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Masken
Masken
Blumen sind etwas Wunderbares. Nicht zum ersten Mal beeindruckte ihn das Spiel, diese Komposition aus Farben und Gerüchen, als die allmorgendlich aufgehende Sonne ihre Strahlen zu ihm auf die städtische Parkbank schickte, den Tau küsste, ihn zum Leuchten brachte und der Duft tausender Blumen die Luft schwängerte.
Dieser Duft überwältigte alles, Rosen, Veilchen und Stiefmütterchen, Blumen sind wahrhaft etwas Wunderbares, die auf der Bank sitzende Gestalt allerdings schien nichts von alledem zu bemerken, äußerlich nicht.
Neben ihm auf der Bank lag ein vergilbter und zerrissener Zettel. Es musste sich ursprünglich um ein Gedicht gehandelt haben, allerdings waren alle Zeilen verwaschen, nur die ersten zwei waren noch zu entziffern:
Grau in Grau, so liegt er da,
Ist doch sein Licht so sonderbar,
Er würdigte ihn nicht eines Blickes. Stumm und taub betrachtete er seine Umgebung, kein Wort hatte er je gesprochen, keines vernommen. Aber das war auch nicht wichtig. Es war für ihn nicht wichtig.
Nur eines zählte. Ein einziger Wimperschlag, ein Moment, ein Bild eingefroren, eingebrannt in seinen Geist. Flüchtig, unschuldig in seiner eigentlichen Bedeutung, wohl aber schwer der Erkenntnis, die ihm entstieg. Langsam aber aufmerksam folgte sein Blick den Schatten, die eine einsame, verloren wirkende Familie warf. Die Mitglieder dieser trauten Gemeinschaft schienen den frühen Morgen zu nutzen um einen Spaziergang durch den Park zu machen. Sie gingen an seiner Bank vorbei ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Aber das war er gewöhnt, er hatte sich an viel gewöhnt, dachte er bitter.
Als er die Gesichter der Familie musterte, waren sie noch immer da. Schreckliche Fratzen, vor Schmerz und unerfüllter Hoffnungen verzerrt. Warum tragen sie nur alle Masken? WARUM? In Gedanken hatte er die letzten Worte so laut in sich hinein geschrieen, dass er dachte, alle hätten es hören müssen, aber niemand wandte sich um. So beobachtete er stumm weiter, unfähig sich abzuwenden.
Der Mann, der mittleren Alters war, gänzlich normal, nicht besonders groß oder klein, wenn auch das Alter seinen Tribut forderte und sich die ersten kahlen Stellen auf seinem Kopf abzeichneten. Aber sein Gesicht. Dieses Gesicht, er betrachtete es mit einer Mischung aus Ekel und Interesse. Die Augen waren weit aufgerissen, blutunterlaufen und seine Mundwinkel waren wie im Wahnsinn verkrümmt. Er schien ununterbrochen zu lachen, aber die Gestalt kannte diese Art Masken, es waren jene, die nichts in ihrem Leben erreicht hatten, diejenigen deren Träume in jeder Beziehung nicht in Erfüllung gegangen waren. In der Linken hielt er eine halb leere Whiskyflasche, in der Rechten aber ein Messer. Er betrachtete die Frau. Mit etwas Fantasie ließ sich erkenne, dass sie früher einmal eine echte Schönheit gewesen war, aber die Jahre als Hausfrau und Mutter hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, die sie durch eine dicke Schicht Make-up zu touchieren versuchte. Auch ihr sah man an , dass sie sich ihr Leben anders vorgestellt hatte. Eine schmerzliche Erinnerung an eine Zeit, als sie noch nicht die Verantwortung für eine Tochter hatte tragen müssen, zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab, genau wie die unterdrückte Wut auf ihren Mann, auf ihre Tochter, auf ihr Leben. Waren die Augen ihres Mannes blutunterlaufen, so waren die ihren unterlegt von schwarzen Ringen, ob der vielen schlaflosen Nächte, die sie weinend verbracht hatte.
Langsam schweifte sein Blick auf das kleine Kind. Das Mädchen hatte etwas Destruktives an sich, etwas Besitzergreifendes. Der Unterschied zu seinen Eltern war, dass es sein Wesen noch nicht unter einer Maske versteckt hatte. Und doch konnte die Gestalt ihren Anblick nicht ertragen.
Hatte er die Familie bis jetzt mit erwartendem Interesse beobachtet, so schlug dieses Gefühl nun in entsetzte Erwartung um. Der Mann hatte begonnen langsam vor und wieder zurückzuwippen. Langsam hob er die Hand, in der er ein Messer hielt. Die Frau allerdings schien das nicht zu bemerken. Doch als das Kind begann, an ihrem Rock zu zerren und etwas verlangte, veränderten sich ihre Gesichtszüge, man konnte regelrecht spüren, wie ihre aufgestaute Wut sich entlud, als sie den Körper ihres Kindes weit von sich schob.
Doch etwas stimmte nicht. Irgendetwas störte ihn. Es war nicht dieses Bild alltäglicher Gewalt. Diese Bilder sah er jeden Tag, jeden Augenblick seines Lebens. Nein, es war etwas anderes. Dann erkannte er es und er begann an seinem Verstand zu zweifeln: Die Schatten.
Die Schatten der Familie hatten sich die ganze Zeit über zusammengeschmiegt. Drei Schatten waren zu einem verschmolzen.
Das erste Mal in seinem Leben senkte er den Blick auf den Boden, um seinen Schatten zu erkennen. Er sah nichts, er warf keinen Schatten! Dann wagte er sich selbst anzusehen.
Es ist alles nur Staub und Schatten, Masken.
[Beitrag editiert von: Belerophon am 16.03.2002 um 21:43]