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Mary
Auf dem Dach des Hochhauses mit erhobenen Armen wie ein Engel.
Das ist nicht das Ende, sage ich mir, das ist ein Ende, aber nicht Das Ende. Durch den Regen wirkt mein Hemd wie eine zweite Haut und meine Haare wie Fische, die mir zappelnd ins Gesicht schlagen.
Das ist nicht das Ende, sondern nur ein neuer Anfang.
Wenn man einhundert Meter über dem Erdboden auf einem Hochhaus steht, ist es immer windig und immer kalt. Das gehört nun einmal zu der Dramatik eines Selbstmordes dazu. Der Wind. Der Regen. Der Ameisenteppich aus Schaulustigen unter mir. Die Stimmen, die mich davon abhalten wollen zu springen. Die Stimmen in meinem Kopf, die mir zu verstehen geben, dass ich keine andere Wahl hätte.
Jeder muss mal sterben, trösten mich die Stimmen.
Meine Füße tasten sich über das Welldach, über die Abgrenzung, die immer stärker nachgibt, je weiter ich dem Abgrund entgegentrete.
Dann der berühmte letzte Schritt, der freie Fall, die Schwerelosigkeit.
Wenn man erstmal fliegt, kann man seine eigenen Schreie nur noch verzerrt hören. Wie Echos.
Wenn man erstmal fliegt, ist das wie eine wunderschöne Droge.
Ich erinnere mich noch an den Moment als alles begonnen hat, während mir die Tränen, die ich weine, wieder zurück in die Augen gedrückt werden.
Während die Erde immer größer zu werden scheint.
Ich erinnere mich an dieses Mädchen.
Ich erinnere mich an Mary.
Purpurrote Lippen. Mary fuhr mit einem goldbraunen Lippenstift über ihre purpurroten Lippen.
Als ich Mary zum ersten Mal begegnete, war sie gerade auf dem Weg zu einem Vostellungsgespräch in einer Werbeagentur. Wir teilten uns das Taxi, weil es nur noch eines gab, das am Flughafen wartete, und weil wir es eilig hatten.
Mary hielt für jedes Ereignis in ihrem Leben eine neue Lippenstiftfarbe bereit, deswegen waren ihr Lippen auch immer so dick und feucht. Für ein Geschäftsessen trug sie flamingo auf. Für den Zahnarztbesuch sollte es pink-champagner sein. Für den Besuch ihrer Eltern burgund. Fürs Taxi...
Mary lächelte mich an, als hätte sie in mir einen Filmstar erkannt, und ich starrte nur auf die Uhr, um zum zigsten Mal festzustellen, dass es kurz nach drei war. Ich konnte sie nicht direkt ansehen. Ich konnte nicht von ihr wegsehen.
Im Taxi berührte sie mit ihrem nackten Knie meines und stellte sich vor.
„Mary“, sagte sie, „Nennen Sie mich Mary!“
"Leon."
Das war kein goldbraun, würde sie zu meiner Unwissenheit beitragen. Das war bernstein. Bernsteinfarbene Lippen, in denen keine Insekten eingeschlossen waren, sondern unvergebene Küsse. Und eine tiefe Stimme, so tief, wie die von Armanda Lear.
Ich trug an diesem Tag nur meinen alten, schwarzen Trenchcoat und die Anglermütze und muss ausgesehen haben wie ein Gangster, dabei war ich doch Vertreter. Unrasiert, und mit Augenringen wie zerquetschte Pflaumen.
Der Fahrer hatte das Radio angeschaltet und ich hätte einfach nur nach draußen starren können, hätte einfach nur den laufenden Song genießen können, doch Mary fesselte mich mit ihren Fragen.
„Was machen sie Sie beruflich?“
„Vertreter.“
„Für was?“
„Für Gartenzubehör. Für Dekoration und so etwas.“
Mary trug eine dunkle Sonnenbrille unter ihren zurechtgezupften Augenbrauen. Mary hatte eine hochstehende Nase, bei der man egal von welchem Blickwinkel aus immer die ovalen Nasenlöcher erkennen konnte. Goldkettchen um ihre Handgelenke. Parfum von Douglas.
Sie fragte mich nach meinem Privatleben aus.
"Kinder? Hobbys? Lieblingsfilm? Pornosammler?"
Ich fühlte mich, als würde man mir kaltes Bürolicht ins Gesicht drücken und mich zu einem Mordfall befragen, den ich nicht begangen hatte, für den ich aber trotzdem verurteilt werden würde.
„Was ist ihr Frauentyp?“
„Äh, Frauentyp, naja, blond, jung, schlank...“
„Pah, pah, pah.... zu langweilig. Unrealistisch. Klischee. Auf was stehen sie wirklich? Fetisch? Epiliert? Blond auch untenrum? Piercings? Schwanger?“
Mein Hintern rutschte mit dem Rest des Körpers immer tiefer in die Sitzritze des Taxis. Mir wurde ganz schwindelig.
„Ich denke nicht, dass ich darüber reden sollte.“
„Sind sie alleinstehend?“
„Ich habe eine Katze.“
Mary kicherte und gab mir ihre Handynummer. Dann gab ich ihr meine. Marys Beine waren weiß wie Elfenbein, fein durchädert. Sie lenkte meine Blicke dorthin, wo sie sie haben wollte. Auf ihren Busen, den sie unter einem Anzug versteckte; auf die Augen hinter den getönten Gläsern, deren Farbe ich erraten sollte. Mary war eine Göttin. Das Idealbild einer Frau. Selbstbewusst und sexy.
Das Taxi hielt vor der Agentur und sie stieg aus. Mein Blick klebte an ihrem Arsch, mein Körper klebte am Trenchcoat, klebte am Sitz. Sie drehte sich um, nahm ihre Brille nach unten und zwinkerte mir zu.
„Blau, Süßer. Meine Augenfarbe ist azurblau...“
Ich bezahlte die Fahrt.
Sie lud mich zum Essen ein.
Man muss noch dazu sagen, dass Mary Gedanken lesen konnte. Nicht durch Telekinese. Sie wusste einfach was ich dachte, was ich fühlte, was ich wollte. Weibliche Intuition, nannte sie das. Sie war sozusagen die Catherine Tramell aus Basic Instinkt, die mit dem Eispickel in meinem Hirn rumhämmerte.
Für sie hatte jeder Werbe-Slogan etwas von einer Beziehung.
„Nehmen Sie zum Beispiel den Claim der Rittersport-Werbung. Quadratisch, praktisch, gut. Ein einfacher Claim, von dem sie meinen, dass er nichts Besonderes an sich hätte.“
Mary redete, während sie den Rotkäppchensekt in ihrer Hand schwenkte. Ihr Atem brachte die Kerzenflamme zum zittern.
„Diese drei Wörter bilden einen Klimax. Eine Steigleiter. Die Anzahl der Silben pro Wort nimmt kontinuierlich um eins ab, aber die Aussagekraft nimmt zu. Zuerst haben sie da das Wort „quadratisch“, okay jeder weiß, was es bedeutet, aber es ist umständlich, kompliziert, gestelzt. Dann kommt „praktisch“, das ist schon einfacher, gebräuchlicher, damit weiß man mehr anzufangen. Und dann das letzte Wort. „gut“. Ganz einfach, präzise, völlig ausreichend. Der Kunde weiß genau, was er daran hat..“
„Und bei der Beziehung.“
„Bei der Beziehung ist es genauso. Erst wird viel geredet, hochtrabend geredet, gesülzt. Und dann, wenn man es bis ins Bett geschafft hat, beschränkt man sich nur noch auf einzelne Laute und Worte. Völlig ausreichend. Man kommt sozusagen zum Punkt.“
Und die Perlen in ihrem Sektglas sprudelten.
„Die Psychologie der Werbung ist die Psychologie des Sex.“
Mary bestellte sich Evian zum Sekt und sah mir in die Augen. Sie trug eine Bluse und darunter einen Rock aus Tüll, Halbmondohrringe, eine Ledertasche von Gucci, Schuhe von Gucci und eine Sonnenbrille. Die Farbe ihres Lippenstiftes, die an den Rändern des Sektglases kleben blieb, nannte sich Passion Red.
„Think. Feel. Drive. (Subaro)“, flüsterte sie.
„Ich mag dich. Ich liebe dich. Ich will dich.“
„Der Höhepunkt.“
Sie wollte nur ihr Besteck aus der Serviette rollen, und berührte meine Hand. Ich spürte die Rillen in ihren Fingerkuppen, so scharf waren meine Sinne. So gelähmt mein Verstand.
Mary hatte Garnelen und Heilbutt in Kapernsoße bestellt. Ich saß über einem Rumpsteak. Der Kellner brachte abwechselnd Bier, Sekt, Wein, Evian, und schon bevor er wieder gehen konnte, zupfte Mary ihn am Smoking und deutete mit dem Zeigefinger auf die leere Flasche.
„Noch eine, okay, Schätzchen?"
Mary zwinkerte ihm mit den verhüllten Augen entgegen.
„Noch einen Halbtrockenen, die Dame?“
„Alles noch mal!“
Mary trank den Wein wie Mineralwasser, das Mineralwasser wie Luft. Sie knöpfte ihre Bluse auf, wodurch man ein Top aus Satin erkennen konnte und um ihren Hals eine Kette aus Sterlingsilber mit einem Diamanten.
„Mein Ehemann!“, sagte sie, „Die zu Kohlenstoff gepressten Reste meines Ehemanns.“
Das Essen, das Rumpsteak, der Salat. Plötzlich wollte nichts mehr in meinen Magen flutschen. Meine Speiseröhre verschloss sich.
Ich legte das Besteck beiseite und ließ meinen halbaufgegessenen Teller vom Kellner wegräumen.
Nach dem Essen zog Mary mich auf die Tanzfläche, wie eine sperrige Bronzestatue und klammerte ihre Beine um meine. Marys Arme waren ganz weiß, keine Spur von Bräune. Sie krallte ihre Fingerspitzen in meinen Rücken und sagte: „Tanzen wir!“
„Okay! Tanzen wir“
Auf der Tanzfläche stand niemand außer uns. Die Hummer in den Aquarien starrten uns aus ihren Stecknadelkopf-großen Augen an und die Gäste ignorierten uns gekonnt. Musik wurde erst aufgedreht, wurde dann aber wieder abgedreht, als sich jemand beschwerte. Mary schraubte das eine Ende ihres Mp3-Players in mein Ohr, das andere in ihres. Die Strippe baumelte zwischen uns, wie eine Dschungel-Liane und schwang im Takt unserer Bewegungen. Dam Dadam...Dadam...
„Du musst dich entspannen“, sagte Mary, „Vergiss alles um dich herum!“
Dam Dadam....Dadam.
In einem Ohr den Walzer, und im anderen Ohr das Besteck-Geklimper und die Gespräche der Gäste, die sich nicht für uns interessierten. Irgendwann hörte ich nur noch den Walzer, sah nur noch Mary, die weißen Arme, das Kleid, die Sonnenbrille. Alles andere war schwarz. Wie ausgeblendet.
„Wenn du noch etwas tun könntest, bevor du sterben müsstest, was würde das sein?“
Marys Fingerkuppen massierten meine Wirbelknochen bis sie sich auszuklinken drohten und ich starrte ihr in den noch offenen Mund. Ich dachte im Akkord. Ich keuchte.
„Mittelmeer. Ich hab noch nie das Mittelmeer gesehen.“
Mary nickte und lächelte über ihre Passion-Red-Lippen und beugte sich über meine Schulter dicht an mein Ohr, sodass ich kalt ihren Ehemann auf meiner Haut spüren konnte.
„Morgen, um halb 12, an der Passauer Straße und sei pünktlich.“
Mary glitt wie ein Schwan über die Tanzfläche, drehte ein paar Pirouetten und verschwand dann, ehe ich sie verabschieden konnte. Ihre Tasche war weg, das Lächeln war weg. Vor allem aber das unbezahlte Essen in ihrem Magen. Dann saß ich wieder am Tisch, mir gegenüber ein leerer Stuhl.
Und die Realität holte mich ein.
„Die Rechnung, mein Herr!“
Der Kellner legte den Umschlag auf den Tisch und grinste. Ich hatte nie getanzt. Mary hatte es nie gegeben. Doch, was war mit dem Lippenstift an ihrem Glas? Mit der kalten Stelle an meinem Hals. Mary war weg und die Rechnung war so lang wie eine Einkaufsliste im Supermarkt.
Mary hatte mich mit der Rechnung einfach sitzen lassen.
Es gab einen Windzug, als ich mir verzweifelt mit der Hand gegen die Stirn schlug, unter dessen Wucht die Kerzenflamme zitterte.
Theoretisch musste ich nichts bezahlen, was ich nicht selber auch gegessen hatte, doch der Kellner stand neben mir, wie ein Verkehrspolizist. Ein falsches Lächeln auf den Lippen und eine Hand hinter dem Rücken, die gleich eine Pistole hervorholen könnte.
Und plötzlich schenkten mir alle Gäste wieder ihre Aufmerksamkeit.
Ich saß in meinem eigenen Schweiß mit Salztropfen zwischen den Wimpern und zwischen den Brauen.
Der Kellner und die empörten Augen der Gäste.
Ich grinste und seufzte und bezahlte alles.
Am nächsten Tag stand Mary mit ihrem Wagen an besagter Stelle und winkte mich herbei. Ich wollte sie zur Rede stellen, ich wollte ihr eine Ohrfeige verpassen und endlich mal den Mund aufreißen, doch sie drückte mir nur den Finger auf die Lippen und sagte: „Schhhhhttttt......leise, sonst hört dich noch mein Ehemann und wird eifersüchtig“
Sie drehte ihren Diamantenanhänger nach innen, sodass man nur noch die Goldfassung erkennen konnte. Dann packte sie meinen Schlips und zog mich in den Wagen.
„Offiziell sind wir immer noch verheiratet, und der Tod hat uns noch nicht getrennt.“
Mary trug einen Sommerhut mit einer Straußenfeder und suchte sich ihren neuen Lippenstift aus der Handtasche, der angeblich aus echtem Walfett hergestellt wurde. Deep Blue. Ihre Lippen waren jetzt blau-violett.
Als sie losfuhr klatschte mir die Straußenfeder ins Gesicht. Ich hatte wieder meinen Anglerhut, den geöffneten Trenchcoat und ein Sweatshirt mit der Aufschrift „Hobby-Angler“ angezogen. Auf Marys Tasche standen in Gold ihre Initialen. Das heißt, dort stand nur ein einziger Buchstabe, ein einziges M, und ich fragte sie, ob sie keinen Nachnamen hätte und sie lächelte mir entgegen.
„Ich bin wie Madonna.“
Und ob sie wie Madonna war. Eine Künstlerin, die ihre Identität genauso schnell wechselte wie ihre Kleider.
Mary ging in Museen und malte aus Langeweile Bärte an die Portraits berühmter Personen, wenn keiner hinsah. Stellen sie sich Albrecht Dürer doch mal mit Koteletten vor! Élisabeth Vigée-Lebrun als Hitler! Mary stieg ohne Ticket in Züge und schloss sich während der Fahrt auf dem Klo ein, wo sie Grußbotschaften in die Fliesen ritzte. Wo sie Liebesgedichte mit Lippenstift an die Spiegel malte.
Wann immer ich dachte, ich würde sie kennen, offenbarte sie mir eine neue aufregende Seite. Sie hörte mein Herz klopfen. Sie hörte meinen Atem durch die Haare in meiner Nase säuseln. Sie griff mir ans Knie, wann immer sie von der Kupplung losließ. Sie griff mir an den Sack, wann immer die vom Knie losließ.
„Ich fahr dich nach Italien.“, sagte sie, „Ich fahr dich nach Rom und du wirst für mich im Kolosseum singen, okay?“
„Singt man denn im Kolosseum?“
„Du singst im Kolosseum. Sing für mich: „Free like the wind!“
Mary trug Samthandschuhe mit Fransen, die ihr bis zu den Oberarmen reichten. Platinohrringe, so groß und pompös wie Kronleuchter. Schlangen-Leder-Stiefeln, mit denen sie sanft das Gaspedal massierte, wie ein ängstliches Beutetier. An ihrem Rückspiegel hingen ein Engel und ein Teufel und beide waren mit goldenen Eheringen verbunden.
Mary grinste und drückte mir wieder dieses kalte Verhör-Licht ins Gesicht.
„Magst du Marihuana?“
„Also...“
„Ich auch nicht sonderlich. Ich steh mehr auf Kokain. Bei einem Meeting kommt es immer schlecht, wenn man so riecht, als hätte man gerade zwei Stunden in einem Hippie-Van geschlafen. Deswegen bin ich auch auf Schnee umgestiegen. Inoffiziell kokst die ganze Werbeabteilung. Offiziell sind wir alle saubere, anständige Bürger. Ohne Drogen überlebt man diesen Job nicht.“
Mary tippte auf die leere Tankanzeige und fluchte. Der Wagen schluckte einfach zu viel. Keine Tankstelle in der Nähe und kein voller Kanister im Kofferraum. Wenn nichts geht, dann geht immer noch Olivenöl, sagte sie. Speiseöl, Kokosnussöl. Alles, was man im Supermarkt für einen Euro kriegt, belebt deinen Tank für ein paar Kilometer.
Mary stieg aus; stieg nicht auf ihrer Seite aus, sondern kletterte über meinen Schoß. Meine Nase in ihren Ausschnitt gedrückt. Ihre Stiefelabsätze auf meine Halbschuhe. Ihr Ehemann vor meinem geschlossenen Mund, zwischen meinen geschlossenen Lippen. Sie rannte zum nächst gelegenen ALDI und ließ mich hier allein. Ließ mich allein für Stunden. Irgendwann zogen dunkel Wolken auf und Regentropfen prasselten auf die Kunstleder-Sitze. Ich suchte vergebens nach dem Knopf fürs Verdeck, durchblätterte dann einige Pornos, die ich in ihrem Handschuhfach gefunden hatte, und bemerkte nicht die Hand die mir auf die Schulter klopfte.
„Würden Sie bitte einmal aussteigen!“
Der Polizist, der plötzlich neben mir auftauchte, hatte lange blonde Koteletten und lockige Haare. Sein Atem stank nach Fisch und er hauchte ihn mir absichtlich ins Gesicht.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“, fragte ich und stieg aus.
„Würden sie bitte den Kofferraum öffnen!“
Ich spielte den Ahnungslosen, beteuerte mehrfach, dass es sich nicht um meinen Wagen handelte, dass ich nichts verbrochen hätte, und unter der Woche doch nur Gartenzubehör verkaufte.
Der Fischgestank war unerträglich, die Augen des Polizisten rot durchädert.
Ich öffnete den Kofferraum und fiel in Ohnmacht.
Wenige Stunden später wachte ich auf dem Revier auf.
„100 Kilogramm hochwertiges Kokain. Und die Leiche eines jungen Mannes, Anfang 20.“
Die Stimme einer blonden Polizistin küsste mich wach. Ich lag mit dem Kopf auf einem Edelstahltisch. Spuckefäden trennten mein Gesicht von der Tischoberfläche. Kaltes Bürolicht vor meinen Augen. Brandschutzplatten über mir. Ein Ventilator, der mir immer wieder die Augenlider zudrückte. Meine Nase war ganz rot und weiße Hautfetzen schälten sich von ihr ab.
„Leon Dombrivski, wir werden sie in U-Haft stecken und in einer Woche dem Richter vorführen.“
„Aber wieso, was soll das? Das ist nicht mein Wagen.“
„Der Wagen ist eindeutig auf Sie zugelassen. Es gab auch keine anderen Personen in Ihrer Nähe.“
„Was ist mit Mary?“
„Mary wer?“
„Mary eben. Sie hat keinen Nachnamen. Sie wollte nur schnell Speiseöl besorgen und dann wiederkommen. Wir wollten ans Mittelmeer fahren.“
Die Uniform der Polizistin knautschte bei jeder Bewegung, die sie machte. Sie drehte sich zu ihren Kollegen, blätterte in Unterlagen, sah mich an. Ihr Gesicht war ganz weiß, ganz verschwommen, und durch das Licht nur von einer Seite beschienen. Ich starrte unentwegt auf ihre Titten, die so groß wie Handbälle wirkten und wischte den Sabber vom Tisch.
„Sind sie drogenabhängig, Leon?“
„Nein!“
„Haben sie heute Drogen genommen?“
„Nein!“
„Leiden Sie an Epilepsie? Nehmen sie bewusstseinsverändernde Medikamente zu sich?“
„Um Gottes Willen, nein!“
„Was wollten Sie mit dem Kokain anfangen?“
„Das ist nicht meins, das gehört Mary!“
Die Polizistin seufzte lautstark.
„Wir hatten vor einigen Wochen mit einer Frau zu tun, die sich Mary nannte, die ebenfalls Kokain über die Grenzen geschmuggelt hat und erwischt wurde. Susanne Schuhmacher hieß sie mit bürgerlichen Namen.“
„Genau die wars.... Sie müssen sie wiederfinden!“
„Nicht nötig! Sie hat sich vorgestern im Gefängnis erhängt. Ihre Leiche liegt schon auf dem Friedhof.“
In diesem Moment wollte ich schreien, doch meine Stimmbänder streikten. Meine Ohren sausten vom Unterdruck und von den Schmalzbatzen in ihnen, und meine Augen tränten und entzündeten sich.
Das war ein Ende, aber nicht das Ende.
Wäre ich nicht gestorben, hätte sich mein Anwalt sicher auf geisteskrank berufen und ich hätte dem Gericht etwas von einem Gespenst vorgestottert.
Leider lief alles anders.
Nachdem sie mich abführten, stellte ich fest, dass der Stift der Handschellen hinter meinem Rücken nicht richtig eingerastet war. In einem unachtsamen Moment türmte ich. Das Blut in meinen Beinen war noch ganz dick und tat bei jedem Schritt weh, doch ich türmte trotzdem. Kugeln sausten an mir vorbei, streiften meine Haut, und schmerzten wie Tropfen heißen Fetts, die man beim Braten abbekommt. Ich stieß mit dem Kopf einige Polizisten weg und rannte die Treppen hoch, bis zum Dach, wo es mittlerweile ziemlich dunkel geworden war und regnete. Die Handschellen warf ich nach unten, bis man sie nur noch als zwei glitzernde Münzen in einem Glücksbrunnen erkennen konnte. Ich stellte mir Mary vor, wie sie ihre Lippen mit Rain-Noir einrieb und wie ein Gothic aussah. Und wie sie ihre gepuderte weiße Nase in die feuchte Luft hielt.
„Das ist nicht nur ein Ende. Das ist auch ein neuer Anfang!“, flüsterte sie mir zu und gab mir einen Luftkuss.