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Martha, der Wolf und das Mädchen mit der elfenbeinernen Haut
Im Licht einer goldenen Abendsonne saß Moritz von der Heide an einem zierlichen, antiken Schreibtisch. Als er aus dem Fenster blickte, schweifte sein Blick von der wuchernden Stadt, den Türmen Frankfurts, den Punkten, die über Straßen und Wege flohen, bis zu den Rändern des Waldes, der im Süden die Stadt umgab. Ein jaulender Ton erklang und Moritz bemerkte einen grauen Schatten am Waldrand. Er klickte sich an seinem Laptop durch Vertragsdokumente, verlor die Lust, durchstöberte das Angebot von Golfreisen in Kanada und die Webseite einer Escort-Agentur.
Ein Piepston kündigte eine Nachricht an: „Wir können essen“, teilte ihm seine Frau Pauline mit.
„Bin in zehn Minuten unten, muss ne Mail fertig schreiben.“ Er schaute sich die Fotos der Hostessen genauer an. Die Gesichter waren verpixelt, die Details der Körper klar sichtbar. Eine schwarzhaarige Russin mit Brustwarzen, die zum Himmel zeigten, beeindruckte ihn am meisten. Er klappte den Laptop zu und prüfte, ob ein Zipfel des Hemdes aus der Hose gerutscht war. Er hatte keinen Hunger.
„So, bin da.“
„Wo bleibt Niki? Der müsste längst zu Hause sein.“
Klappern an der Haustür, langsame Schritte näherten sich.
Die von der Heides wandten sich ihrem Sohn zu und redeten auf ihn ein. Wie es heute in der Schule gelaufen sei, wann der Abschlussball des Tanzkurses stattfinde. Niki hörte zu, nickte, antwortete und überlegte sich, ob der süßliche Duft des Spliffs, den er mit seinen Kumpeln reingezogen hatte, an ihm haftete. Er stellte sich vor, wie er das Wohnzimmer für die Party umstellen würde. Die Boxen vor die Terrassentür, damit die Bässe schön ins Haus wummern.
„Hörst du uns überhaupt zu?“
„Ja, ehrlich, mach ich. Kommen zehn bis fünfzehn Leute. Ganz oldschool. Die meisten kennt ihr: Sachsenhausen, Lerchesberg. Die meisten Schulfreunde, keine Kanacken. Alles cool.“
„Jungs und Mädchen?“
„Mm,ja.“
Niki fiel die Geile ein, die er eingeladen hatte. Was ein Brett. Sie wollte ihre Freundin mitbringen, war vierzehn und kam aus dem Gallus. In der Schule trug sie meist enge Tops und Hosen. Richtig geil und stylisch. Er freute sich auf ihren Blick, wenn sie den Marmorboden am Hauseingang der Villa seiner Eltern bemerkte. Neben die Couch müssen zwei, drei Matratzen. Zum Chillen.
„Okay. Du wirst das schon machen. Außerdem ist Oma im Haus.“
Moritz von der Heide schaute seinem Sohn direkt in die Augen. Sie grinsten beide. Eine Spur von Neid mischte sich in die Gedanken von Moritz. Erinnerungen. Wie lange war es her? Vierzig Jahre? Die Russin würde ihm für kurze Zeit die Illusion zurückgeben, dass Zeit keine Rolle spiele. Dennoch beneidete er seinen Sohn. Moritz schenkte sich ein weiteres Glas Wein ein und nahm einen großen Schluck.
Samstagmorgen. Sie frühstückten. Martha nippte an ihrem Espresso. Nikis Großmutter lebte hier seit vierzig Jahren. Sie bemerkte die Unruhe Nikis an seinen fahrigen Bewegungen. Pauline plapperte fröhlich mit starrem Blick, ohne jemand anzuschauen, und erzählte von dem Hotel in Bayern, dem nächtlichem Sternenhimmel mit Alpenpanorama. Moritz wollte weg, seine Finger zitterten leicht. Das kannte Martha von ihm. Früher war er ihr nah. Wie Niki später. Als kleine Jungs waren sie ihr beide auf Schritt und Tritt gefolgt. Sie stellte sie auf einen Hocker, damit sie zum Küchentisch reichten, wenn sie den Teig für den Apfelstrudel glättete und ihnen den roten Spielzeugausroller gab, um sich helfen zu lassen. Sie erreichte sie nicht mehr. Martha strich sich über ihre leuchtendweißen Haare.
„Endlich“, brummte Niki, als seine Eltern weg waren.
„Ich könnte was zum Essen für euch vorbereiten.“
„Ne, lass mal. Wir bestellen was. Ach so: heute Abend kann es laut werden.“
Es war ein milder Novembertag mit einer milchigen Sonne am Himmel. Nach und nach trafen Nikis Freunde ein.
Die Beats landeten direkt in Miriams Bauch, ein Kribbeln, nicht endend, wie Blitze. Die Jungs hatten glasige Augen. Ihre Freundin Amanda saß auf einer Matratze, rauchte und lachte. Miriam tanzte, bewegte ihre Hüften, zeichnete mit den Händen Figuren in die Luft. Beats durchströmten sie. Bäm, bäm. Sie fühlte sich schwerelos, flog, und wenn sie strauchelte, war irgendeiner da, der sie auffing, als wäre sie ein Ball. Niki meistens. Er gefiel ihr. Er war was Besonderes, auch wenn die Art, wie er sie anschaute, sie verwirrte. Gut, dass er ihr eine Pille gegeben hatte. Die Shots flossen durch ihren Bauch. Der Boden vibrierte. Zwei andere Mädchen bewegten sich neben ihr. Sie kannte sie nicht und bewunderte ihre gelassenen Bewegungen. Die Jungs tanzten Miriam an, Bierflaschen in den Händen. Sie spürte, wie sich einer an ihrem Hintern rieb. Sie fühlte sich leicht, wie damals, als sie bei ihrer Großmutter in Frankreich war, den Lavendel roch, bis in die Nacht mit den anderen Kindern auf der Straße und in den Gärten spielte.
Die Stunden eilten dahin. Schwarze Nacht brach an. Miriam konnte die Sterne nicht sehen, als sie aus dem Fenster schaute. Keine Spur von Amanda. Sie konnte sich nicht mehr halten und setzte sich auf eine der Matratzen, neben ihr Niki und ein anderer Junge. Sie lehnte sich an die Wand und ließ sich treiben. Die Jungs nahmen sie in die Mitte. Niki flüsterte ihr Zeug ins Ohr, das sie nicht verstand. Ice Cube dröhnte in ihre Ohren. Er zeigte ihr sein süßestes Lächeln und sie schluckte das rosa Pillchen, das er ihr in den Mund steckte. Ihr wurde heiß und es gefiel ihr, als er ihr den Hals küsste. Sie hob die Arme, damit er ihr das Top abstreifen konnte, spürte Nikis warme Haut auf ihrem Hals und ihrem Bauch. Küsse, Berührungen. Gleichzeitig drückte sich der andere Junge an sie. Nikis Augen waren rötliche Blitze. Er zog ihr die Hose aus. Es war gut, als er in sie eindrang. Sie wurde eins mit der Musik. Der andere presste sich enger an ihre Schenkel, der Hauch seines schnellen Atems kitzelte an ihren Haaren. Gänsehaut. Sie dachte nicht nach, konnte es nicht, ließ es geschehen. Filmriss.
Was für eine Gelegenheit für Niki. Wie sie sich räkelte, sich ihm entgegen streckte, lustvoll, rallig. Die war derart zugedröhnt, als wäre es ihr völlig egal, dass sich auch Dennis an ihr zu schaffen machte. Sie stöhnte laut auf, als er ihn reinsteckte.
Sie roch Schweiß, spürte die Stöße bis in ihren Kopf, als er ihre Beine weiter auseinander riss und keuchend auf ihren Bauch spritzte. Danach war Dennis dran.
Die anderen bemerkten, was geschah, und kamen näher. Schwankende Schatten. Sie lachten, grölten und glotzten, rochen Vanille und Bier. Niki und Dennis zogen sich schnell die Hosen über den Hintern und standen auf. Miriam blieb reglos, ihre Haut glänzte elfenbeinfarben. Jeder sah, dass sie sich zwischen den Beinen rasiert hatte.
„Alter. Was für eine Schlampe!“
Einige setzten sich zu ihr auf die Matratze, befingerten sie, gossen Bier über das Mädchen. Miriam träumte in ihrer Welt und war gar nicht da. Einer nahm eine Flasche, malte Kreise damit auf ihrem Bauch.
„Steck ihr was rein, gib ihr hart, die braucht das.“
„Lass das, das ist zu krass.“
„Ach, die is komplett weg, die checkt nichts mehr.“
Ein Finger drückte ihr Augenlid hoch. Glänzend weiß leuchtete der Augapfel. Miriam wimmerte und schluchzte. Eine Dose Red Bull war das Letzte, das sie in ihr probierten.
„Boa, die ist ja komplett am Arsch“, kreischte ein Mädchen.
Niki beugte sich unterdessen über die Kloschüssel, war zu träge sich zu bewegen und suchte nach Aspirin.
„Alter, wir müssen die rausbringen, sonst kotzt die uns alles gleich voll.“
„Yea, die kotzt gleich, besser raus mit ihr.“
Eins der Mädchen hielt ein Handtuch vors Gesicht, zog ihr Jacke und Schuhe an und legte ihr eine Decke um die Schultern. Zwei der Jungs stützten sie. Kühle Nachtluft. „Lass die dahin legen, neben die Mülltonne ins Gras, los.“
„Die wird schon nach Hause gehen, gar kein Ding.“
Miriam presste die Augen fester zusammen, zog die Beine an die Brust und die Decke eng an sich. Ihr Kopf drehte sich, ein Stechen, ein Brennen. Der Traum hörte nicht auf.
Martha brauchte nicht viel Schlaf. Sie wachte mit dem Gesang der Vögel bei Sonnenaufgang auf. Martha zog sich das gelbe Kleid an. Sie liebte es, weil es ihr die Erinnerung an die die kleine Boutique am Montparnasse und an Albert erlaubte. Sie hatte Mühe, sich das Gesicht ihres Mannes vorzustellen, ohne sich eins der alten Fotos anzuschauen. Meistens lief sie morgens bis zum Bäcker in der Nähe der Straßenbahn. Sie bemerkte den ranzigen Geruch, als sie die Treppe herabstieg. Alkohol, Zigaretten, abgestandene Luft und Schweiß. Von Niki und den Freunden, die über Nacht geblieben waren, keine Spur. Draußen sog sie die kühle Luft ein. Die Welt gehörte in diesen Stunden dem Vergessenen und man konnte die Grashalme rauschen hören. Zwischen die Vogellaute mischte sich ein Wimmern. Sie beschleunigte ihre Schritte. Es wurde lauter. Wie ein Gesang. Dann sah sie das Bündel. Ein Mensch. Daneben lag ein Tier. Martha erkannte den Wolf und das Mädchen. Sie lagen eng beieinander. Das graubraune Fell des Tieres neben der elfenbeinernen Haut des Mädchens. Die gelblichen Augen durchbohrten sie. Er jaulte laut auf. Martha ließ sich nicht beirren, näherte sich, beugte sich über das Mädchen und streichelte über das feuchte Gesicht.
„Was machst du hier?“
„Kann ich nicht sagen, war auf einer Party.“
„Ich bring dich ins Warme.“
Die alte Frau brachte Miriam ins Haus, legte sie in ihr eigenes Bett und gab ihr heißen Tee. Sie strich Miriam über die Haare, bis die Worte leise aus ihr heraussprudelten.
Nachdem das Mädchen eingeschlafen war, erhob Martha sich. Ein Fenster ihrer Gedanken stand weit offen. Was sie viele Jahre vergessen wollte, drang in ihr Bewusstsein und sie wusste genau, was sie machen musste. Der Wolf wartete vor der Tür und sie machten sich auf den Weg.
Türen öffneten sich, entsetzte Gesichter, die in Wolfsaugen starrten, zurückwichen, als sich das Tier näherte und sie vor sich her jagte, zur Eingangstür, auf nackten Sohlen über den kalten Marmorboden, wie sie auf den Matratzen gelegen hatten. Der Wolf und die weißhaarige Frau. Später sagte einer, dass lodernde Flammen von ihr ausgegangen waren. Sie trieben Niki, Dennis und all die anderen vor sich her. Es ging den Berg herab, weg aus dem Viertel, während auf den Bäumen Krähen und Elstern fröhlich krächzten.
Stille. Das einzige Geräusch, das in Marthas Bewusstsein drang, war ein tropfender Wasserhahn. Ein Gedanke, der aus dem Nebel aufgetaucht war, nahm Konturen an, erfüllte Martha mit Leben, festigte sich. Die Villa gehörte ihr. Sie würde nicht ins Altersheim gehen. Sie würde das Haus mit Leben füllen. Es war längst nicht zu spät. Das Mädchen war wach, als sie zum Bett trat.
„Miriam, Kindchen. Hilfst du mir mit dem Teig für den Apfelstrudel? Du kannst den roten Ausroller nehmen. Ganz dünn und glatt streichen.“