Matumbaka und das Weihnachtsfest
Es war Sonntagabend, der letzte Ferientag, und gerade als ich es am wenigsten gebrauchen konnte, klopfte es an der Tür. Ich verwaltete gerade meine Bücher, stapelte sie auf meinem Schreibtisch, geordnet nach Fächern, Mathematik, englische Grammatik, Chemie, um sie dann Stapel für Stapel in alphabetischer Reihenfolge in meinem Bücherschrank zu verstauen. Ich hatte also mehr als genug damit zu tun, die natürliche Ordnung in mein Zimmer zurückzubringen, als dass ich Gesellschaft gebrauchen konnte. Den Klopfenden kümmerte das aber anscheinend nicht. Er gönnte seinen Knöcheln und mir keine Ruhe und prügelte geradezu auf die Tür ein.
Ich öffnete, und vor der Tür stand ein Junge in meinem Alter mit einer braunen Lederjacke, einer hellblauen Sporttasche und einer Fankappe vom 1. FC Köln.
„Hallo“, sagte der Junge und reichte mir seine Hand, „ich bin Fred.“
„Hubertus“, murmelte ich, streifte kurz seine Hand und wendete mich dann wieder meiner Arbeit zu.
Fred trat ein und ging auf mein Bett zu. Ich protestierte. Seit drei Jahren hatte ich schon das Bett am Fenster, erklärte ich ihm. Er als Neuankömmling musste sich mit dem Bett am Schrank zufrieden geben. Fred lenkte ein und setzte sich auf sein neues Bett, die Tasche mit seinen Sachen auf den Knien und plapperte sofort los, erzählte von sich, woher er kam und was ihn in unser Internat geführt hatte. Ich brummte gelegentlich, was nicht als Antwort gemeint war, sondern ihm klarzumachen sollte, dass ich mich auf meine Arbeit zu konzentrieren hatte, die darin bestand, drei weitere Bücherstapel zu ordnen.
Endlich gab Fred auf, zog die Kappe des 1. FC Köln aus, ließ sich auf sein Bett fallen und kickte die hellblaue Sporttasche mit seinen Habseligkeiten einfach mitten in den Raum. Nach kurzer Zeit schlief er ein und schnarchte bald so laut, dass ich meine Arbeit, die ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Konzentration erforderte, aufgeben musste.
Keinen sehr hilfreichen Zimmernachbarn habe ich da zugeteilt bekommen, dachte ich, bevor ich einschlief.
Am nächsten Morgen setzte ich mich an meinen Stammplatz in die erste Reihe des Klassenzimmers und packte behutsam meine Utensilien für die erste Unterrichtsstunde nach den Ferien aus. Langsam kamen die anderen Schüler herein, manchmal einzeln, meistens zu zweit, und suchten sich Plätze weiter hinten im Raum aus. Schließlich betrat auch Fred den Raum, schaute sich kurz um, bis sein Blick an mir hängen blieb und setzte sich neben mich. Besser gesagt: er flegelte sich ohne zu fragen auf seinen Teil unserer Bank und verteilte seine Hefte und Stifte auf unserem gemeinsamen Tisch. Aber anstatt die Demarkationslinie zu respektieren, die unsere beiden Tischhälften in seine und meine teilte, anstatt seine Sachen ordentlich am Tischrand ausgerichtet vor sich zu legen, wie ich es tat, warf er sie einfach auf die Tischplatte und nahm dabei billigend in Kauf, dass zwei Bleistifte und die Spitze eines Radiergummis weit in meine Tischhälfte hineinragten.
Ich protestierte und zog mit meinem Lineal die Grenze nach. Dabei schob ich Freds Radiergummivorposten in sein Hoheitsgebiet zurück und machte ihm gleichzeitig klar, dass ein erneutes Überschreiten der Grenze ernsthafte Folgen für ihn haben würde.
Fürs erste hatte ich mir mit dieser Aktion Respekt verschafft. Aber es kam bald schlimmer.
Frau Kröhlein betrat die Klasse, begrüßte uns kurz und begann ihre Stunde, Biologie, es ging um die Photosynthese. Aber während ich den Atem anhielt, um keines der mit piepsiger Stimme vorgetragenen Worte von Frau Kröhlein zu verpassen, rammte Fred mir plötzlich seinen Ellbogen in die Seite. Ich zuckte vor Schreck und Überraschung zusammen und schaute ihn entsetzt an. Grinsend zwinkerte er mir zu, als wären wir Verschwörer, und warf einen Papierflieger auf Frau Kröhlein. Entsetzt sah ich, wie der weiße Flieger zunächst steil in die Luft stieg, dann am Zenit seiner Flugbahn scheinbar innehielt, um schließlich seine Nase zu senken und unaufhaltsam im Sturzflug auf Frau Kröhlein zuzurasen, die mit dem Rücken zu uns an der Tafel schrieb. Und wenn sie sich nicht gerade in diesem Augenblick nach dem Schwamm zu ihrer Linken gebückt hätte, wäre sie unweigerlich von dem Projektil am Hinterkopf getroffen worden. So prallte der Flieger rechts oberhalb von Frau Kröhlein gegen die Tafel. Es hätte mich in diesem Augenblick nicht gewundert, wenn er dort zitternd stecken geblieben wäre, wie das Wurfmesser eines Zirkuskünstlers. Aber er fiel und landete auf dem Kreidestück in Frau Kröhleins Hand, mit dem sie eben noch den Feinbau eines Laubblattes an der Tafel skizziert hatte.
Sie drehte sich um, die rechte Hand mit dem Papierflieger noch erhoben, so als wollte sie mit seiner eingedellten Nase in der Luft weiterschreiben, und schaute mit halb geöffnetem Mund zwischen uns Schülern und ihrer Hand hin und her. So hatten wir Frau Kröhlein noch nie erlebt. Sprachlos vor Überraschung stand sie eine Minute lang vor uns – wir wagten es nicht, uns zu rühren, aus Angst einen Wutanfall zu provozieren –, bis sie schließlich ihre Fassung wiedergewann. Sie schloss den Mund, schluckte, hielt uns die Hand mit dem Papierflieger hin, wie ein biologisches Demonstrationsobjekt und sagte: „Guter Wurf“.
Die Worte verhallten in der vollkommenen Stille, die über der Klasse lag. Niemand traute sich zu atmen und die perfekte Lautlosigkeit zu zerstören. Bis Fred leise zu glucksen begann. Ich drehte mich zu ihm um und konnte zunächst nicht glauben, was ich sah: Er lachte. Frau Kröhlein schaute Fred an, verharrte – immer noch die Hand mit dem Papierflieger erhoben – einen Augenblick und stimmte dann in Freds Lachen ein. Das war das Signal für die anderen Schüler, mich mit einer Wand aus Lachen zu umgeben. Aber Frau Kröhlein und Fred lachten am lautesten und riefen sich zwischendurch mehrfach „Guter Wurf“, zu.
Nur ich war fassungslos.
In der Pause gingen wir alle auf den Hof. Annie Krüger kam zu mir, und wir sprachen über die Ferien. Sie erzählte von Südfrankreich, und warum sie sich dort die Haare blondieren lassen musste; ich berichtete von meinen Vogelbeobachtungen. Wir brüllten fast, denn die Kinder aus den unteren Klassen sausten unentwegt zwischen uns Größeren herum, wie Asteroiden, die auf Kollisionskurs mit der Erde waren. Dazu johlten sie und schrieen sich gegenseitig an.
Aber inmitten dieses gewohnten Lärms hörte ich plötzlich ein neues Geräusch – ein Knallen oder ein Peitschenhieb. Ich schaute mich um und sah Fred, der seinen Gürtel aus den Schlaufen der Hose gezogen hatte und damit auf einen Baum einhieb. Um ihn herum standen mindestens ein Dutzend Schüler aus unserer Klasse, hörten ihm zu und lachten, wenn er wieder zuschlug.
Unglaublich, dachte ich, Fred hatte nicht einmal vor den alten Kastanien Respekt, die unseren Schulhof gegen den Außenbezirk des Internats abgrenzten. Ich ging auf die merkwürdige Gruppe zu, um besser hören zu können, was Fred sagte. Er berichtete aus seinen Ferien, wie er sich mit seinem Vater, einem Missionar, auf einer Expedition durch den Urwald von Papua-Neuguinea geschlagen hatte, wie sie von Affen angegriffen wurden, und wie er sich ihrer erwehrt hatte. Das zeigte er mit seinem Gürtel. Dann erzählte er, wie sein Vater und er sich aus einer Kokospalme ein Kajak gebaut hatten, mit dem sie zwölf Tage lang auf einem Fluss fuhren – die Nächte verbrachten sie auf Bäumen am Flussufer –, bis ein Wasserfall kam, den sie hinunterstürzten. Eingeborene zogen sie aus dem Wasser und pflegten seinen Vater, der viel Wasser geschluckt hatte, gesund. Fred nannten sie Matumbaka, was soviel heißt wie Sohn des Wasserfalls.
Als Fred an dieser Stelle seiner Erzählung war, klingelte die Glocke. Die Gruppe, die ihm die ganze Pause lang zugehört hatte, löste sich auf, und alle gingen in Richtung Schulgebäude davon. Fred blieb zurück und ließ die anderen Schüler vorgehen. In diesem Augenblick fühlte ich mich sonderbar zwiespältig. Einerseits missbilligte ich Freds Ferienzeitvertreib, der offenbar nur wenig zu seiner humanistischen Bildung beitrug, andererseits beneidete ich ihn für die Abenteuer, die er erlebt hatte. Am merkwürdigsten aber fand ich, dass Ich unbedingt wissen wollte, wie Freds Geschichte weiterging.
Die nächsten Stunden waren Geschichte beim Rektor, Dr. Scharwinkel, und Deutsch bei Herrn Weber, den die anderen Schüler wegen seiner wulstigen Unterlippe und seiner dunklen Hautfarbe heimlich Bimbo nannten. Fred saß die meiste Zeit teilnahmslos neben mir, rutschte gelegentlich auf seinem Teil der Bank herum und machte ansonsten nicht den Eindruck, als interessiere er sich für die Französische Revolution oder für das Nibelungenlied. Nur einmal, als Herr Weber einen Vorleser suchte, meldete er sich.
In der Mittagspause gingen wir alle zum Speisesaal. Während ich mich voran kämpfte öffneten sich links und rechts von uns die Türen der Klassenzimmer und entließen immer mehr Schüler in den Gang. Schließlich waren wir alle inmitten einer murmelnden Menge von Mitschülern, die zum Speisesaal wollten, eingekeilt.
Da spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner rechten Schulter. Ich drehte mich um und sah Fred, der Schweißperlen auf seiner Stirn hatte und schwer atmete, als ob er keine Luft bekäme. Er schien Angst zu haben. Schließlich griff er nach meinem rechten Arm und umklammerte ihn. Ich ließ es zu, was blieb mir auch übrig, ging langsam weiter, ließ mich mit der Menge treiben und schleppte Fred mit mir. Der kniff die Augen fest zu und ließ sich von mir blindlings durch die Menschenmassen führen.
Als der Gang sich in den Speisesaal entleerte und wir wieder mehr Platz hatten, blieb ich stehen und sagte Fred, dass er jetzt loslassen könne. Das tat er und öffnete die Augen. Er schien erleichtert zu sein und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann dankte er mir und lächelte mich an. Da, wo er meinen Pullovers umklammert hatte, war der Stoff durchnässt.
Wir nahmen uns jeder ein Tablett und stellten uns an der Essensausgabe an. Beim Essen saßen Fred und ich schweigend nebeneinander. Als die Glocke das Ende der Pause anzeigte, blieb er sitzen und ging erst in die Klasse zurück, als alle anderen Schüler schon gegangen waren.
Abends machte ich die Hausaufgaben, las noch einmal meine Mitschriften zur Französischen Revolution durch und ging dann zu Bett, denn ich wollte am nächsten Unterrichtstag ausgeruht sein.
Die Schlafzimmer lagen alle an einem langen Gang, der in den Gemeinschaftsraum mündete. Fred und ich hatten das erste Zimmer, und die Wände waren so dünn, dass man gezwungenermaßen mithörte, was im Gemeinschaftsraum vor sich ging. Ich lag im Bett und hörte Jungenstimmen, die durcheinander sprachen. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr verstummten die meisten von ihnen, bis nur noch eine Stimme übrig blieb. Die von Fred. Er erzählte wieder, und ich setzte mich auf, um nichts zu verpassen. Die Eingeborenen, die ihn Matumbaka nannten, wohnten in Hütten aus Bananenreisig. Fred erzählte, wie sein Vater und er sich ebenfalls eine Hütte bauten, wie sein Vater an Gelbfieber erkrankte, und er erzählte von der Tochter des Medizinmannes, die einen kleinen Affen dressiert hatte, seinem Vater Wasser an sein Krankenlager zu bringen.
Irgendwann wurde es still. Kurz darauf kam Fred in unser Zimmer. Ich stellte mich schlafend.
Am nächsten Tag saß ich wie immer als erster auf meinem Platz im Klassenzimmer. Langsam kamen die anderen Schüler herein. Als letzter betrat Fred den Raum. Einige Schüler pfiffen erfreut, als sie ihn sahen, nannten ihn Matumbaka und baten ihn, seine Geschichte weiter zu erzählen.
So einen Empfang hatte ich noch nie bekommen. Die meisten Mitschüler beachteten mich nicht. Und wenn, dann nur um mich um Hilfe bei den Hausaufgaben zu bitten. Aber noch niemals hatte sich jemand ehrlich gefreut, wenn ich den Raum betreten hatte. Noch nie hatte mich jemand als seinen Freund begrüßt. Was musste das für ein Gefühl sein?
Fred winkte den anderen Schülern beiläufig zu und setzte sich neben mich. Es schien so, als würde er sich aus seiner Beliebtheit nicht viel machen. Er war ein Weltenbummler, dachte ich, der schon die entlegendsten Plätze unseres Planetens bereist hatte. Ein Entdecker, der wahrscheinlich schon als Junge mehr Abenteuer erlebt hatte, als mir in meinem ganzen Leben zugedacht waren. Weil er so viel zu erzählen hatte, mochten alle seine Geschichten. Und weil er der Held seiner Geschichten war, mochten alle ihn.
In diesem Augenblick hätte ich viel darum gegeben, wie Fred zu sein, Freunde zu haben, die mich begrüßen, wenn ich die Klasse betrete. Wenigstens einen Freund.
Der Herbst ging vorüber, und der Winter kam. Dr. Scharwinkel hatte die Französische Revolution erfolgreich beendet und schlug sich jetzt an der Seite Napoleons durch die Geschichte, Frau Kröhlein war von der Photosynthese zur Atmungskette übergegangen und Herr Weber, den aller außer mir Bimbo nannten, kam langsam zu Siegfrieds Tod.
Fred war nicht dumm und hatte mittelmäßige Noten. In Deutsch war er sogar gut. Aber ein Meisterschüler war er nicht, und meiner Meinung nach würde er auch keiner werden. Trotzdem wurde er immer beliebter. Bei den Mitschülern und sogar bei den Lehrern. In jeder großen Pause bedrängte ihn irgendwann jemand, von Matumbaka zu erzählen. Und wenn er dann nachgab und seine Berichte mit großer Geste und kräftiger Stimme ankündigte, kamen bald Leute aus allen Ecken des Schulhofs, um ihm zuzuhören. Meisten waren es Schüler. Aber manchmal gesellte sich auch Herr Weber zu den Zuhörern. Fred achtete stets darauf, dass sein Publikum ihn nicht einkreiste, sondern vor ihm stand. Und wenn die Glocke läutete, ließ er alle in das Schulgebäude gehen, und verließ den Schulhof als letzter.
In der Adventszeit wurde das Wetter ungemütlich. Die Vormittage waren dunkel, die Abende auch, und meistens regnete es. Ich drängelten mich mit den anderen Schülern in den Pausen unter dem Vordach des Schulgebäudes. Keiner von uns hatte Lust Fred zu folgen, der jede Pause im Freien verbrachte. Da stand er dann, im fallenden Regen an eine Kastanie gelehnt, den Blick auf die Pfützen gerichtet, die sich zu seinen Füßen bildeten, und den Kopf voller Gedanken, die ich nicht verstand. Vielleicht dachte er ja an die Regenfälle des Dschungel, die – so hatte ich in meinem Naturkundeführer gelesen, denn eine persönliche Erfahrung zu diesem Thema hatte ich nicht – noch viel hartnäckiger waren, als der Dauerregen hierzulande.
Eines Nachts wachte ich von einem unbekannten Geräusch auf. Ich setzte mich auf mein Bett und lauschte. Dann hörte ich es wieder. Es war ein leiser Schrei, gefolgt von einem langgezogenen Schluchzen, und es kam aus Richtung Schrank. Vorsichtig zog ich die Vorhänge ein Stück zurück, sodass gerade so viel Licht in unser Zimmer fiel, dass ich Fred sehen konnte. Er lag in seinem Bett und schien im Schlaf zu weinen.
Eine Zeitlang stand ich betreten neben ihm und wusste nicht, was ich tun sollte. Hatte er einen Alptraum? Sollte ich ihn vielleicht besser wecken? Die Tränen quollen langsam unter seinen geschlossenen Augenlidern hervor und würden schon bald sein Kopfkissen durchnässt haben. Da kam mir eine Idee. Ich beugte mich zu ihm herunter und flüsterte in sein Ohr: „Matumbaka, fürchte dich nicht.“
Das Schluchzen hörte auf, und Freds Gesicht entspannte sich. Dann seufzte er noch einmal, murmelte etwas Unverständliches und drehte sich auf die Seite.
Ich ging wieder zu Bett. Dieser Junge hat ein Geheimnis, dachte ich, als ich unter die Decke kroch, und ich werde es herausbekommen.
Fred räumte seine hellblaue Sporttasche nie ganz aus. Er nahm Sachen, die er brauchte, aus ihr heraus und legte andere Sachen, die er nicht brauchte, wieder hinein. Dann zog er den Reißverschluss zu und schob die Tasche unter sein Bett. Eines Abends – Fred war noch mit drei anderen Jungen im Gemeinschaftsraum und spielte Tischfussball – beschloss ich, die Tasche zu durchsuchen. Wenn Fred wirklich ein Geheimnis hatte, würde ich hier vielleicht einen Hinweis darauf finden.
Ich überlegte, ob ich unsere Tür abschließen sollte, und horchte an ihr. Nichts. Nur die Geräusche aus dem Gemeinschaftsraum, Jubel und Raunen, als ob einer der Spieler gerade ein Tor geschossen hätte. Ich ließ die Tür unverschlossen, ging zu Freds Bett, setzte mich und holte die blaue Sporttasche unter seinem Nachttisch hervor. Ich öffnete sie und sah Wäsche, ein Schwarzweißfoto, einen Gameboy und – ganz unten – ein Buch. Enttäuscht ließ ich die Tasche zu Boden gleiten. Wo war das Geheimnis? Ich nahm sie ein weiteres Mal auf meinen Schoß und untersuchte Freds Sachen genauer. Das Foto war alt und abgegriffen. Es zeigte eine Frau, ungefähr so alt, wie meine Mutter, die von mehr als zwanzig Jungen umringt war. Einer von ihnen sah Fred ähnlich, nur dass er jünger war. Ich ließ das Foto in meiner Hand sinken. Hatte Fred so viele Geschwister?
Dann legte ich das Bild in die Tasche zurück und schaute mir das Buch an. Es hatte einen braunen Schutzumschlag aus einfachem Packpapier. Ich schlug es auf und machte es sofort wieder zu. Ich rieb mir die Augen. Hatte ich richtig gelesen? Ich konnte es einfach nicht glauben. Zitternd schlug ich den Einbanddeckel mit dem Packpapier wieder zur Seite und las den Titel ein zweites Mal. Er lautete: „Matumbaka und die Tochter des Medizinmanns“. Darunter stand in etwas kleinerer Schrift der Name des Autors, Arthur Conway. Und darunter stand, dass es sich bei dem Buch um den neunten Band einer Serie handelte, die mit Band Eins, Matumbaka und die Dschungelpyramide, begann und mit Band Siebzehn, Matumbaka und der Gelbe Fluss, endete.
Ich war wütend. So wütend, dass ich das Buch zuschlagen musste, sonst hätte ich es zerrissen. Fred hatte mich hereingelegt. All die Geschichten, die er erzählt hatte, waren erfunden. Von einem Schriftsteller namens Arthur Conway. Wahrscheinlich war sein Vater gar kein Missionar, und Fred war auch noch nie in Papua-Neuguinea gewesen. Er hatte sich mein Interesse und die Freundschaft seiner Mitschüler erlogen, hatte sein armseliges Leben interessant gemacht, um mich und die Anderen zu täuschen.
Ich beschloss, Freds wahre Geschichte herauszufinden.
Vor den Weihnachtsferien häuften sich die Klassenarbeiten. Am nächsten Tag war Geschichte dran. Wir saßen alle erwartungsvoll auf unseren Plätzen, und Dr. Scharwinkel teilte Zettel mit den Aufgaben aus. Die Fragen boten keine Überraschung für mich. Zuerst sollten wir Voltaires Haltung zur Französischen Revolution beschreiben, in der zweiten Aufgabe ging es um die Napoleonischen Kriege. Ein Kinderspiel. Ich schrieb schnell, und war wie üblich knapp zwanzig Minuten vor Schluss fertig. Aber anstatt meine Ausführungen in den letzten Minuten zu perfektionieren, wie ich es üblicherweise tat, stand ich auf, gab Dr. Scharwinkel meine Arbeit und ging.
Ich lief zur Treppe und stieg hinauf zum obersten Stockwerk. Drei Minuten waren vergangen, ich hatte noch vierzehn Minuten Zeit. Am Ende des Ganges lag Dr. Scharwinkels Büro. Er schloss nie ab, wenn er in der Schule war, aber es konnte sein, dass einer der anderen Lehrer sich in dem Raum befand. Für diesen Fall hatte ich mir eine Ausrede ausgedacht. Ich würde sagen, dass Rektor Scharwinkel mich beauftragt hatte, in den Propyläen Weltgeschichte die Verwandtschaftsverhältnisse von Katharina der Großen nachzuschlagen.
Ich drückte die Türklinke herunter, ohne vorher anzuklopfen. Der Raum war leer. Hervorragend. In der linken hinteren Ecke standen die Register mit den Karteikarten der Schüler. Ich nahm Freds Karte heraus, setzte mich mit ihr auf Dr. Scharwinkels Bürostuhl und las.
Fred war in einem Waisenhaus für Jungen aufgewachsen. Seine Betreuerin hatte genau aufgeschrieben, wie er gefunden wurde. Mit drei Jahren wurde Fred in einem Kaufhaus ausgesetzt. Sein Vater hatte ihm einen Zettel mit seinem Vornamen und Geburtsdatum um den Hals gehängt und ihn dann einfach stehen gelassen. Es war an einem Samstag, und das Kaufhaus war voll mit Kunden. Sehr voll. Die Menschen drängelten sich durch die engen Gänge, und niemand beachtete den Dreijährigen, der den Erwachsenen nicht einmal bis zur Hüfte reichte. Irgendwann hat das Kind mit dem Zettel um den Hals zu weinen begonnen. Erst leise, ein kurzer Schrei und ein langgezogenes Schluchzen. Dann immer lauter. Er muss viele Stunden so verbracht haben, bis der Ladendetektiv im Waisenhaus anrief. Als die Betreuerin kam, fand sie ihn mit zugekniffenen Augen, abwechselnd schluchzend und schreiend.
Damit hatte ich also das Motiv für Freds Betrug. Er hatte keinen Vater, jedenfalls keinen, den er vorzeigen konnte. Aber musste er deshalb gleich einen Missionar, der in Papua-Neuguinea Eingeborene bekehrt, erfinden? Hätte es nicht auch ein Steuerberater in Bielefeld getan? Er hatte auch kein abenteuerliches Vorleben, sondern – im Gegenteil – ein sehr miserables. Aber hätte er sich nicht ein Leben erfinden können, wie meines, betulich und langweilig? In diesem Augenblick fasste ich den Entschluss, Fred seinen Betrug an mir heimzuzahlen.
Am Tag vor Heiligabend machten wir einen Ausflug zum Weihnachtsmarkt nach Köln. Die meisten Schüler waren bereits zu ihren Familien in die Weihnachtsferien gefahren. Fred blieb natürlich hier – mit wem hätte er auch Weihnachten feiern sollen. Ich blieb auch, denn ich musste in Physik noch sicherer werden, und Freunde, mit denen ich feiern konnte, hatte ich sowieso nicht. So stellten wir uns mit Annie Krüger, Herrn Weber, den alle Bimbo nannten, und einer Handvoll Mitschüler an der Bushaltestelle auf. Ich fragte Fred, ob er schon einmal auf einem Weihnachtsmarkt gewesen sei, und er verneinte. Mein Plan konnte also beginnen.
Ich hatte meine Allwetterjacke an, obwohl eigentlich Winterbekleidung angebracht gewesen wäre. Vor zwei Tagen hatte es nämlich geschneit, und wegen eines gleichzeitigen Kälteeinbruchs war der meiste Schnee auch liegengeblieben.
Im Bus saßen Fred und ich nebeneinander, in Köln stiegen wir zusammen aus. Es roch nach gebrannten Mandeln und Kerzenwachs. Zwischen zwei Holzbuden war der Eingang zum Weihnachtsmarkt durch ein Tor aus Tannenzweigen markiert. Eilig ging ich darauf zu und zog Fred hinter mir her. So kamen wir vor den Anderen im dichtesten Getümmel an. Fred sträubte sich natürlich, als er die Menschenmassen sah, die auf der Suche nach Christbaumschmuck und Glühwein waren. Aber ich ließ ihn nicht los, drehte mich immer wieder zu ihm um und redete ihm zu, dass wir gleich aus dem Getümmel heraus seien. Irgendwann gab er seinen Widerstand auf, und ich konnte ihn – wehrlos wie er war – immer weiter in das Zentrum des Gedrängels ziehen. Hier stand eine Krippe mit einem Plastikochsen, der ausschaute, als wolle er die pelzbekleidete Frauen und die angetrunkene Männer, die sich aneinander rieben, um an ihm vorbei zu kommen, fressen.
Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Fred die Augen fest geschlossen hatte und sich an meinem Ärmel festklammerte, wie ein Ertrinkender an einer Holzplanke. Ich öffnete den Reißverschluss, mit dem der Ärmel am Rumpf der Allwetterjacke befestigt war. Dann glitt ich heraus und stürmte los. Ich ruderte mit beiden Armen gegen die Menschenmenge an und brachte so schnell einige Meter zwischen Fred und mich. Hinter einem Glühweinstand ging ich in Deckung und schaute mich um. Fred stand immer noch an dem Platz, an dem ich ihn ausgesetzt hatte, unbeweglich und orientierungslos. Die Augen hatte er fest geschlossen und hielt sich an dem Ärmel fest, den ich mir abgestreift hatte, wie eine Schlange ihre Haut, hielt sich daran fest, so als ob ihm die leere Stoffhülle noch als Stütze dienen könnte.
Innerlich beglückwünschte ich mich zu meinem Plan; dieses Erlebnis sollte Fred eine Lehre sein.
Dann verlor ich ihn aus den Augen. Er sackte nämlich zusammen, so als wolle er auf die Knie fallen, und verschwand zwischen einem Wald aus Beinen.
Aber ich hörte ihn. Das Tumult um mich herum war eigentlich übermächtig, und doch war ich mir sicher, Fred zu hören. Ein kurzer Schrei und ein langgezogenes Schluchzen. Ich hörte es so, als ob es direkt vor meinen Ohren sei. Des Schrei und das Schluchzen. Ich wusste auch, was es bedeutete: Fred war in Not. Verlassen stand er wieder in dem Kaufhaus, in dem sein Vater ihn ausgesetzt hatte. An dem Ort, an dem sein Leben ohne Familie begann. Schreien und Schluchzen war alles, was er tun konnte, um in dem Meer von Leibern um ihn herum nicht zu ertrinken.
Auf einmal bereute ich, was ich getan hatte.
Mittlerweile hatte Fred etwas erreicht, was ihm als Dreijähriger nicht gelungen war. Er hatte die Aufmerksamkeit der Passanten erregt. Eine Frau in einem Pelzmantel war stehen geblieben und schaute zu Boden, wo – wie ich annahm – Fred kauerte. „Oh Gott, jemand muss doch etwas tun“, sagte sie. Zwei Männer kamen dazu. Einer beugte sich herunter zu Fred, richtete sich aber sofort wieder auf. Das Schreien und Schluchzen hörte nicht auf.
Herr Weber und Annie Krüger kämpften sich zwischen den Buden durch. Ob sie Freds Weinen gehört hatten? Jedenfalls stellten auch sie sich neben ihn und schauten fassungslos auf den am Boden Liegenden.
Herr Weber sprach Fred an, und Annie Krüger beugte sich zu ihm vor. Was sie sagten, konnte ich nicht verstehen. Aber das Schreien und Schluchzen verstummte nicht. Es wurde immer lauter.
Ich musste eingreifen.
Langsam glitt ich durch die Menschenmenge, wie ein Buttermesser durch Margarine. Ich stand jetzt zwischen der Frau mit dem Pelzmantel und Herrn Weber und schaute nach unten. Fred wand sich auf dem Boden, die Augen fest zugekniffen, als ob es mit ihm zu Ende wäre, wenn er sie öffnen würde. Er schrie jetzt sehr laut, und alle Umstehenden wirkten betroffen.
Ich beugte mich herunter bis zu Freds Ohr. Was ich ihm zu sagen hatte, ging niemanden sonst etwas an. Es war unser Geheimnis und sollte es bleiben.
„Matumbaka“, flüsterte ich, „Matumbaka, hab‘ keine Angst. Ich bin bei dir.“
Sofort hörte das schreckliche Schreien auf. Und ohne die Augen zu öffnen fragte Fred: „Bist du es... Papa?“
„Ja“, antwortete ich. „Hab‘ keine Angst. Du bist in Sicherheit. Gib mir einfach deine Hand, Matumbaka. Ich bringe dich nach Hause“ Dann legte ich meine rechte Hand in seine und zog ihn nach oben.
Fred und ich gingen zusammen zum Bus zurück. Von diesem Tag an waren wir Freunde. Zu Weihnachten schenkte mir Fred etwas, das ich mein ganzes Leben lang in Ehren halten werde. Und daraus lese ich an jedem Weihnachtsfest meinen Kindern vor: Die Geschichte von „Matumbaka und der Tochter des Medizinmanns“.