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Maronenfrau
„Es wird Herbst ─ die ersten Hunde tragen Mantel“, denkt er, während er am späten Nachmittag durch den Park in Richtung Klinik joggt. Er nickt einem Windhund im dezenten Karodress zu, der sich sicher beschämt wegducken würde, wenn das stramme Halsband dies zuließe. Frauchen hat es eilig. Der Kaugummi in seinem Mund löst sich auf ─ zu viel Spucke für das kleine Ding. Kurz bevor sein Pfad ihn nach links traben lässt, vorbei am Denkmal mit verlorengegangenem Zeigefinger, sieht er sie: normalgroß, normalschwer, braune Locken, die sich unter der Kapuze ihres weinroten Mantels hervorkämpfen. Ihr Körper balanciert in der Haltung eines Frosches, ihr Hintern hält sich nur wenige Zentimeter über dem, was das Wetter von der Wiese übrig gelassen hat, ihre Knie sind bereit für den nächsten Sprung. Ihr Blick ist nach unten gerichtet. Die Finger, die unter den zu langen Ärmeln hervorkommen, halten die Griffe einer Plastiktüte, die auf dem Boden in sich zusammensackt. Real - einmal hin, alles drin. Sie sammelt Maronen aus dem Gras. Die Kuppen von Daumen und Zeigefinger werden nass, der Rest bleibt verschont. Glänzend dunkelbraune Maronen, die ihre schützende Stachelhaut verlassen haben, um sie gegen nasses Erde-Wiese-Gemisch und schließlich gegen Plastik einzutauschen. Haben die Früchte es nicht alleine geschafft, hilft sie sanft nach. Ihre Finger leiten den Weg aus den Stacheln heraus, spielen Hebamme für die Schwächeren, begleiten den Übergang von der einen Welt in die andere. Sie begutachtet jede einzelne Marone als wäre sie eine Kostbarkeit, rollt sie durch die Handinnenfläche, bevor sie sie zu einem Teil der Sammlung werden lässt. Nicht jede schafft es in den Plastiksack. Für die Mangelhaften öffnet sich die Hand, sie kullern zwischen den Fingern durch, fallen zurück ins Nass. Umsonst geboren. „Die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen“, kommt es ihm in den Sinn. Er muss stehen und Aschenputtel zusehen. Sein Atem wird nur zögerlich gleichmäßiger, Schweiß läuft im Rinnsal die Schläfen entlang, versickert im Kragen aus Fleece. Sie ist wunderschön. Ihr Gesicht wie gemalt. Er möchte ihr die rote Kapuze von Kopf streichen, ihre Locken ganz frei lassen und ihre Wangen anfassen. Umfassen. Er schluckt den Kaugummibrei, geht einen Schritt auf sie zu, verharrt an seinem neuen Platz. Sein Blick bleibt an den Fingern der Prinzessin in spe hängen. Diese braunen, ungleichmäßig geformten Dinger, die ihre perfekte Hand schmutzig werden lassen. Hinterhältige kleine Fieslinge, kläglich versteckt hinter Stacheln, die glatte Haut von einem widerwärtigem Flaum überzogen, der an Schimmel erinnert. Jede der Früchte Behausung eines weißen Wurmes, der wächst, weil er frisst. Er schmeckt den nichtssagenden Geschmack auf seiner Zunge, fühlt die mehlige Konsistenz in seiner Mundhöhle, kann den sich windenden weichen Wurm an seinem Gaumen fühlen. Übelkeit steigt in ihm hoch, beschlagnahmt von der Magengegend ausgehend seinen gesamten schwitzenden Körper. Sein noch immer ungleichmäßiger Atem wird lauter. Kaugummispucke stößt ihm auf. Kleine Würmer, die nach Pfefferminz schmecken. Er macht einen Satz nach vorne und spuckt das Gewürm im Gehen aus. Sie sieht ihn, erkennt ihn. Will fliehen. Ihre Unaufmerksamkeit wird bestraft ─ der gebärende Igel sticht ihren Ringfinger, fünf braune Maronenkinder fallen ins Nass. Auf ihrem Finger bildet sich ein winziger roter Punkt. Der Punkt wird größer, ein kleiner Tropfen fällt nach unten. „Rucke di guck, rucke di guck! Blut ist im Schuck!“ Ihr Hintern springt nach oben, die Kapuze fällt nach hinten. Ihre Augen sind weit aufgerissen. Ihr Mund ist unfähig, zu arbeiten. Er steht direkt vor ihr, ihre Nase riecht den Pfefferminzatem, ihre Wangen fühlen seine feuchten Finger. Ihr Hals pocht gegen seine bohrenden Daumen. Ihre Finger lassen das Plastik los.