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Marotte
Marotte
Dass er niemals mehr Türen schloss, daran hatten sich alle im Haus gewöhnt. Er war eben alt und schrullig geworden. Die anderen im Haus nahmen das so hin und dadurch wurde diese Marotte nicht besser.
Er begann auch andere Dinge offen zu lassen. Schubladen, Toilettendeckel, Wasserflaschen, Dosen, egal ob in der Küche oder im Badezimmer. Gelesene Bücher, auf der letzten Seite aufgeschlagen, stapelten sich in seinem Zimmer zu Türmen und staubten ein. Die Münzen klimperten lose in seiner Tasche neben der Geldbörse. Selbst der alte Füllfederhalter lag ohne Kappe und ausgetrocknet auf dem Tisch.
So richtig erklären konnte er seinen Tick nicht. Zu Beginn genoss er es einfach etwas Besonderes zu sein und mit diesem Verhalten die Aufmerksamkeit zu erlangen, die seiner Meinung nach einem alten Mann wie ihm zustand.
Aber ganz langsam entwickelte die Marotte eine eigene Dynamik und er spürte tatsächlich eine lähmende Angst in sich aufsteigen, wenn er versuchte etwas zu schließen. In der Nacht etwa, als ein Sturm aufgezogen war und er im Bett jämmerlich fror, weil das Fenster offen stand. Er stand auf und wollte es schließen, aber er schaffte es nicht. Zitternd kletterte er in sein Bett zurück und wartete darauf, dass der Sturm nachließ.
An einem Sommermorgen hatte er einen Termin in der Stadt und er machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Anscheinend war der vorherige Bus nicht gekommen, denn es stand eine ganze Traube wartender Menschen an der Haltestelle. Alle schauten ihm gelangweilt entgegen, als er sich mit der Aktentasche in der einen Hand, die andere Hand merkwürdig in den Hosenbund vergraben, rüstig der Haltestelle näherte.
Er hatte die Haltestelle fast erreicht, als er über einen Stein stolperte, der auf dem Bürgerstein lag. Vor Schreck ließ er die Tasche fallen und ruderte mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten. Da passierte es. Die Hose rutschte ihm herunter und er stand in Hemd und Unterhose da.
Eine Frau legte schützend den Arm um ihr Kind, stieß einen hysterischen Schrei aus und zeigte auf ihn. Eine ältere Dame hob drohend die Faust und machte einen Schritt auf ihn zu. Ein Mann hatte schon sein Handy in der Hand und sagte: “Ich rufe die Polizei, das geht ja gar nicht”. Eine aufgetakelte Frau brüllte: "Eingesperrte gehört so einer!"
Er brauchte ein Weilchen, bevor er begriff in was für eine Situation er sich gebracht hatte, nur weil er es heute Morgen nicht geschafft hatte seine Hose zu schließen. Er stieg aus den Hosenbeinen und lief los. Erst hörte er Schritte hinter sich und Rufe, dann endlich hörte er nur noch seinen rasselnden Atem und sein klopfendes Herz.
Er schaffte es bis zu seinem Haus zu laufen. Und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, knallte er die Tür hinter sich zu. Keuchend sank er auf dem Stuhl zusammen, der in der Diele stand.
Noch während er nach Luft rang, spürte er, dass sich etwas verändert hatte. In dem Moment, wo er die Tür zugeschlagen hatte, war etwas in seinem Kopf passiert.
Er stand auf und sah sich um. Die Tür vom Dielenschrank stand noch offen, wie er sie heute Morgen zurück gelassen hatte. Er ging hin und schloss sie. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Dann waren plötzlich draußen Stimmen zu hören. Das waren doch nicht etwa seine Verfolger? Er wollte die Haustür einen Spalt öffnen um hinaus zu spähen. Aber da spürte er die lähmende Angst in ihm aufsteigen. Er schaffte es nicht die Tür zu öffnen. Und in der gleichen Sekunde begriff er, wie wunderbar sein Leben gewesen war, als er die Dinge nicht schließen konnte.