie das Empfehlungsschreiben erwähnen, damit haben Sie gerade selbst wieder die Richtigkeit Ihres Persönlichkeitsprofils bestätigt. Mit Ihrem hohen Naivitätswert haben Sie die lobenden Worte natürlich für bare Münze genommen. Selbstverständlich sind das alles Codes.“
„Codes? Was meinen Sie mit Codes?“
Herr Billroth lachte: „Herrlich! Sie machen mir Spaß. Heutzutage verwenden alle Codes in den Arbeitszeugnissen. Es gibt sogar eigene Bücher, in denen man die wahren Bedeutungen der Floskeln nachschlagen kann. Beispiel gefällig?“
Herr Mauser antwortete nicht und der kleine, glatzköpfige Mann begann vorzulesen:
„Also hier steht: Er hat alle Arbeiten ordnungsgemäß erledigt. Das bedeutet, dass Sie keinerlei Eigeninitiative besitzen.“
Herr Mauser versuchte zu protestieren, doch Herr Billroth unterbrach ihn mit einer mahnenden Handbewegung und fuhr fort: „Weiter im Text: Wir lernten ihn als umgänglichen Mitarbeiter kennen. Das heißt, Sie sind homosexuell.“
„Also hören Sie, das ist doch .....das ist doch nicht wahr. Ich war verheiratet und ich habe eine Tochter....“
„Das beweist doch gar nichts. Der Characterizer attestiert Ihnen übrigens ebenfalls eine siebzigprozentige Neigung zum eigenen Geschlecht. Das ist mir persönlich aber egal, ich bin da sehr offen und Ihre sexuellen Vorlieben gehen mich gar nichts an.“
„Aber ich.....ich bin doch gar nicht...das stimmt doch überhaupt ....“
„Ja, ja, Sie werden schon noch lernen, dazu zu stehen. Es ist ja keine Schande, aber wie gesagt, das ist Ihre Sache. Was den Vogel aber abschießt, ist folgender Satz: Er war aufgrund seiner anpassungsfähigen und freundlichen Art im Betrieb sehr geschätzt. Das sagt mir nämlich, dass Sie Probleme mit dem Alkohol während der Arbeitszeit haben und damit will ich nun wirklich nichts zu tun haben.“
„Ich bitte Sie, ich hab ein einziges Mal eine Flasche Sekt in die Firma geschmuggelt, weil ich mit meinem Kollegen auf dessen Verlobung anstossen wollte. Die Chefin hat uns erwischt, hat aber nur gelacht und selbst ein Glas getrunken.“ Herr Mauser biss sich auf die Lippen.
„Ha! Na sehen Sie! Genial, diese Erfindung ist genial. Sehen Sie, normalerweise nehme ich die Empfehlungsschreiben nicht so ernst, weil manchmal sind es nur persönliche Zwistigkeiten, die den Chef dazu veranlassen einen Mitarbeiter zu verunglimpfen. Aber hier in Ihrem Profil steht ja, dass Sie hochgradig suchtgefährdet sind. Naja, kein Wunder bei Ihrer depressiven und sensiblen Persönlichkeitsstruktur. Vielleicht hat Ihre Frau Sie ja wegen Ihres Alkoholproblems verlassen? Kann das sein?“
„Meine Frau ist mit Ihrem Chef durchgebrannt und getrunken hab ich erst, als sie schon weg war, aber immer nur ein Glas Wein, um besser einschlafen zu können“, murmelte Felix bitter, beinahe ohne die Lippen zu bewegen.
Herr Billroth jedoch hörte ihn nicht mehr. Er hatte sich erhoben und ein Blatt Papier aus dem Drucker entnommen, das er jetzt eingehend studierte. Ohne aufzublicken sagte er: „Nun, wir haben nun wirklich schon mehr als genug geplaudert. Ich habe jetzt gleich ein Gespräch mit dem nächsten Kandidaten, dessen Profil äußerst vielversprechend klingt. Also, ich würde Sie bitten mein Büro jetzt zu verlassen, Herr Meissner.“
„Mauser“, grummelte Herr Mauser und ging grußlos aus dem Raum.
Auf der Straße betrat er die erste Bar, die er sah, und bestellte einen doppelten Whiskey. Jetzt erst bemerkte er, dass in dem Lokal nur Männer waren. Der Kellner zwinkerte ihm zu. Felix lockerte seine Krawatte und zwinkerte zurück. Fünf Whiskeys und zehn Kamikaze-shots später, wankte er aus der Tür. Als er die Kreuzung überqueren wollte, stürzte er und wurde von einem Lastwagen überrollt. Er war auf der Stelle tot.
Am nächsten Tag zeichnete der Anrufbeantworter in Herrn Mausers leerem Wohnzimmer folgende Nachricht auf: „Guten Tag, mein lieber Herr Mauser. Hier spricht Herr Billroth. Es ist meine Pflicht Ihnen mitzuteilen, dass bei der Wartung des Characterizers 1B9 heute morgen eine Fehlfunktion festgestellt wurde. Ihr Profil hat demnach keinerlei Aussagekraft. Das hat mich dazu veranlasst, Ihre ehemalige Chefin anzurufen und sie hat mir versichert, noch nie etwas von irgendwelchen Codes in Arbeitszeugnissen gehört zu haben und empfahl Sie nochmals ausdrücklich als zuverlässigen und kompetenten Mitarbeiter. Daher hoffe ich sehr, Sie verzeihen die Unannehmlichkeiten, die durch diesen Irrtum enstanden sind und ich würde mich sehr freuen, Sie zu einem erneuten Gespräch begrüssen zu dürfen. Auf Wiederhören!“