Was ist neu

Marotte

Mitglied
Beitritt
13.11.2015
Beiträge
26
Zuletzt bearbeitet:

Marotte

Marotte

Dass er niemals mehr Türen schloss, daran hatten sich alle im Haus gewöhnt. Er war eben alt und schrullig geworden. Die anderen im Haus nahmen das so hin und dadurch wurde diese Marotte nicht besser.

Er begann auch andere Dinge offen zu lassen. Schubladen, Toilettendeckel, Wasserflaschen, Dosen, egal ob in der Küche oder im Badezimmer. Gelesene Bücher, auf der letzten Seite aufgeschlagen, stapelten sich in seinem Zimmer zu Türmen und staubten ein. Die Münzen klimperten lose in seiner Tasche neben der Geldbörse. Selbst der alte Füllfederhalter lag ohne Kappe und ausgetrocknet auf dem Tisch.

So richtig erklären konnte er seinen Tick nicht. Zu Beginn genoss er es einfach etwas Besonderes zu sein und mit diesem Verhalten die Aufmerksamkeit zu erlangen, die seiner Meinung nach einem alten Mann wie ihm zustand.

Aber ganz langsam entwickelte die Marotte eine eigene Dynamik und er spürte tatsächlich eine lähmende Angst in sich aufsteigen, wenn er versuchte etwas zu schließen. In der Nacht etwa, als ein Sturm aufgezogen war und er im Bett jämmerlich fror, weil das Fenster offen stand. Er stand auf und wollte es schließen, aber er schaffte es nicht. Zitternd kletterte er in sein Bett zurück und wartete darauf, dass der Sturm nachließ.

An einem Sommermorgen hatte er einen Termin in der Stadt und er machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Anscheinend war der vorherige Bus nicht gekommen, denn es stand eine ganze Traube wartender Menschen an der Haltestelle. Alle schauten ihm gelangweilt entgegen, als er sich mit der Aktentasche in der einen Hand, die andere Hand merkwürdig in den Hosenbund vergraben, rüstig der Haltestelle näherte.

Er hatte die Haltestelle fast erreicht, als er über einen Stein stolperte, der auf dem Bürgerstein lag. Vor Schreck ließ er die Tasche fallen und ruderte mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten. Da passierte es. Die Hose rutschte ihm herunter und er stand in Hemd und Unterhose da.

Eine Frau legte schützend den Arm um ihr Kind, stieß einen hysterischen Schrei aus und zeigte auf ihn. Eine ältere Dame hob drohend die Faust und machte einen Schritt auf ihn zu. Ein Mann hatte schon sein Handy in der Hand und sagte: “Ich rufe die Polizei, das geht ja gar nicht”. Eine aufgetakelte Frau brüllte: "Eingesperrte gehört so einer!"

Er brauchte ein Weilchen, bevor er begriff in was für eine Situation er sich gebracht hatte, nur weil er es heute Morgen nicht geschafft hatte seine Hose zu schließen. Er stieg aus den Hosenbeinen und lief los. Erst hörte er Schritte hinter sich und Rufe, dann endlich hörte er nur noch seinen rasselnden Atem und sein klopfendes Herz.

Er schaffte es bis zu seinem Haus zu laufen. Und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, knallte er die Tür hinter sich zu. Keuchend sank er auf dem Stuhl zusammen, der in der Diele stand.

Noch während er nach Luft rang, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. In dem Moment, wo er die Tür zugeschlagen hatte, war etwas in seinem Kopf passiert.

Er stand auf und sah sich um. Die Tür vom Dielenschrank stand noch offen, wie er sie heute Morgen zurück gelassen hatte. Er ging hin und schloss sie. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.

Dann waren plötzlich draußen Stimmen zu hören. Das waren doch nicht etwa seine Verfolger? Er wollte die Haustür einen Spalt öffnen um hinaus zu spähen. Aber da spürte er die lähmende Angst in ihm aufsteigen. Er schaffte es nicht die Tür zu öffnen. Und in der gleichen Sekunde begriff er, wie wunderbar sein Leben gewesen war, als er die Dinge nicht schließen konnte.

 

Liebe Maria,

vielen Dank für deine Hinweise ;-)

Ich bin ganz neu hier im Forrum, das stimmt. Aber ein Schreibanfänger bin ich nicht.

Mir ging es bei der Geschichte gar nicht so sehr um den Mann (den armen Kerl sollte keiner lieb gewinnen, den habe ich wie ein Werkzeug benutzt), sondern viel mehr um den Tick. Ich wollte, dass der Leser die Geschichte (oder Erzählung?) beiseite legt und noch eine Weile den furchterregenden und absurden Gedanken in sich trägt, wie es sein würde, wenn man nichts mehr öffnen kann, keine Tür, keine Keksdose, gar nichts mehr. (So ging es mir jedenfalls, als ich einst auf diesen Gedanken kam)

Beim Schreiben fand ich sogar, dass meine Sprache gut zu diesem Mann passt, der die Dinge einfach so hinnimmt ohne sich groß darüber aufzuregen oder sich zu bemühen etwas zu ändern.

Aber so kann man sich täuschen, du hast es ganz anders empfunden! Ist ja auch richtig, man kann in eine emotionalere Geschichte besser einsteigen. Beim nächsten Mal versuche ich es gerne mit mehr Gefühl :)

Liebe Grüße
Lobilotte

 

Hallo Lobilotte,

mir gefällt deine kleine Geschichte, und auch dieses "kalte" - wie Maria es empfindet - Draufblicken sehe ich eher als durchaus passendes Stilelement. Aber gerade da sind ja die Geschmäcker verschieden. Und kurz vorm Ende dachte ich schon: "Eha, jetzt soll alles wieder gut sein, vorbei der Tick? Einfach so?" Doch da kam dein kleiner großer Schlenker wie eine Breitseite. Also mir hat sie gefallen.

Ein paar Kleinigkeiten hätt ich da aber noch

Die anderen im Haus nahmen das so hin und dadurch wurde diese Marotte nicht besser.
Irgendwie ist mir die Aussage nicht ganz klar: Warum sollte seine Marotte besser werden, wenn die anderen es nicht so einfach hinnähmen?

Zu Beginn genoss er es einfach etwas Besonderes zu sein ...
An mehreren Stellen gehst du für meinen Geschmack etwas zu sparsam mit Kommas um. Klar, hier müsste es nicht zwingend sein, aber du steuerst damit schon, wie ich es lese. Hier zum Beispiel sehe ich einen Unterschied zwischen:
Zu Beginn genoss er es, einfach etwas Besonderes zu sein ...
oder
Zu Beginn genoss er es einfach, etwas Besonderes zu sein ...
und daher verlangt es mM hier nach einem Komma

... rüstig der Haltestelle näherte.
Alter Mann, rüstig und so, okay. Aber ein "rüstiges" Gehen klingt für mich irgendwie falsch.

als er über einen Stein stolperte, der auf dem Bürgerstein lag.
Glaub ich nicht ;)

"Eingesperrte gehört so einer!"
Na, wo ist hier ein "e" zu viel?

... bevor er begriff[,] in was für eine Situation er sich gebracht hatte, ...
Hier denke ich, dass das Komma sein muss.

dann endlich hörte er nur noch seinen rasselnden Atem und sein klopfendes Herz.
Auch hier ein bisschen Erbsenzählerei: Im Laufen das klopfende Herz HÖREN zu können, scheint mir nicht so recht glaubwürdig, eher SPÜREN?

Er wollte die Haustür einen Spalt öffnen[,] um hinaus zu spähen.
Auch dieses Komma muss sein.

Ich hoffe, da kommt noch mehr von dir.
Grüße vom Niederbayern
oisisaus

 

Liebe Lobilotte,

ein netter kleiner Text. Der Erzählstil gefiel mir zu Beginn ganz gut. Grundsätzlich gefällt mir auch das durchaus trickreich gedachte Ende. Aber jedenfalls an dieser Stelle hätte ich ein paar Emotionen, so einen Scheckmoment der Erkenntnis, nicht schlecht gefunden.

Ansonsten liest sich Deine Geschichte sehr gut und flüssig. Mir hat sie gefallen :)

Liebe Grüße
Maedy

 

Liebe Oisisaus,
liebe Maedy,

ja, meine Marotte ist eine gefühlte Komma-Legastenie ;-(

vielen lieben Dank für Eure hilfreichen und netten Kommentare.

Also wenn ich hier zuhause Schranktüren auflasse, dann krieg ich immer einen blöden Spruch zu hören und bemühe mich das nächste Mal die Tür zu zu machen. So dachte ich mir das, dass der alte Mann eben nichts zu hören bekommt und sich deshalb erst recht nicht bemüht.

Und ich sah ihn mit aufrechter Körperhaltung auf die Haltestelle zu maschieren und fand rüstig okay, aber klingt wirklich komisch.

Liebe Grüße
Lobilotte

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom