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- 01.09.2005
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Matts letzter Kuss
Sein Gedanke, während er einen zitterigen Fuß vor den anderen setzte: Bitte nicht schon wieder kotzen. Pascal blieb kurz stehen, atmete die nasskalte Luft in zwei tiefen Zügen ein und schlurfte weiter. Er hatte beim Münzenwerfen verloren. Matt und Sander waren im Hostel geblieben.
Alle drei hatten mit den Nachwirkungen des Wodkas gekämpft, den sie an der Rezeption von dem Typen mit den schlechten Zähnen gekauft hatten. Alle drei hatten sie erst einmal genug vom Alkohol und wollten an diesem Abend lieber Gras rauchen, und alle drei hatten sie keine Lust gehabt, welches besorgen zu gehen. Nachdem die Ein-Ban-Münze zum dritten Mal mit dem Romania-Schriftzug nach oben gelandet war, hatte Pascal noch versucht, sich zu drücken. Er hatte gesagt, es sei doch wohl irgendwie rassistisch anzunehmen, sie hätten Gras, nur weil sie Zigeuner waren. Matt hatte sein ordinäres Matt-Lachen gelacht und gesagt, sie säßen da in ihrem beschissen geheizten Hostel-Zimmer wie ein Fleisch gewordener Witz.
Der Witz: Ein Australier, ein Norweger und ein Deutscher sitzen in einem beschissen geheizten Hostel-Zimmer und haben Dünnschiss von billigem Osteuropa-Fusel, da fängt auf einmal ausgerechnet der Deutsche an, Vorträge über Rassismus zu halten.
„Der Deutsche, versteht ihr?“ Matt tippte mit Mittel- und Zeigefinger unter die Nase und hielt sich die andere Hand vor die Stirn, sodass es aussah, als hätte er einen Seitenscheitel. Eigentlich hatte Pascal kein Problem mit der Art von Scherzen, aber Matt war Matt, und deshalb ging er ihm damit inzwischen gehörig auf die Nerven. „Just kidding“, sagte Matt immer, nachdem er jemanden beleidigt hatte. „Just kidding“, er mache doch nur Spaß. Er hatte es auch zu den beiden Italienerinnen gesagt, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie es ihm nicht zu zweit machen wollten. Danach hatten sie nicht mehr viel mit den Mädchen zu tun gehabt, mit denen sie sich zunächst noch sehr gut verstanden hatten.
Pascal hatte einmal mitgezählt, wie oft Matt es am Tag benutzte, und war auf sechsundfünfzig „Just kiddings“ gekommen. Sander lachte inzwischen auch nicht mehr darüber, er war selbst oft genug Opfer von Matts Attacken geworden. Meistens war es um Geschlechtsverkehr mit Robben und um faulen Fisch essen gegangen.
„Oh, fuck that.“ Matts Kommentar zu Sanders Hinweis, dass es sich bei Surströmming um eine schwedische Spezialität handelt und der Rakfisk wesentlich weniger stark stinkt.
„Der Typ gestern hat uns ja quasi eingeladen“, hatte Sander gesagt. „Die werden schon was haben, sonst hätte er's nicht gesagt.“
„Hast ja recht“, hatte Pascal gesagt, so als wäre ihm diese Einsicht gar nicht gekommen. Er hatte sich auf den Weg gemacht, einfach, um ein paar Stunden von Matt wegzukommen. Schon diverse Male hatte er überlegt, den Trip abzubrechen. Bis Moskau würden sie beim derzeitigen Tempo noch Wochen brauchen. Wochen mit Matt. Warum schrieben Leute wie er nicht in ihre Internet-Profile, dass sie Arschlöcher waren?
Bei den Roma schien es Klassenunterschiede zu geben. In einigen Wohnwagen sah Pascal durch die Fenster riesige Fernsehschirme flimmern, bei anderen hingen die Türen lose in den Angeln. Er hörte Talkshow-Gefasel und Rap. Eminem.
Der Boden war matschig vom eisigen Nieselregen, der erst wenige Minuten zuvor aufgehört hatte. Pascal blieb stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. Wenigstens hatte die frische Luft seine Übelkeit ein bisschen gelindert. Auf dem Weg über die Wiesen hierher hatte er sich zweimal übergeben. Jetzt war ihm fast nur noch kalt.
„Und nu'?“, fragte er, wohl etwas zu laut. Zwei kleine Mädchen, die in Gummistiefeln Federball spielten, drehten sich zu ihm um. Pascal lächelte sie an und zuckte die Schultern. Er fragte die Mädchen, ob sie Englisch sprächen, aber sie spielten einfach weiter.
„Dann leckt mich doch“, flüsterte Pascal und steckte die Hände tief in die Hosentaschen. So tief, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte und in den Matsch gefallen wäre, als er von hinten geschubst wurde. Mit kämpferisch erhobenen Armen fuhr er herum, aber als er den Typen sah, der ihn gestoßen hatte, wollte er schreien und weglaufen. Kurze Stoppeln auf einem rasierten Kopf, Akne-Narben, ein Wort auf die Wange tätowiert, das Pascal nicht lesen konnte. Sein Gegenüber trug Jogginghose, Lederjacke und Sandalen. Die Schultern hingen, er wirkte schlaff. Die ungeheure Wucht des Schubsers mochte Gott wusste woher gekommen sein. Lebenserfahrung, gemacht wahrscheinlich im Gefängnis.
Vollidiot, dachte Pascal. Allein hierher zu kommen. Er dachte an das Portemonnaie im untersten Fach seines Rucksacks. Bargeld, EC-Karte, Kreditkarte, Ausweis. Er hatte alles mitgenommen, warum? Damit ein Überfall sich auch wirklich lohnte? Vollidiot.
„Was willst du?“, fragte der Rom in gebrochenem Englisch. Es klang, als wäre es ihm scheißegal, was Pascal tatsächlich wollte, als würde er es nur sagen, um den Auswärtigen darauf vorzubereiten, mit dem Gesicht in den Schlamm gedrückt zu werden.
Pascal wollte antworten, brachte aber nur ein trockenes Hüsteln zustande. Die Angst in Kombination mit dem Exzess der vergangenen Nacht und einer leichten Erkältung raubte ihm die Stimme. Der Rom griff in seine Hosentasche. Pascals Augen weiteten sich. Gleich würde er eine Messerklinge aufblitzen sehen, da war er sicher. Stattdessen holte der Mann ein sauberes Taschentuch hervor und reichte es ihm.
Pascal griff zaghaft danach. „Danke“, sagte er und wischte sich Mund und Nase.
„Was willst du?“, wiederholte der Rom.
Pascal räusperte sich. Er machte eine Geste, als würde er an einem Joint ziehen. Der Rom kniff konzentriert die Augenlider zusammen. Jetzt, wo der Mann ihm nicht mehr wie eine Gefahr schien, sondern lediglich einen etwas ungepflegten Eindruck machte, begann Pascal, die Geduld zu verlieren. Immerhin schleifte er seinen vom Kater geschwächten Körper durch bestes Grippewetter, während Sander und Matt im Hostel dösten.
Pascal sagte schlicht „Hasch“ und sprach seinen Wunsch noch fünfmal aus, wobei er Synonyme in drei unterschiedlichen Sprachen benutzte. Der Rom machte ein Gesicht, als wäre der heilige Geist in ihn gefahren. Er klopfte sich mit der flachen Hand gegen die Brust und sagte: „Mein Cousin, mein Cousin!“
Pascal wurde zu einem Wohnwagen gebracht, in dem der Marihuana-Dunst so undurchlässig war, dass er das Gefühl hatte, einen Raum voller Watte zu betreten. Künstliches rotes Licht wärmte die Pflanzen. Sergiu, wie er sich zwischenzeitlich vorgestellt hatte, lachte, als er Pascals Gesichtsausdruck sah, eine Mischung aus Staunen und Ekel. Pascal war nie ein Kiffer gewesen, und der Dunst im Wohnwagen war definitiv zu dicht, um von einem Gelegenheitsraucher wie ihm noch als angenehm empfunden zu werden. Der klare Kopf war wieder passé. Pascal wollte schnell ein paar Gramm kaufen und dann raus, zurück zum Hostel, vielleicht im leichten Laufschritt, ein bisschen sportliche Betätigung täte ihm bestimmt gut.
Cosmin, wie Sergiu ihn vorstellte, spielte ein Autorennspiel auf einer Spielkonsole, die an einen kleinen Röhrenfernseher angeschlossen war. Pascal erkannte den dürren Jungen mit den fettigen Haaren wieder. Er trug das T-Shirt einer anderen Metalband als am Tag zuvor, aber es war eindeutig Cosmin gewesen, der sein Direktmarketing betrieben hatte, als sie vor dem Hostel auf einer Bank gesessen und getrunken hatten. Als Cosmin Pascal sah, hörte er auf zu spielen, sprang auf und schüttelte ihm überschwänglich die Hand, offensichtlich erfreut über die Wirksamkeit seiner Werbeaktion.
„Wieviel willst du?“, fragte er. Er sprach besseres Englisch als Sergiu. „Ich habe viele Sorten.“
Fast wäre Pascal damit herausgeplatzt, dass er keine Ahnung vor den Vor- und Nachteilen etwaiger Sorten hatte, dass er eigentlich immer nur mitgeraucht hatte. Doch dann fiel ihm ein, dass es in Verkaufsgesprächen eigentlich nie von Vorteil war, vollkommene Ahnungslosigkeit einzugestehen.
„Von allem ein bisschen“, sagte er und deutete auf zwei Pflanzen, die sich für sein laienhaftes Auge irgendwie voneinander unterschieden. Cosmin grinste, Sergiu entzündete einen dünnen Joint und bot ihn dem Gast an. Pascal lehnte ab. Da Sergiu daraufhin beleidigt aussah, sagte er „Ich hab gestern“ und deutete eine Trinkbewegung an. Cosmin übersetzte die Erklärung, aber Sergius Züge entspannten sich nur leicht.
„Meinst du, die Zigeuner haben alle Aids, oder was?“, fragte Sergiu.
Cosmin sagte etwas auf Rumänisch. Dann sah er seinen Kunden an und rollte genervt mit den Augen, sodass Sergiu es nicht mitbekam. Pascal nickte unsicher. Er sah sich im Wohnwagen um, damit sein Blick nicht den Sergius kreuzte. Überall lagen Gras und Hasch, aus allen Ritzen schien Hanf zu wachsen als wäre es Unkraut. Auf einer Küchenzeile stand eine offene Dose, die dem Bild darauf zufolge einmal weiße Bohnen in Tomatensoße enthalten hatte. Die Soßenreste schienen bereits zu schimmeln, soweit das diffuse rote Licht im Wohnwagen den Betrachter das beurteilen ließ. Sergiu lehnte gegenüber einer Tür, hinter der Pascal das Klo vermutete. An der Tür hing ein Poster des Films Child's Play.
Pascal fiel eine Sorte auf, die in einem kleinen Metallkäfig gedieh, der ursprünglich wohl für Vögel oder Mäuse gedacht gewesen war. Die Blüten des weggesperrten Gewächses waren dunkellila, fast schwarz. Pascal machte einen Schritt darauf zu und näherte sich mit dem Gesicht den dünnen Gitterstäben. Außer dem bekannten Marihuana-Duft glaubte er, einen anderen Geruch auszumachen, so fein, dass er nicht sicher war, ob er es sich nicht vielleicht nur einbildete. Er hatte zwar Sergius Angebot abgelehnt, aber der THC-Smog im Raum mochte ihn mittlerweile ausreichend benebelt haben, dass er Geräusche und Gerüche wahrnahm, wo keine waren. Pascal hielt sich die Nase zu. Es war, als würde man an eingetrockneten Bremsspuren in einer Unterhose schnüffeln. Der Gestank war unterschwellig, aber es roch eindeutig nach Scheiße.
„Was ist das hier?“, fragte Pascal.
Cosmin winkte abwehrend. „Nein, nein, nein, die ist nicht für dich, du bist ein netter Kerl.“
Pascals angeborene Neugier hatte ihn in seinen Teenager-Jahren zum Berufswunsch Journalist geführt. Cosmins Reaktion knipste diese Neugier an wie ein Licht.
„Was heißt das?“, fragte Pascal. „Was ist denn das?“
Wenn man die Pflanze länger betrachtete, schien sie einem die Stengel durch die Gitterstäbe entgegenzustrecken. Vielleicht verdient sie es, eine Gefangene zu sein, dachte Pascal beim Anblick der düsteren Blüten. Bei näherer Betrachtung sahen sie aus wie winzige, lila-schwarze Zungen. Wie die wohl küssen?
Pascal schüttelte den Kopf, aber nur leicht, wegen der Schmerzen. Er versuchte, den Gedanken daraus zu vertreiben, der ihn daran erinnerte, dass er alles andere als klar bei Verstand war: Wie die wohl küssen?
„Lass ihn probieren“, sagte Sergiu.
Cosmin schüttelte den Kopf. Er tippte sich an die Stirn und sagte etwas auf Rumänisch.
„Vergiss sie einfach“, sagte er. „Wieviel Geld hast du? Hast du Euro?“
„Vierzig“, sagte Pascal. Tatsächlich hatte er fast Zweihundert in bar.
„Ich stell dir was zusammen“, sagte Cosmin. „Crossover, von allem ein bisschen, wie du gesagt hast, aber nur das Beste.“
„Das ist cool“, sagte Pascal. „Aber was ist denn nun damit?“
Die Pflanze ließ ihn nicht los, sie hatte ihn mit ihrem latenten Scheißegeruch hypnotisiert wie eine ihrer fleischfressenden Schwestern eine Fliege. „Wird einem da schlecht von?“
Cosmin atmete tief ein. „Ja. Das kann man sagen.“
Sergiu gab einen Grunzlaut von sich. Zuerst dachte Pascal, der Rom hätte zu stark an seinem Joint gezogen. Dann merkte er, dass Cosmins Cousin ein Lachen unterdrückt hatte.
Cosmin streichelte sich die Brust und den Bauch. „Bringt alles durcheinander hier drin. Die Pflanzen sind aus Afghanistan, das Rezept von meiner Oma, wenn du so willst.“
„Was denn für ein Rezept?“, wollte Pascal wissen. „Für die Samen?“
Sergiu riss die Tür des Wohnwagens auf und spuckte nach draußen. Pascal hörte eine Frauenstimme schimpfen. Sergiu schimpfte zurück und knallte die Tür zu.
„Ich wollt's längst wegschmeißen. Hab's der Tochter eines Typen verkauft, der meiner Cousine den Arm gebrochen hat. Dem war seine Frau langweilig geworden, und er benutzt meine Cousine als Matratze. Meine Cousine mag den Scheißkerl, und als er ihr sagt, sie solle sich verpissen, tut's ihr richtig weh, und sie ist wütend und sagt ihm, sie erzählt's seiner Frau. Da hat er sie verprügelt. Du-te-n pizda mă-tii, du Drecksack.“
Pascal dachte nach.
„Und du hast ihn gezwungen, das zu rauchen, oder wie?“
Cosmin lachte und übersetzte für Sergiu, der darauf etwas sagte, dass für Pascal klang wie „Ich hab dir gesagt, dass er ein Idiot ist“, obwohl er kein Wort Rumänisch konnte.
„Seine Tochter“, sagte Cosmin. „Geht noch zur Schule und feiert gern. Ich hab's ihr verkauft.“
„Und der ist schlecht davon geworden“, nuschelte Sergiu. Seine Augen wirkten wässrig.
„Willst du die ganzen vierzig Euro ausgeben?“, unterbrach Cosmin seinen Cousin, als der gerade Anstalten machte, noch ein paar Einzelheiten zur Wirkungsweise der besonderen Sorte zu machen. Pascal bejahte, Cosmin machte sich an die Arbeit.
„Manche Leute brauchen eine Lektion“, sagte Pascal.
„Wenn du meinst“, erwiderte Cosmin.
„Nein, echt, ich versteh das.“ Er schluckte die enorme Ungerechtigkeit herunter, die er empfand, weil Cosmin der Tochter des Cousinenprüglers Brechdurchfall beschert hatte. Andererseits waren die Sorgen um die Tochter für den Vater wahrscheinlich schlimmer gewesen, als hätte es ihn selbst erwischt, und bei Rache ging es schließlich um die Befriedigung eines sehr primitiven und ursprünglichen Gefühls, nicht um Gerechtigkeit.
Manche Leute brauchen einfach eine Lektion, sagte Pascal noch einmal, aber er war sich nicht sicher, ob er es wirklich gesagt oder nur gedacht hatte. Da weder Sergiu noch Cosmin auf seine Bemerkung reagierten, beschloss er, dass der intensive Passivrauch wohl tatsächlich seine Wirkung zeigte.
Er ließ wie geheißen die Finger von der Pflanze, bis Sergiu sich verabschiedete, weil seine Frau mit dem Essen auf ihn wartete, wie er sagte. Cosmin drehte Pascal einige Male den Rücken zu, wenn er schnitt, abwog, und die Ware in kleine Tütchen verpackte. Unter nüchternen Umständen hätte Pascal es wahrscheinlich niemals gewagt, einen rumänischen Zigeuner zu beklauen, aber er war verkatert und vermutlich bekifft, und noch immer brauchten manche Leute einfach eine Lektion. Er musste nicht einmal durch die Gitterstäbe fassen. Ein Stengel mit einer Blüte daran griff nach ihm.
Sie rauchten vor dem Hostel, auf denselben alten Holzbänken, auf denen sie in der Nacht zuvor den Wodka getrunken hatten. Sander verabschiedete sich als Erster, es schien ihm wirklich schlecht zu gehen. Matt rief ihm hinterher, ob er vielleicht was von diesem faulen Schwedenfisch gegessen hätte.
Der Australier boxte Pascal gegen die Schulter und sagte: „Komm Klaus, du bist.“
Klaus, der Deutsche heißt Klaus, auch so ein Matt-Witz. Pascal nahm den Joint, zog daran und spuckte aus, ohne seine Reisepartner anzusehen. Wenn irgendwer es verdient hatte, eine Nacht kotzend auf dem Plumpsklo im Hof eines abruchreifen rumänischen Hostels zu verbringen, dann Matt.
Pascal holte die dunklen Blütenbrösel aus der Tasche, die er zwischenzeitlich in die Alufolie eines Butterbrotes gewickelt hatte.
„Du hast noch mehr?“, fragte Matt. „Wolltest du das verstecken?“
„Besonderes Zeug“, sagte Pascal. „Nichts für Schwuchteln.“
Als Matt ihm das Marihuana mit einem ungeduldigen „Zeig mal her“ aus der Hand riss, hätte Pascals Grinsen ihn wohl verraten, hätte er nicht schon Minuten zuvor das debile Dauergrinsen aufgesetzt, das ihn im bekifften Zustand immer befiel.
Matt schnüffelte an seiner Beute.
„Was ist das?“, fragte er mit angewidertem Gesichtsausdruck. „Das riecht ein bisschen … ehrlich gesagt riecht das ein bisschen wie Scheiße.“
„Es soll auch knallen wie Scheiße“, sagte Pascal, gähnte und stand auf. „Können wir uns morgen reinhauen.“
Matt griff ihn am Hosenbund und zog ihn zurück auf die Bank.
„Du gehst jetzt nicht auch noch ins Bett. Wir rauchen das jetzt. Ich will wissen, was das ist.“
Pascal schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Ich bin schon total zu. Der Zigeuner hat gesagt, das Zeug ist der Killer. Wenn ich das jetzt noch rauche, falle ich wahrscheinlich in Ohnmacht.“
Matt spuckte verächtlich auf den Boden. „Wie habt ihr mit so wenig Eiern zwei Weltkriege anfangen können?“
Pascal gähnte ein weiteres Mal. Diesmal war es nicht gespielt. „Lass es uns einfach morgen machen, Matt. Ich geh schlafen.“
Matt schlug Pascals Hand weg, die nach dem Gras griff.
„Willst du's etwa allein rauchen?“, fragte Pascal.
Statt zu antworteten schnüffelte Matt weiter an dem Marihuana und sagte: „Irgendwie ekelhaft, aber irgendwie auch geil. Wie eine ungewaschene Muschi, wenn du wochenlang nicht gebumst hast. Abtörnend, aber du weißt genau, das hier, das ist der Weg, du musst dich nur überwinden.“
„Ein schöner Vergleich“, sagte Pascal. „Tu mir bitte trotzdem einen Gefallen und zieh es nicht ohne uns weg.“
Matt winkte ab. Als Pascal im Bett lag, roch er durch das einen Spalt weit geöffnete Fenster den Rauch des Joints nach oben ziehen, den Matt sich angesteckt hatte. „Das ist der Weg“, flüsterte er und schlief grinsend ein.
Sander schüttelte ihn. Das Licht der einen nackten Glühbirne im Zimmer passte zur sonstigen spartanischen Einrichtung. Zweimal zwei Etagenbetten, drei davon belegt durch ihre Gruppe, eines frei. Ein Holztisch und ein Holzstuhl. Auf dem Tisch lag eine kroatische Jugendzeitschrift.
„Was ist?“, fragte Pascal, obwohl Matts Stöhnen ihm die Frage bereits beantwortet hatte, als er noch halb wach und halb schlafend gewesen war.
„Matt geht’s nicht gut“, sagte Sander. „Er war schon draußen kotzen, aber es wird nicht besser.“
Pascal sah zu Matt, der nur in Unterhose auf dem Bett lag und zitterte.
„Was ist los?“, fragte er.
„Mir ist schlecht“, sagte Matt. „Mir war noch nie so schlecht.“ Er schob ein paar derbe Flüche hinterher. Seine Stimme zitterte ebenso wie sein Körper. Aus seinem Mundwinkel lief Speichel. Er furzte und es roch wie feuchtes Hundefutter. Er furzte noch einmal und das weiße Bettlaken unter ihm verfärbte sich hellbraun.
„Gott Matt!“, rief Sander und hielt die Hände als Atemschutz vor den Mund. Pascal spürte Kotzreiz am Gaumen kitzeln. Er sah rote Schlieren in Matts flüssigem Exkrement.
„Er muss zum Arzt“, wimmerte Sander hysterisch.
Pascal nickte. Das Hostel war eine baufällige Absteige im Nirgendwo, das nächstgelegene Dorf war das Romalager. Nur der Mann mit den schlechten Zähnen kümmerte sich nachmittags um die Rezeption. Er saß zwei Stunden vor dem Eingang und las Zeitung. Sie waren die einzigen Gäste. Die Italienerinnen waren an diesem Morgen weitergezogen, ohne sich zu verabschieden. Matt hatte ihnen aus dem Fenster hinterhergerufen, ob sie über sein Angebot nachgedacht hätten.
Der Australier fuhr mit mit einem langgezogenen Schrei hoch. Seine Blutgefäße wölbten sich unter der der Haut, als würde etwas hindurchfließen, das ihr Fassungsvermögen überschritt. Er erbrach helles Blut.
Sander kauerte weinend in der Ecke und fragte immer wieder, was sie denn jetzt tun sollten. Über den Boden floss ein dünner Rinnsal auf ihn zu, kroch auf ihn zu wie eine Schlange, geformt aus Matts Ausflüssen.
„Matt, kannst du mich hören?“, fragte Pascal. Der Australier hörte kurz auf zu stöhnen und nickte. Sein Oberkörper war wieder aufs Bett gesunken. Pascal hatte das Gefühl, dass Matt ihn ansah. Er konnte nicht sicher sein, denn die Pupillen waren kaum noch zu erkennen. Matts Augen waren dunkelrote Bälle.
„Matt, hast du das Zeug geraucht?“, fragte Pascal. „Das schwarze Zeug? In der Folie?“
Matt nickte und sah an die Decke. Einen Augenblick lang war nur Sanders Weinen zu hören. Pascal schrie überrascht auf, als Matt blitzschnell die Hand um seinen Unterarm schloss und zudrückte.
„Was war das?“, fragte der Australier.
Er weiß es, dachte Pascal. Er schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung“, sagte er. „Ich schwöre, Matt, ich hab keine Ahnung, was es wirklich war.“
Matts Körper verkrampfte. Pascal spürte, wie sich die Finger noch fester in seinen Unterarm krallten. Er hörte Matts Knochen knacken, als wären sie plötzlich porös geworden. Der Australier ließ los und betrachtete ungläubig die Finger, von denen jeder jetzt vier, fünf oder sechs Gelenke zu haben schien. Er hielt sie nah vor das Gesicht, scheinbar konnte er mit seinen roten Augen nicht mehr viel sehen. Matt fing an zu weinen, und als ob das Salz sein rechtes Auge auflösen würde, tropfte es aus der Höhle heraus über seine Wange.
„Matt, es tut mir leid, okay?“, sagte Pascal. „Ich wusste das doch nicht, verdammt! Ich hole Hilfe!“
Wie zur Antwort furzte Matt, und was diesmal aus ihm herauskam, musste halbwegs fest sein, denn Pascal sah, wie es die Boxershorts des Australiers füllte.
Die Tür flog auf, Cosmin sprang Pascal entgegen und schlug ihm ein paar Mal ins Gesicht. In Gedanken sah er immer wieder Matts Auge zerlaufen wie ein rohes Ei. Er hatte nicht einfach angeklopft, er hatte gegen die Wände des Wohnwagens geschlagen und getreten und dabei Cosmins Namen geschrien.
„Es gibt kein Geld zurück!“, schrie Cosmin. Pascal lag auf dem Rücken und schützte sein Gesicht mit den Armen. Cosmin prügelte unablässig auf die Deckung ein. „Fick dich, scheiß Tourist, gekauft ist gekauft.“ Zwischendurch unterbrach er seine Hiebe, um ein paar Namen zu rufen.
Hunde bellten, mit dem Lärm der Tiere näherten sich auch Schritte und Schreie. Einige riefen Cosmins Namen. In den meisten Wohnwagen um sie herum wurde das Licht angeknipst, in den Fenstern erschienen die Silhouetten von Männern und Frauen. Einer der Schatten hielt etwas, das wie ein Gewehr aussah.
„Warte“, schrie Pascal. „Cosmin, hör auf! Ich brauche deine Hilfe, ich will kein Geld zurück!“
Der Rhythmus, in dem die Schläge Pascal trafen, wurde langsamer. Er glaubte, ein Pfeifen zu hören. Cosmins Faust hatte sein linkes Ohr einige Male erwischt. Um sich herum sah er Füße in Stiefeln, Sandalen und Turnschuhen, außerdem Hundepfoten. Eines der Tiere biss ihm in den Unterschenkel. Pascal schrie. Der Herr der Hundes zog ihn zurück.
„Was soll das heißen, du brauchst meine Hilfe?“, fragte Cosmin. Er atmete schwer und schnell.
„Ich will kein Geld zurück, ich schwöre es“, sagte Pascal. „Bitte.“
Die Männer hatten die Hunde zur Ruhe gebracht, nur vereinzelt kläffte noch einer auf. Cosmin schickte die Herbeigeeilten fort. Sie schimpften. Pascal erkannte einen von ihnen als Sergiu. Cosmins Cousin blieb. Pascal erzählte, was passiert war. Sergiu spuckte auf den Boden.
„Wieviel hast du mitgenommen?“, wollte Cosmin wissen.
„Nicht viel“, sagte Pascal. Er erklärte, dass er nicht wusste, wieviel Matt geraucht hatte, aber dass der Australier schlimm aussah, wirklich schlimm.
„Wir müssen zu ihm“, sagte Pascal. „Wisst ihr, was wir machen können?“
Cosmin sah Sergiu an. „Ja“, sagte er.
Sie sprachen Rumänisch. Sergiu holte etwas.
Pascal saß auf der Rückbank und sagte nichts. In einem klapprigen Kombi holperten sie über eine Straße voller Schlaglöcher dem Hostel entgegen. Im Radio lief etwas, das wie Nachrichten klang. Sergiu und Cosmin unterhielten sich leise und rauchten Zigaretten. Das war leichtsinnig, denn neben Pascal lagen drei volle Benzinkanister auf dem Sitz.
Sander musste fortgelaufen sein. Die nackten Füße des Norwegers hatten Spuren aus Matts Blut und Scheiße hinterlassen. Sergiu strahlte sie mit der Taschenlampe an. Pascal humpelte den Roma hinterher, der Hundebiss schmerzte. Im Zimmer lagen noch Sanders Sachen. Für seine Flucht hatte er sich nicht einmal angezogen.
Sergiu und Cosmin betrachteten kurz, was von Matt übrig geblieben war. Pascal spürte, wie sein Mund sich bei dem Anblick mit Erbrochenem füllte, das sein Kinn herablief, als er „Oh, Gott!“ sagte.
Die Roma begannen kommentarlos, die Kanister im Zimmer auszuleeren, das meiste schütteten sie über Matt. In der unförmigen Fleischpampe öffnete sich etwas. Pascal erkannte, dass es der Mund war. Matt sagte, dass er Benzin röche. Sehen konnte er nichts mehr. Seine zu doppelter Größe angeschwollene Zunge hing heraus. Matt hechelte damit wie ein Hund. Sein Bauch war nach Innen gewölbt, die ausgeschiedenen Innereien beulten die Unterhose aus.
Matts letzte Worte taten Pascal gut. Sie schienen ihm wie der Beweis, dass der Australier nicht mehr verstand, was mit ihm geschah, dass nicht mehr viel von Matt übrig war in dem, was einmal Matts Hülle gewesen war.
„Just kidding“, sagte er und lachte das Matt-Lachen. Sergiu und Cosmin hielten Feuerzeuge an das verschüttete Benzin. Die Flammen krochen das Bett herauf. Sie verwandelten Matt kurz in ein quiekendes Etwas, bevor Sergiu einen Revolver aus seiner Jacke hervorholte und dreimal dahin schoss, wo einst Matts Kopf gewesen sein musste. Pascal spürte seine Beine unter sich nachgeben. Sergiu und Cosmin schleiften ihn aus dem Haus und legten ihn auf einer der Bänke ab. Der Motor des Kombis startete und wurde leiser. Obwohl das Feuer lichterloh über ihm brannte, wurde es sehr, sehr dunkel um Pascal.
Er roch Matt neben sich in der Finsternis. Benzin und Scheiße. Er hörte ihn hecheln. Die Zelle war eng und feucht, vorherige Insassen hatten in Ermangelung einer Toilette einfach den Fußboden für ihr kleines Geschäft genutzt. Der Hundebiss pochte, als hätte er einen eigenen Puls.
„Wie geht’s dir, Klaus?“, fragte Matt. Pascal hörte, wie schwierig es war, die Worte an der geschwollenen Zunge vorbeizupressen.
„Das hab ich nicht gewollt“, sagte Pascal. „Lass mich in Ruhe.“ Draußen hörte er Polizisten Rumänisch sprechen. Seine Papiere waren verbrannt. Sie hatten ihn geschlagen, weil sie gedacht hatten, er würde sich blöd stellen, als er nur deutsch gesprochen hatte. Er befühlte vorsichtig seine gebrochene Nase. Der Schmerz schoss direkt in seinen Kopf, und er war ebenso real wie Matt. Das ist nur in deinem Kopf, dachte Pascal und lachte. Nur in deinem Kopf. Was für ein Trost sollte das sein? Matt war tot, erschossen, verschissen, verbrannt, aber er saß hier neben ihm in der Zelle, in seinem Kopf, der schmerzte von den vielen Schlägen, die er erst von Cosmin und später von den Polizisten erhalten hatte. Das alles aber war nichts gegen das glühende Stechen im Bauch, das vor einigen Minuten begonnen hatte.
„Ihr habt beide mitgeraucht, Klaus“, sagte Matt neben ihm. Stücke des Australiers spritzten gegen Pascals Ohr, wenn er sprach. „Du und der Fischficker“, sagte Matt. „Durch das Fenster. Passivrauchen ist tödlich, Klaus.“
Pascal stand auf und schlug gegen die verrostete Zellentür. „Was ist, wenn ich muss?“, schrie er. „Soll ich hier reinscheißen, oder was?“
Kurz verstummten die Stimmen, dann redeten sie ungerührt weiter.
„Ich warte“, sagte Matt.
„Geh weg“, sagte Pascal. Dieses furchtbare Stechen.