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Martin
Eigentlich lief das mit dem Schreiben des Romans wie geschmiert. Ich war schon auf Seite 210, im zehnten von zwölf geplanten Kapiteln, Ute hatte soeben mit Karl Schluss gemacht, Brigitte wusste, dass Simon irgendwie in den Mord verstrickt war und Martin tauchte auf. Leider hatte ich keinen blassen Schimmer, wo dieser Charakter namens Martin eigentlich herkam und was er in meinem Buch zu suchen hatte.
Nun gut, als Autor weiß man ja nicht unbedingt immer so genau, wo eine Idee herkommt, und ist einfach zufrieden, wenn sie plötzlich da ist. Aber dieser Martin war eindeutig ein Fremdkörper. Ich hatte erste Angst, unwissentlich eine Figur aus einem anderen Werk übernommen zu haben, aber das war nicht der Fall. Martin war eindeutig eine unverbrauchte Idee. Und das aus gutem Grund, denn er war einfach nur langweilig. Aber leider begann er, den Plot langsam aber sicher an sich zu reißen.
Bald war ich auf Seite 300, und meine bisherigen Protagonisten spielten gerade noch mal Nebenrollen. Als ich Seite 380 erreichte, war ich mir nicht mehr sicher, wer denn jetzt eigentlich Brigittes Vater umgebracht hatte und als ich letzten Satz von Seite 411 schrieb, fragte ich mich, ob denn nun Ute mit Karl schlussgemacht hatte oder Simon mit Björn. Zudem widersetze sich Martin jedem Versuch meinerseits, ihn etwas wirklich Interessantes tun oder erleben zu lassen. Irgendetwas was einer Erzählung wert gewesen wäre. Nach knapp 500 Seiten begann ich zu erzählen, was Martin an roten Ampeln ganz besonders hasste und hatte meine ursprüngliche Vision vollkommen aus den Augen verloren.
Eigentlich hätte ich die Geschichte schon nach Martins erstem Auftritt in die Tonne treten sollen, aber Martins Persönlichkeit und seine Geschichte waren trotz ihrer Belanglosigkeit mit einer Art klebrigen Faszination behaftet, so dass ich einfach nicht anders konnte als weiterzumachen. Ich schämte mich schon dafür, einem so langweiligen und dummen Charakter mehr als einen Satz zu widmen.
Aber als ich Seite 613 in den Computer tippte, das Ende eines Kapitels in dem es hauptsächlich ums Einkaufen von Wurstwaren ging, entschied ich mich endlich dazu, dem Ganzen und diesem insbesondere diesem Martin ein Ende zu bereiten. Ich hatte einen schnellen, urplötzlichen Tod ins Auge gefasst. Am nächsten Tag setzte ich mich fast schon beschwingt an den Computer, um diesen Entschluss auch in die Tat umzusetzen.
Als ich dann auf Seite 1002 angekommen war, wurde mir klar, dass ich versagt hatte. Ich wusste nicht genau warum, aber irgendwie gelang es mir ebenso wenig ihn sterben zu lassen, wie ihn interessant oder wenigstens lächerlich zu machen. Ich versuchte das Alles des öfteren. Genauer gesagt bis Seite 2165, aber auf diese Weise konnte ich dem Typen nicht beikommen. Und mir dämmerte dann auch langsam warum.
Martin war kotzlangweilig. Uninteressant. Niemand würde eine Geschichte über so eine Schnarchnase lesen wollen. Ganz zu schweigen von einem Roman mit Tausenden von Seiten. Und zudem war Martin mit keiner der Methoden beizukommen, die sonst grundsätzlich jede unbeliebte, fiktive Person zuverlässig und effektiv aus der Welt schaffen. Methoden, die ich zuvor oft und gerne angewandt hatte. Das Alles lies nur einen Schluss zu: Martin war gar keine Romanfigur. Ich stellte ihn sofort zur Rede.
Er gab zu, eigentlich zwei Wohnungen über mir zu wohnen, und nur in meiner Geschichte Zuflucht gesucht zu haben, weil er sich furchtbar langweilte. Und weil er Brigitte, die nach Seite 197 nie wieder auftauchte, für eine unglaublich scharfe Schnitte hielt. Ich war stinksauer.
Den Ausdruck (2173 Seiten) pfefferte ich ihm zusammen mit einer Schadensersatzforderung vor die Füße. Auf die Frage hin, ob es sich sein guter Freund Jens bei entsprechender Bezahlung auch mal in einer meiner Erzählungen gemütlich machen dürfe, reagierte ich nicht. Nur mit einem Grunzen. Und einer eindeutigen Handbewegung.
Aber von jetzt an bin ich auf so etwas vorbereitet. Ich kenne da ein paar Typen, die verstehen weder Spaß noch das Autorenhandwerk. Und ob eine Person fiktiv oder real ist interessiert sie nicht. Ich kann sie jederzeit an die Tastatur lassen.
Wer sich von nun an in meine Geschichten einschleicht, der tut das auf eigene Gefahr. Und nicht sehr lange.