Mauerfall
Als ich auf die Straße trat, fuhr ein eisiger Wind durch meine Haare, und meine Finger wurden furchtbar kalt. Ich hätte auf meine Mutter hören sollen, wie immer, mir etwas Wärmeres anziehen und die hässliche Wollmütze aufsetzen sollen, die überhaupt nicht zu mir passte. Aber wann tat ich das schon, auf andere Menschen hören. Das passte auch nicht zu mir, noch weniger als die Mütze.
Während ich Richtung Wald abbog, tönten immer noch die Klaviermusik und die diktatorische Stimme meines Lehrers durch meinen Kopf. Beethoven hatte ich spielen müssen; meine Mutter mochte Beethoven und mein Klavierlehrer wohl noch mehr. Und so spielte ich, jeden Tag sechzig Minuten, auf und ab, bis meine Finger wehtaten und meine Mutter zufrieden war - der Lehrer aber immer noch nicht, er sah kein Talent in mir. Man gewöhnte sich daran.
Es wurde ruhiger um mich herum. Der Kies knirschte unter meinen Schuhen, während ich mich von den Straßen und Häusern der Nachbarschaft entfernte. Hier waren fast keine Menschen mehr, abgesehen von Rentnerpaaren und Hundebesitzern, die ihre Lieblinge gesittet neben sich herführten. Doch auch die verschwanden bald, denn ich ging weiter als die anderen Menschen, viel weiter rein in den Wald, bis es nur noch Trampelpfade gab und keine Wege.
Es war Mittag, als ich den Fluss erreichte. Er war nicht breit, und an den meisten Tagen war das Wasser trüb. Ich lief ein Stück flussaufwärts, bis ich die Brücke erreichte - schmal, mit rostigem Geländer, nur selten von einer Menschenseele betreten. Manchmal hatte ich mir vorgestellt, wie sich hier einmal heimlich Pärchen getroffen hatten, oder verheiratete Männer mit ihren Geliebten. Auch ich hatte einmal ein Mädchen gehabt, aber das war lang her.
Ich lehnte mich ans Geländer und starrte ins Wasser. Beethoven, überall in meinem Kopf Beethoven. Und der Mauerfall. Wie sie doch alle gingen, verdammt, wie sie alle gingen und ich hier blieb. Mit meiner Mutter, mit dem Klavierunterricht, mit einem kommunistischen Großvater. Ich hatte viel gehört vom Westen, und von Amerika, und von der ganzen Welt - betreten würde ich sie möglicherweise nie.
Es ertönte ein Klirren. Ich drehte mich um und blickte auf der anderen Seite der Brücke ins Wasser. An einem Stein, nahe des Ufers, war eine Glasflasche angespült worden. Ich lief hinunter, und dabei dachte ich an die Familie von gegenüber, die vor zwei Tagen ihr Haus vekauft und die Stadt verlassen hatte, so wie viele andere.
Wer würde mir hier noch bleiben?
Als ich die Flasche aus dem Wasser zog, sah ich den Zettel in ihrem innern, und den Korken, mit dem sie jemand verschlossen haben musste. Ich öffnete sie und zog den Zettel heraus; zerknittert war er und abgegriffen.
Alle gingen sie, verdammt. Warum ich, warum blieb ich? Was hielt mich?
Ich faltete den Zettel auseinander. Die blaue Tinte war ein wenig verlaufen auf dem Papier; es sah aus wie die Schrift eines Mädchens oder einer jungen Frau.
Weil meine Mutter dieses Land liebte, darum blieb ich.
Dass ich meine Mutter liebte, das hielt mich.
Und ich las.
Alle Welt sehnt sich nach Frieden,
Reicht den Völkern eure Hand.
Wenn wir brüderlich uns einen,
Schlagen wir des Volkes Feind!
Laßt das Licht des Friedens scheinen,
Daß nie eine Mutter mehr
Ihren Sohn beweint.
Ich las, und die Stimmen der Nachbarskinder ertönten in meinem Kopf. Die der Mädchen, die hoch und zart klangen, und die der Jungen, stolz und kräftig.
Ich nahm die Flasche, stopfte den Zettel wieder herrein und verkorte sie. Dann warf ich sie zurück in den Fluss, und sie zersprang an einem Stein; die Glasscherben wurden von den Wellen verschlungen. Fort waren sie, diese Worte. Fort von mir, fort aus dieser Welt. Sie hinterließen Leere. Aber vielleicht, und an diese Hoffnung klammerte ich mich, ja vielleicht bildete diese Leere einen Anfang.