Mitglied
- Beitritt
- 02.04.2018
- Beiträge
- 4
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 9
Marrakesh
Anne schloss die Haustür auf. Im Flur schlug ihr der abgestandene Geruch der ungelüfteten Wohnung entgegen. Sie zog den Mantel aus und hängte ihn ordentlich auf einen Bügel an der Garderobe. Die Einkaufstüten stellte sie in der Küche ab und machte dann einen Rundgang, um die Fenster zu öffnen. Die kalte, feuchte Novemberluft, die durch die Fenster in die Wohnung drang, wirbelte den Muff durcheinander, ohne den Geruch zu verbessern. Im Schlafzimmer zog Anne ihren grauen Hosenanzug aus und schlüpfte in Jeans und Sweatshirt. Sie sah sich im Zimmer um. Die Einrichtung war nahezu zwanzig Jahre alt und müsste dringend erneuert werden. Das schlichte Buchenholzdesign war nicht schlecht, aber die Schranktüren hingen schon schief in den Angeln und das Bett knarrte bei jeder Bewegung. Nicht, dass Martin und sie das Bett noch oft zum Knarren brachten! Sex war selten geworden. Und berechenbar. Sie kannte die Signale, die er aussendete und ging darauf ein. Sex mit Martin gab ihr ein Gefühl der Sicherheit, und das liebte sie.
In der Küche packte sie die Einkäufe aus und setzte Kaffee auf. Sie sah auf die Uhr. Martin würde gleich nach Hause kommen, zehn Minuten noch. Sie nutzte die Zeit, um mit den Vorbereitungen für das Abendessen zu beginnen. Mittwoch. Da gab es Hühnersuppe. Sie putzte und schnitt das Gemüse und warf es in den Topf. Kochen würde sie später. Sie stellte Tassen, Milch und Zucker auf den Tisch und legte ein paar Kekse auf einen Teller. Sie hörte, wie der Schlüssel in das Schloss der Haustür gesteckt wurde, und setzte sich auf ihren Platz.
"Hallo Schatz", rief sie.
Vorbei. Anne rührte sich nicht. Der Kaffee war kalt geworden und die Kekse lagen unberührt auf dem Teller. Wie lange saß sie schon so da? Sie wusste es nicht.
"Ich muss mit dir reden", hatte er gesagt. Er setzte sich nicht, sein Ton und sein Gesichtsausdruck hatten ihr Angst gemacht.
"Anne, mein Leben kotzt mich an. Ich will nicht mehr."
"Was ist denn los? Hast du Ärger in der Firma gehabt?"
"Nein! Du verstehst nicht: Ich will so nicht weitermachen!"
"Willst du kündigen?"
"Nun mach es mir doch nicht so schwer! Ich will ein neues Leben anfangen. Ohne dich."
"Wie meinst du das? Ohne mich?"
"Ich will mich von dir trennen. Ich will nochmal von vorne anfangen."
"Aber...wo willst du denn hin?"
"Weiß ich noch nicht."
"Ist da...eine Andere?"
"Ja, da ist jemand. Aber das hat nichts damit zu tun, dass ich weg will.Das würde ich auch ohne sie wollen."
"Was habe ich falsch gemacht?"
"Ach Anne! Wir lieben uns einfach nicht mehr."
"Das ist nicht wahr, ich liebe dich!"
"Ach Anne..."
Dann packte er seine Sachen. Nach einer Weile kam er mit der Tasche in die Küche, legte den Schlüssel auf den Tisch und ging. Bunte Bilder zogen an ihr vorbei. Die Abschlussfahrt der dreizehnten Klasse. Sie und Martin im Bus, wild knutschend. Ihre Bude in Marburg. Das Zimmer und die winzige Küche. Die Hochzeit im Golfclub seiner Eltern. Martin im Anzug, Martin in der Badehose, Martin nackt, Martin...Martin...
Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen. Sie lag im Bett und horchte in sich hinein. Sie konnte nichts spüren. Ihr Herz schien nicht zu schlagen, sie spürte keinen Puls und ihr Brustkorb schien sich nicht mehr zu heben und zu senken, weil sie atmete. Sie aß nicht und sie trank nicht. Sie weinte auch nicht. Sie war ein Scherbenhaufen, zersplittert und verstreut. Sie schloss die Augen. Tot. Tot.
Alles tat weh. Alles war so schwer. Nie wieder würde sie sich leicht fühlen. Warum ging es denn nicht einfach zu Ende? Wenn er sie so sähe, käme er sicher zurück. Klingeln. War es das Telefon? Wie lange lag sie hier? Sie dachte nach. Zwei Nächte, zwei Tage? Ja, das konnte sein. Man starb offensichtlich nicht so schnell. Das Leben schien von ihr Besitz ergreifen zu wollen, denn sie verspürte entsetzlichen Durst. Etwas zu trinken konnte nicht schaden. Sie lüpfte vorsichtig die Bettdecke, um aufzustehen. Wie sie stank! Sie sollte sich waschen. Sie erhob sich vorsichtig und fiel sofort auf das Bett zurück. Ihr Kreislauf litt noch an Liebeskummer. Nach einer Weile versuchte sie es erneut und wankte in die Küche. Sie fand eine Flasche Mineralwasser im Kühlschrank und trank mit gierigen Zügen. Sie setzte sich an den Küchentisch. Sie spürte in sich hinein. Da hinten, hinter dem Magen, da regte sich ein Prickeln. Da war so ein Flimmern, wie ein winziger schöner Schmerz. Anne legte den Kopf schief und schloss die Augen. Sie suchte das Flimmern, aber es war schon verschwunden. Sie war also noch nicht tot.
Sie ging ins Bad und stellte sich unter die Dusche. Sie fand das teure Duschgel, das Martin ihr geschenkt hatte. Eigentlich hatte sie es für besondere Gelegenheiten aufgehoben. Vermutlich würde es die nicht mehr geben. Sie atmete den würzigen Duft des Gels ein und spürte, wie das heiße Wasser auf ihren Körper prasselte. Sie schloss die Augen. Da war es wieder, dieses Flimmern!
In ein flauschiges Badehandtuch gehüllt trat sie vor den Spiegel und kämmte ihre Haare. Ordentlich zog sie den Seitenscheitel und kämmte die Haare glatt. Ihr Spiegelbild sah vertraut aus aber falsch. Sie starrte es an. Plötzlich griff sie mit beiden Händen in die nassen Haare und verwuschelte sie. Jetzt umrahmten Naturwellen ihr Gesicht. Besser. Sie versuchte ein Lächeln, was gründlich misslang. Sie zog das Badetuch fester um sich und ging zurück in die Küche. Sie fand einen Ring Fleischwurst im Kühlschrank und wollte gerade ein Messer holen, um sich ein Stück abzuschneiden. Mitten in der Bewegung hielt sie inne, überlegte kurz und schlug dann ihre Zähen wie ein hungriges Tier in die Wurst.
Sie sah sich in der Wohnung um. Das war ihre kleine Welt. Plötzlich erschien sie ihr muffig und eng. Alles war farblos und grau. Sie ging ins Schlafzimmer, holte eine bunte Wolldecke aus dem Schrank und warf sie über das Sofa. Einkaufen. Scharfe Würzpaste und Brot vom Afrikaner. (Martin fand das ekelhaft) Schokolade. (Martin wollte nicht, dass sie fett wurde.) Eine Flasche Wein. (Mitten in der Woche?). Ein paar bunte Kissen. (Martin fand das kindisch). Sie saß auf dem Sofa und blätterte in einem Reiseprospekt. Früher wollte sie unbedingt die Welt sehen. Martin wollte das nicht, deshalb blieben sie zu Hause. Anne schloss die Augen und das Kopfkino begann mit der Spätvorstellung. Martin, wie er sich die Fußnägel schnitt. Martin, der beim Lesen die Lippen bewegte. Martin, wie er sich beim Apfelessen mit Saft besabberte. Martin, der bei jedem Witz die Pointe versaute. Anne riss die Augen auf. Die Erkenntnis traf sie mitten ins Herz: Es war tatsächlich nicht mehr schön gewesen. Auf einmal wusste sie: Es würde nicht für immer wehtun und ganz sicher würde sie nicht daran sterben.
Sie nahm den Prospekt auf. Ja, sie würde reisen. Sie brauchte Wärme und Farbe. Marrakesh. Sie würde endlich die alten Häuser mit den bunten Fliesen sehen, sie würde auf den Souks nach Aladins Wunderlampe suchen, den köstlichen Duft der Gewürze einatmen, bunte Stoffe kaufen und Datteln naschen. In den Agdal-Gärten würde sie unter Granatapfelbäumen spazieren gehen und auf dem alten Marktplatz den Gauklern und Schlangenbeschwörern zuschauen. Sie würde es endlich erleben, ihr eigenes Märchen aus tausendundeiner Nacht. Vielleicht gab es ja sogar einen Dieb, der ihr Herz stahl! Sie kicherte in sich hinein. Das Flimmern war wieder da, stärker als je zuvor.
"Gute Reise!", rief der Taxifahrer ihr nach. Anne lächelte. Ein paar feuerrote Haarsträhnen schauten unter ihrer bunten Wollmütze hervor. Zielstrebig ging sie auf den Schalter zu und gab ihren Koffer auf. Mit der Bordkarte in der Hand machte sie sich auf die Suche nach ihrem Gate. Auf dem Weg dorthin holte sie etwas aus ihrer Tasche und stopfte es in einen Mülleimer. Es war ein grauer Hosenanzug.