Mitglied
- Beitritt
- 07.10.2015
- Beiträge
- 515
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 13
Maureen
Als ich die unbefahrene alte Landstraße entlangging, die sich zwischen den Kuppen der umliegenden Hügel durch das Tal zog, kam mir als erster Mensch, den ich heute auf meinem Spaziergang sah, eine Frau entgegen. Am Lenker des alten Fahrrads, das sie schob, hingen Milchkannen. Sie trug einen schweren Rock, um den sie vorn aus leichterem Stoff eine Schürze gebunden hatte, von deren seitlich geschnürtem Knoten breite Bänder herabfielen. Um den Hals hatte sie ein Tuch gelegt. Sie hob den Kopf und grüßte.
Ich bog von der Straße in den Pfad ein, von dem die Unbekannte gekommen war. Zwischen zwei Hügeln stieg ich eine Bodenschwelle hinauf, ging hinter ihr wieder abwärts, und gelangte an einen See, in dessen Mitte sich auf einer Insel die aufragenden Mauerreste einer Kirche erhalten hatten. Das Bild erkannte ich wieder. Der schmale und klobig ausgeführte Turm, das winzige Schiff hätten mich an eine Einsiedelei denken lassen, wenn ich nicht von meinem ersten Besuch in dieser Gegend vor vielen Jahren wüsste, dass die Insel nur den höchsten Punkt eines Weilers markierte, dessen Bewohner Maßnahmen zur Gewässerregulierung hatten weichen müssen, indem der Seespiegel bis zu seiner jetzigen Höhe aufgestaut und die Hütten unter Wasser gesetzt worden waren. Zunächst, so sagte mir ein Alter, der damals eine Strecke mit mir ging, haben die Dächer noch aus dem Wasser geragt, seien dann aber bald mit dem Mauerwerk aufgrund der ständig an dessen Standfestigkeit nagenden Feuchte eingefallen.
Wenn ich nun weiter über die Wiesen und Felder ging, musste es möglich sein, einen Landsitz wiederzufinden, der mir damals zunächst durch seine äußerliche Geschmacklosigkeit Eindruck gemacht hatte, in seinem Innern jedoch ein Werk des Künstlers Lucian Freud enthielt, das mich über die Grobheit des Gebäudes hinweggetröstet hatte. Ich bekam Lust, dieses Bildnis wieder aufzuspüren.
Wirklich sah ich von fern bald licht stehende Akazien, die mir einen Park anzeigten. Ich erkannte ihn als denselben, wie er mir in Erinnerung war. Die Umfassungsmauer öffnete sich zu einem Tor, und auch dessen starke Pfeiler mit ihren steinernen Kugeln obenauf erschienen mir bekannt. Ich wunderte mich allenfalls, dass auf den Wegen, die durch den Park führten, vollständig die Besucher fehlten. Die allerorten dem Landschlösschen aufgesetzten Türme, die ebenso wenig wie die breiten, hohen Fenster der Verteidigung zuträglich waren, der dieser Platz in romantischer Verklärung zu dienen vorgab, hatte ich nicht in derselben Klarheit in Erinnerung.
Aber die breiten Treppenstufen vor dem Portal waren doch ohne Zweifel eben die, auf denen ich damals am Ende meines Besuchs noch eine lange Weile gestanden hatte. Ich hatte die hinein- und herausströmenden Besucher an mir vorbeiziehen lassen und wollte noch nicht gehen, wollte noch, obgleich ich ja das Museum bereits verlassen hatte, die Verbindung zu dem Mädchen halten, das ich innen abgebildet gesehen hatte: Wie es den Kopf, den es auf den Ellenbogen stützte, aus dem Bett hob. Ich stand ganz unter dem Eindruck dieses Bildes, hatte sogar das unbedingte Verlangen, umzukehren und die Bettdecke, unter der das Mädchen, wie man an der bloßen Schulter, die herausragte, gewiss erkennen konnte, nackt sein musste, anzuheben und sie schützend höher um seinen Hals zu schließen, so als könnte und dürfte ich es nur mit dieser Bettdecke umarmen. Mit seinen großen Augen kam es mir vor, als würde ich es schon lange kennen.
Ich musste nicht fürchten, von Neuem in den Bann zu geraten, den mir diese Erinnerung lebendig machte, denn wie ich dem Schloss näher kam, klärte sich mir zugleich auf, warum niemand außer mir zugegen war. Über die ganze Länge der diesseitigen Fassade hingen Plastikplanen in den leeren Fenstern. Bauzäune grenzten den Zugang ein. Das Museum war offenbar nicht in Betrieb. Die Tür aber ließ sich öffnen.
Wenngleich im Innern nichts außer den fehlenden Fenstern auf eine Baustelle hindeutete und sogar Polstersessel und schwere Tische vor Ort geblieben waren, war doch alles von größerem Wert aus den Zimmern genommen. Ich konnte ungehindert durch die Flure gehen und die Räume betreten. Der geschliffene Parkettboden glänzte im stumpfen Licht.
Auf der rückwärtigen Terrasse hingegen war Bauschutt aufgeschichtet, der es unmöglich machte, den Garten zu betreten. Unter einzelnen im grauen Staub sichtbaren Trümmern und Scherben fiel mir ein Spazierstock auf, den ein kunstvoller Silberknauf schmückte. Um diesen tat es mir leid, so dass ich bis zu den Knöcheln versinkend in die Halde hineinstieg, um den Stock aus dem Dreck herauszuziehen. Mit einem Taschentuch wischte ich den Fund ab. Er lag mir angenehm in der Hand und ich erprobte ihn mit Vergnügen, indem ich daran durch die langen Flure auf und ab ging.
Ob ich der Frau, jener Greisin, die am Fahrrad ihre Milchkannen nach Hause trug, bei meinem ersten Besuch schon einmal begegnet sein mochte, und ob sie damals wohl bereits ebenso schwere Röcke getragen hatte, fragte ich mich, denn es schien mir in der spärlich besiedelten Landschaft nicht unwahrscheinlich, dass die wenigen, die sich gleichzeitig in ihr aufhielten, auch tatsächlich aufeinander treffen mussten. Während ich mich jetzt an das Gesicht der Frau zu erinnern versuchte, erschien es mir weit weniger alt, als im Moment unserer Begegnung. Die Frau, dachte ich schwermütig, dürfte damals, als ich sie womöglich ein erstes Mal gesehen hatte, kaum weniger jugendlich gewesen sein als ich.
Mir war ein maurisches Badehaus in Erinnerung, das zwar in seiner Maskerade ein ebenso falsches Spiel trieb, wie das Ritterschloss, das ich eben verließ, dabei aber ein feineres Garn spann. Die Vorstellung war mir angenehm, dort unter einer Galerie zierlicher Säulen die späten Sonnenstrahlen zu beobachten, die nun gelegentlich unter den Wolken hervorleuchteten.
Ich fand nirgends einen Hinweis darauf, an welcher Stelle in dem weiten Park dieses Badehaus zu finden sein mochte, hielt es aber nicht für irrig, einem Bach zu folgen, der womöglich in den Seerosenteich münden konnte, den das Gebäude mit seinem Säulenrund umschloss. Der Weg wechselte auf das andere Ufer. An der steinernen Brücke, die ich überqueren musste, saß ein Mann und bettelte.
So befremdlich mir das Geschäft an diesem Ort erschien, da doch, so lange das Schloss renoviert wurde, schwerlich einmal jemand hier vorbeikommen sollte, so richtig schien es mir in diesem Moment, dem Bettelnden drei Münzen in den Hut zu werfen als meinen billigen Beitrag, um hinüber zu kommen. Er sah nicht auf. Recht so, sagte ich mir. Wenn ich ihn denn als den Fährmann ansehen wollte, der mich ans andere Ufer schaffte, so durfte ich nicht erwarten, dass er mir dafür Dank sagte.
Die Akazien wichen bald wieder ganz der trockenen Weide, die das Umland prägte. Ich musste mir eingestehen, dass ich den Park hinter mir gelassen hatte, wenngleich zu dieser Seite keine Mauer und kein Tor standen, die seine Grenze markierten. Unter den Wolken leuchtete noch immer die Sonne her. Es tat mir leid, umkehren zu müssen. Da aber in dieser Richtung das maurische Badehaus sicher nicht mehr zu finden war, hielt ich zwar wohl noch einen Moment inne und stand mit beiden Händen auf den Silberknauf meines Stocks gestützt, wandte mich aber schließlich doch wieder dem Schloss zu.
Unter einem einzeln stehenden Baum am Weg reckte sich und sprang ein Junge, beinahe ein Mann, und konnte trotz aller Anstrengungen selbst den untersten Ast nicht erreichen. Er wollte wohl dem Mädchen, so dachte ich, das neben ihm stand und die gefalteten Hände vors Gesicht hielt, während es um den Erfolg bangte, einen Apfel pflücken, denn solche hingen, wie ich im Näherkommen sah, in den Zweigen.
Tatsächlich aber hatte sich eine Halskette, die der Junge dem Mädchen erst geschenkt hatte und die diesem daher viel bedeutete, im Blätterwerk verfangen. Eine Elster hatte die Kette gestohlen, als das Mädchen, das jetzt in ein großes Handtuch gewickelt stand, sie abgelegt hatte, um drüben im Bach zu baden. Die Diebin hatte den Raub bald wieder fallengelassen, und nun hing er dort oben, beinahe mit der Hand zu greifen. Mit meinem Stock, den ich im Schloss gefunden hatte, konnte ich helfen. Der gebogene Griff machte es möglich, die Kette zu fassen und aus dem Geflecht zu befreien, ohne sie dabei zu zerreißen.
„Wenn doch alles so eine glückliche Lösung fände“, sagte der Junge. Mit einem Mal war aus seinen Zügen das Leben gewichen, er schaute aus hohlen Augen auf den Boden.
„Sein Schwesterchen ist krank“, sagte das Mädchen. „Es geht um Leben und Tod, in diesen Tagen muss sich zeigen, ob die Medizin wirkt. Etwas anderes können die Ärzte nicht mehr geben.“ Sie legte den Arm um ihren Geliebten.
Der Junge mochte mich nicht ziehen lassen, ohne mir zum Dank etwas zu geben. Als einzigen Gegenstand fand er einen hölzernen Becher bei sich. Mit dem Mädchen habe er daraus getrunken, niemand anderem als mir gönne er noch, ihn zu benutzten. Gerührt über diese so unbeholfen wie aufrichtig bezeugte Zuneigung konnte ich das Geschenk nicht ausschlagen.
Ich meinte von der steinernen Brücke aus, an der der Bettler gesessen hatte, in ganz gerade Richtung vorwärts gegangen zu sein, und so glaubte ich auch, dass ich sie nun im Zurückgehen immer demselben Weg folgend zuverlässig wieder erreichen müsste. Ich war jedoch offenbar vom ursprünglichen Weg abgewichen und unachtsam einer Abzweigung gefolgt, denn ich geriet nun zwar wiederum in den lichten Hain aus hohen Akazien, fand aber den Bach und die Brücke nicht mehr.
Auf einem Fels, den ich erstiegen hatte, um über die Baumkronen hinweg mir in der beginnenden Dämmerung einen Überblick zu verschaffen, wohin ich mich wenden konnte und ob in der Ebene wohl eine Ortschaft oder eine Straße auszumachen war, saß eine Frau. Sie sah mich an und ich erkannte dieselbe, die mir am Morgen begegnet war.
Sie stand auf, wies auf die dichter werdenden Wolken und bedeutete mir, mit ihr zu kommen, denn, so sagte sie, vor dem Gewitter würde ich sonst keinen sicheren Unterstand mehr finden. Wir gingen schweigend nebeneinander her und nur selten wagte ich seitwärts einen Blick zu ihrem Gesicht, denn sie sah unbeirrt auf den Weg.
Sie hatte mich in ihr Haus geführt, da schlugen ringsum die Blitze ein. Wir standen am Fenster und hörten dem furchtbaren Sturm zu. Tropfen schlugen an die Scheiben. Du sollst die nassen Kleider ablegen, sagte sie, unbekümmert darum, dass der Regen erst begonnen hatte.
Sie legte mir einen Morgenmantel bereit, in dem ich mich hernach auch tatsächlich zu ihr an den Tisch setzte. Sie schaute beim Essen selten vom Teller auf, lächelte dann stumm und senkte wieder den Kopf. Immer von Neuem stand sie auf, lief in die Küche und holte aus dem Steinofen geröstete Austern hervor, deren Schalen sich in der Glut gerade erst geöffnet hatten.
Ein Mädchen fiel mir ein, das ich einmal im Sommerurlaub über mehrere Wochen jeden Tag zur selben Zeit heimlich traf. Nie verstand einer von uns ein Wort, das der andere sagte. Die gurrende Laute, die sie von sich gab, wenn sie in meinen Armen lag und mir etwas erzählte, dessen Sinn ich nicht verstand, lockten mich mit einer besonderen Zärtlichkeit. Ich fühlte mich von der unbekannten Lebensgeschichte eingehüllt, an der ich teilnahm, ohne mehr von ihr zu wissen.
Warum diese Erinnerung aufstieg, konnte ich mir nicht erklären, aber sie bewirkte, dass mir die Greisin selbst hinter ihren Falten wieder wie ein junges Mädchen erschien, und ich hätte gerne ihr Gesicht berührt, um meine Fingerspitzen an den zarten Linien entlang zu führen.
Dieses ungestillte Begehren ließ mich so wenig los, dass mich in der Nacht kräftige Träume umherwarfen, von denen ich am nächsten Morgen bei all ihrer betörenden Lebhaftigkeit nicht hätte sagen können, ob sie mir die Alte oder doch meine fremde Freundin von damals in die Arme gegeben hatten.
Auf einem Stuhl neben dem Bett fand ich neue Kleider. Die eigenen konnte ich nicht anziehen, denn Maureen, wie die Greisin hieß, hatte sie noch in der Nacht gewaschen und nun hingen sie zum Trocknen in einem gläsernen Schmetterlingshaus, das an die rückwärtige Seite des Hauses angebaut stand. Maureen zeigte mir die Kokons, die an den Blättern hingen, und sie führte mich durch die angepflanzten Sträucher, um mir zu jedem Gehäuse den zugehörigen Falter zu zeigen.
Sie bat mich, für uns einen Gang zu tun, denn einer von uns müsse Milch holen. Der Weg sei leicht zu finden, es gehe immer geradeaus. Sie füllte mir die leeren Austernschalen vom Abend in einen groben Sack. Mit diesen sollte ich bezahlen.
Ob ich am richtigen Ort sei, fragte ich einen Mann, der am öden Weg vor seinem Haus stand und mit einem Hammer Pflöcke in die Erde trieb, um einen neuen Zaun daran hochzuziehen.
Ich reichte ihm, was mir Maureen zur Bezahlung mitgegeben hat. Der Mann fluchte, nahm die leeren Schalen gleichwohl ohne Zögern entgegen und ging mit meinen beiden leeren Kannen über den Hof.
„Ja, so ist er, denken Sie sich nichts“, rief mir eine junge Frau aus einem Fenster von oben her zu. Mir schien, als ich zu ihr aufsah, dass sie mich mit ihrem Lächeln geradezu anfasste, so nah berührte sie mich damit, dabei wusste ich aber umso weniger, was ich zu ihr sagen sollte, denn auch sie sagte nichts, sondern lächelte nur freimütig und sah mich von oben aus ihrem Fenster an. Ich war froh, als der Alte die Milch brachte und mich entließ.
Die Frau lehnte sich weit aus dem Fenster, stützte sich auf dem Rahmen auf, um mit dem Oberkörper weiter herauszureichen: „Und wenn Sie etwas brauchen, kommen Sie doch wieder. Wir haben immer frische Milch.“ Als ich mich nach einigen Schritten zur Hütte umwandte, sah sie mir immer noch nach. Ich hob halb die Hand. Sie winkte mir zurück. Der Alte schaute nicht auf, während er wie zuvor seine Arbeit verrichtete.
Es mochte zu der unerfreulichen Begegnung passen, dass ich ihren Ertrag auch anders zur Hälfte verdorben fand, insofern nämlich die Milch in einer der Kannen sauer war. „Umso besser“, sagte Maureen, denn ohnehin sei ihr, als werde sie an diesem Ort festgehalten und müsse dem Alten einen Frondienst tun, indem sie täglich bei ihm ihre Milch hole, obgleich sie diese Mengen niemals verbrauchen könne. „Ach“, sagte sie, „ich kenne ein anderes Leben.“ Ich konnte mich nicht zurückhalten, nach der jungen Frau zu fragen, doch Maureen wusste nichts von ihr.
Ich trug die verdorbene Milch in die Küche und kippte sie in den Ausguss. Zwischen den käsigen Brocken fand ich im Spülbecken einen goldenen Ring, der offenbar versehentlich in die Kanne gefallen war. Ich wusch ihn sorgfältig und steckte ihn in die Tasche, um ihn am folgenden Tag zurückzugeben. Dabei verursachte mir der Gedanke, mich dem Hof des Alten ein weiteres Mal zu nähern, einen unerklärlichen Ekel, der wenig zu dem schönen Gesicht passte, das ich dort gesehen hatte.
Ich musste lange geschlafen haben, denn die Sonne stand hoch, als ich am anderen Morgen die Haustür öffnete, um die Spuren eines Unwetters anzusehen, das in der Nacht wiederum aufgekommen sein musste, ohne das ich etwas davon bemerkt hatte. Äste, die der Sturm geknickt hatte, lagen auf dem Weg. Wo der Boden sich zu Mulden absenkte, hatten diese sich mit Hagelkörnern gefüllt. Ich ging um das Haus und fand Maureen auf der Erde kauernd dort, wo sie mir noch gestern das Schmetterlingshaus gezeigt hatte. Dessen Scheiben waren zertrümmert. Sie suchte mit den Händen die zwischen den Sträuchern liegenden Raupen zusammen und sammelte sie in einem Korb. Bunte Flügel lagen zwischen den Scherben. Ich ließ mich neben Maureen nieder, hob, wo immer ich sie sah, eine Raupe auf. Manche bewegten sich noch. „Ach lass“, sagte sie. Sie kippte den Korb um und ließ die Tiere ins Gras kullern, wo sie sich zusammenrollten. „Es ist doch nun einmal vorbei.“
Dass der Hagel mit dem Glashaus auch meine Kleidung zerstört hatte, tat mir nicht leid. In den Kleidern, die Maureen mit gegeben hatte, fühlte ich mich wohl.
Sie ließ mich diesmal nicht zu dem Alten gehen, sondern führte mich zu einem Ackerstück, das sie mit eigener Hand bewirtschaftete, wozu sie aber in diesem Jahr, wie sie sagte, keine Kraft gefunden hatte. Ich versprach ihr, die Arbeit zu tun.
Maureen zeigte mir eine Grabgabel und half mir in ein Paar klobiger Stiefel. Schuhe, Mantel und den silbernen Stock legte ich neben dem Feld ab. Unter der oberen staubigen Schicht war der Boden feucht und schwer. Ich drückte die Zinken mit dem Gewicht meines Körpers nach unten. Die ungewohnte Arbeit strengte mich an. Ich hatte erst wenige Klumpen Erde ausgehoben und umgeworfen, da schien es mir schon kaum möglich, dass meine Kräfte nur bis zum Ende der Reihe durchhalten sollten. Mit jedem Schritt vorwärts ging es jedoch leichter, und schon nach kurzer Zeit hatte sich eine Gewöhnung eingestellt, so dass ich nun ganz im Gegenteil nicht nur meinte, ohne weiteres bis zum Abend so arbeiten zu können, sondern mit der neu gewonnene Kraft sogar eine ausgesprochene Lust dazu bekam.
Wirklich schickte ich Maureen, die mich am Mittag zum Essen in Haus holen wollte, ungeduldig wieder fort und brachte sie dabei zum Lachen über mein Ungestüm. Sie sah mir noch eine Weile zu, dann ließ sie mich.
Eine unverhoffte Störung litt meine Arbeit erst, als ich den Alten von der Meierei die Böschung hinaufkommen sah. Mir war gestern nicht aufgefallen, wie gebückt er ging. Er schlich mit schleifenden Schritten hangaufwärts. Er ging nicht, wo die Erde weich war, sondern auf dem durch das Gras gefestigten Boden um den Acker herum.
„Du bist am Morgen nicht zu uns gekommen“, sagte er. „Meine Nichte hat dich vergebens erwartet.“
Ich tastete nach dem Ring in der Tasche. „Es gibt hier zu tun“, sagte ich kühl.
„Junge“, sagte er, „komm, wenn du fertig bist, und ruh dich bei uns aus.“ Er stand jetzt aufrecht und stützte die Hände in die Hüften, um seinem Rücken Halt zu geben. Ein widerwärtiges Verlangen bedrängte mich, seiner Einladung nachzukommen und, genau wie er es hoffte, die junge Frau, die ich am Fenster grüßend vor mir sah, in die Arme zu schließen. Ich sah vor Augen, wie ich in ihr Zimmer unterm Dach trat, wie sie sich grinsend umwendete, ohne den Platz am Fenster zu verlassen, und wie ich mich viehisch an ihren Leib drängte, während sie wohlig grunzte. Das sah ich vor mir, ganz so als hätte der Alte rundheraus gesagt: „Ich wünsche sie trächtig.“
Ich fühlte mich wehrlos gegen den unbequemen Drang, den kupplerischen Bund mit dem Alten zu festigen, und so ließ ich die Grabgabel los, an der ich mich bisher gehalten hatte, um mich nach dem silbernen Stock zu bücken, den ich zusammen mit meinem Mantel und den Schuhen am Rand des Ackers abgelegt hatte. „Hier“, sagte ich zum Alten, „nimm, damit dir der Rückweg leichter fällt. Ich komme ihn holen, wenn ich hier zu Ende bin.“
Der Mann fluchte, wie es seine Art war, wollte erst nicht und griff dann doch nach dem Stock. Ich werde den Ring bringen und den Stock abholen, dachte ich noch immer mit Heftigkeit, aber schon wie ich den Mann weggehen sah, wuchs bereits, je mehr er sich von mir entfernte, die Sicherheit, dass ich den Ring niemals zurückgeben würde und dass der Stock mit dem Silberknauf für meinen Fund Entschädigung genug sein musste.
Ich hatte den Dienst für meine Gastgeberin wieder aufgenommen, da verfing sich die Grabgabel jäh. Der äußere Zinken hatte sich in ein Stück Stoff gebohrt, so dass er am Boden festgehalten wurde wie in einer Schlinge. Ich versuchte, den Fetzen zusammen mit dem Erdklumpen, an dem er hing, herauszureißen, aber es gelang nicht. Der Stoff war fest im Boden eingegraben. Indem ich mich niederkniete und die Grabgabel am Schaftansatz führte, scharrte ich ihn mehr und mehr frei, kratzte mit den Metallspitzen die schwere Erde locker und schob sie mit den Händen beiseite. Der Gedanke erschreckte mich, ich mochte ein Gewand entdeckt haben, das noch immer einen menschlichen Körper umhüllte. Zaghaft grub ich. Auszuholen und kräftig in die Erde hineinzustechen wagte ich nicht. Ich wurde ruhiger, als ich das Brautkleid, für das ich den nach und nach freier werdenden Stoff erkannte, mit den Händen weitgehend anheben konnte und mich, wenn es auch noch zu großen Teilen im Boden steckte, furchtsam vergewisserte, dass ich nichts als das leere Gewebe in den Händen hielt. Schließlich konnte ich mit einem Ruck den letzten Zipfel des Saums aus dem Erdreich ziehen. In guter Stimmung setzte ich meine Arbeit fort, wenn mir doch auch das weiße Bündel, das ich am Rand des Beets niederlegte, nicht ganz geheuer werden konnte.
Ich fühlte meine Glieder schwer, als mir Maureen am Abend die Erde von den Füßen wusch. Sie kniete bei mir und ich kämmte mit den Fingern durch ihr seitlich gescheiteltes Haar. Blasen hatte ich an den Händen, von denen ein sanfter lindernder Schmerz ausging, wenn ich die Handflächen bei der Greisin auf die Schultern legte und ihre Haut berührte.
Maureen hatte über den Tag das stehen gebliebene Gerippe ihres Schmetterlingshauses niedergerissen und die Glasscherben weggeräumt. Das Holz war zu einem Feuerhaufen aufgeschichtet, den ich nun anzünden sollte. Als die Flammen ausschlugen, legte sie das merkwürdige Brautkleid, das ich ihr aus dem Acker gebracht hatte, auf den Bretterstoß, so dass es verbrannte.
Die Hitze und die getane Arbeit machten mir Durst, und wir tranken gemeinsam die letzte Milch von der guten Kanne. Maureen trank mit mir aus dem hölzernen Becher, den der Junge mir geschenkt hatte, und mir wurde es ein immer lieblicheres Spiel, meinen Mund genau dort an dem Rand anzusetzen, wo ich zuvor heimlich ihre Lippen beobachtet hatte. Ich wusste mich entdeckt, als sie den letzten Schluck getrunken hatte, denn wie sonst konnte sie darauf bestehen, den Becher in die Flammen zu werfen. Ich mochte ungern zustimmen, da mir das Gefäß gerade erst doppelt teuer geworden war, wagte aber kaum zu widersprechen, aus Furcht, über meine verstohlenen Küsse Auskunft geben zu müssen. „Niemand soll nun mehr daraus trinken“, sagte sie. „Komm, die Nacht ist kalt.“ Sie führte mich an der Hand zurück ins Haus. Nur das Feuer draußen gab durch die Fenster Licht. Wir wärmten uns aneinander und ich fand mein Glück darin, mir einzugestehen, wie lieb mir die zarte Greisin geworden war.
Die Freude, die mir ihre Nähe bereitet hatte, wandelte sich in einen tiefen Schmerz, als ich am Morgen allein in meinem Raum erwachte, denn mir stand klar vor Augen, dass wir Abschied nehmen mussten. Ich steckte Maureen den Ring, den ich für den silbernen Stock getauscht hatte, an den Finger. „Ich wünschte, du könntest bleiben“, sagte sie.
Sie erklärte mir, dass ich unmöglich den ganzen Weg zu Fuß zurückgehen könne, es sei eine Strecke von drei Tagen. Das konnte nicht stimmen. Ich ließ mich dennoch darauf ein, auf den Spaziergang zu verzichten und mich von ihr zu einer Bahnhaltestelle führen zu lassen, die ganz nah liegen sollte.
Und wirklich zog sich, nur wenig über das Feld hinaus, das ich umgegraben hatte, und von Weiden verborgen, die Schleife eines schmalen und dennoch nicht einfach zu durchwatenden Flusses hin.
In dessen Mitte fand ich auf einem flachen Felsen festen Halt, wendete mich um und rief Maureen zu, sie solle mir doch folgen und mit mir kommen. Tatsächlich setzte sie ihre Füße auf die losen Steine, ich sah sie mit den Händen behutsam das Gleichgewicht suchen. Dann rutsche sie aber und fiel, so dass sie sich zwar auf dem Findling rechtzeitig wieder fassen konnte, während aber doch das Bein, mit dem sie den Halt verloren hatte, ins Wasser glitt. Sie suchte so nah am Ufer mit der Fußsohle Halt, fand aber keinen und stieß tief ins Wasser, ganz so als sei es dort tiefer geworden, seit ich die Stelle passiert hatte. Ich streckte die Arme nach ihr aus, wie um sie zu stützen, konnte aber über die Entfernung nichts ausrichten.
„Geh nur“, sagte sie, als sie wieder stand. Sie zeichnete mit dem ausgestreckten Finger meine Augen und Lippen in die Luft. So sah sie mir nach.
An der Haltestelle auf der anderen Seite saß das junge Liebespaar auf einer Bank. „Das Schwesterchen lebt“, rief mir das Mädchen strahlend zu. „Wir sind jetzt Mann und Frau“, rief sie lauter gegen den Lärm des einfahrenden Zuges. Aus dem Fenster winkte ich noch einmal den Verliebten. Sie sprangen von der Bank auf und riefen mir fröhlich Worte zu, die ich durch die geschlossenen Scheiben hindurch nicht verstehen konnte.
Ich wollte sehnlichst ein letztes Mal auf das Haus blicken, in dem ich die vergangenen Tage zu Gast gewesen war, aber die Anhöhe hinter dem Bach und die dichten Büsche verstellten mir den Blick. Ich erschrak, als ich stattdessen im Vorbeifahren hinter dünnerem Strauchwerk, das die Sicht in die Landschaft ausreichend freigab, die Meierei des Alten und seiner Nichte in verkohlten Trümmern stehen sah.
Das Landschloss war durchaus in Betrieb, sagte man mir, eine Renovierung sei dort nicht im Gange. Ich nahm mir vor, am folgenden Tag hinzugehen, um schließlich doch das Bild des Mädchens wieder zu sehen. Von der Bahnhaltestelle, an der ich eingestiegen war, wusste man im Hotel hingegen nichts. Nur den See gleichen Namens kannten sie, der vordem das Dorf verschluckt hatte.