Mater dolorosa
Ich kann mich nicht mehr erinnern, warum wir zu streiten begonnen haben. Doch nun geht das schon seit guten zwei Stunden so. Natürlich habe ich ihr schon alle meine Argumente dargelegt, probiert nüchtern und sachlich zu sein, was, unter uns gesagt schwer ist. Doch ich streite nicht mit irgendjemand. Nein, ich streite mit meiner Mater. Und diese Streite sind die schlimmsten. Ich würde eine Auseinandersetzung mit meiner Mater ja mit dem Reden gegen die Wand vergleichen, doch das kommt der Sache noch nicht mal nahe. Nun ist es also so, dass ich nach zwei Stunden Streit kurz vorm Kapitulieren bin, obwohl sich alles in mir gegen diese Schande wehrt. Wobei auch das kindisch ist … Gibt nicht der Klügere immer nach? Sie steht breitbeinig vor mir und brüllt mich an und gestikuliert aufs heftigste mit dem Kochlöffel, wie als ob sie mit einem unsichtbaren Gegner fechten würde. Meine Mater kocht eigentlich gerade das Mittagessen und auch ich hätte Besseres zu tun, als hier mit ihr zu diskutieren. Nein, sie geht zu weit, solche Sachen lasse nicht mal ich mir an den Kopf werfen. Muss ich der klügere sein?
Mein Gegenangriff fällt mehr als dürftig aus: „Mum, ich finde, das ist unfair!“ Mehr kommt mir nicht über die Lippen, meine Mater fährt mir über den Mund. „Das hast du dir selber zuzuschreiben!“, blafft sie mich an. Innerlich rase ich vor Wut, ich muss mich zusammenreißen, dass ich nicht ebenfalls explodiere. Doch ich werde mich nicht auf ihr Niveau herabbegeben. Natürlich, falls ich mich an den Auslöser unseres Streits erinnere, werde ich versuchen, dieses Benehmen zu vermeiden. Doch nicht etwa weil ich meine Verfehlungen eingesehen habe, sondern weil ich Angst vor so einer Eskalation habe. Nur, meine Mater wird das als Erziehungserfolg deuten. Ich könnte kotzen. Nachdem ich am Absatz kehrt gemacht habe, sperre ich mich in meinem Zimmer ein. Wenig später steht das Essen vor der Tür, meine Mater bleibt verschwunden. Die Spaghetti schmecken, wieder versuche ich stark zu sein doch hier, in der Geborgenheit meines Zimmers muss ich schluchzen. Nichts ist verletzender, als unfair behandelt zu werden. Meine Mater und ich wechseln an diesem Tag kein Wort mehr. Doch als ich schon im Bett liege, fast eingeschlafen, steckt meine Mater den Kopf zur Tür herein und flüstert: „Warum tust du mir das an?“