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Marlen's Schlittschuhe
Marlen lebte in einer dieser grauen Reihenhaussiedlungen, sie lebte bei Ihren Großeltern, das war praktischer. Da ihre Eltern beruflich sehr eingespannt waren, konnten sie so die Gewissheit haben, dass ihre Tochter wohl behütet und gut versorgt war. Sie war ein stilles und schüchternes Kind, das lieber Zuhause saß, malte oder ein Buch las, als dass sie mit den Kindern der Nachbarschaft spielte. Wenn sie sich dann doch, was selten vorkam, unter die anderen Kinder mischte, hatte sie immer ein unbehagliches Gefühl. Zwar ließ man sie immer gerne mitspielen und gab ihr nie Anlass für dieses Empfinden, aber Marlen konnte das Gefühl nicht abschütteln, nie dazu zu gehören, abseits zu stehen und nicht wichtig zu sein für die anderen. Nur sehr selten machte sie diese Empfindung traurig, sie hatte ja ihre eigene Welt, in die sie eintauchen konnte. In dieser Welt malte sie sich, auf Blumenwiesen liegend, auf Karussellen sitzend oder tanzend auf spiegelnden Eisflächen, das Haar zerzaust vom Wind, die Arme weit von sich gestreckt. Zu ihrem sechsten Geburtstag schenkte man ihr die lang ersehnten Schlittschuhe und sie konnte es kaum erwarten, ihren Traum zu verwirklichen. Endlich konnte sie zu dem Mädchen werden, das sie so oft gemalt hatte.
Schon nach kurzer Zeit bewegte sich Marlen auf ihren Schlittschuhen, als hätte sie nie etwas anderes gemacht, als auf dem Eis zu laufen. Ihre Großmutter, eine liebevolle und fürsorgliche Person, begleitete sie mehrmals wöchentlich zur Eisbahn. Sie sah ihr zu, wie sie ihre Bahnen lief, ihre ersten Pirouetten drehte und lachend die Arme von sich streckte, den Oberkörper nach vorne gebeugt, ein Bein nach hinten ausgestreckt, so als wäre sie ein Vogel, der lautlos durch die Lüfte segelte. Marlen war zum ersten Mal glücklich, nie zuvor hatte sie ein solches Glücksgefühl erlebt, als in den Stunden, in denen sie auf dem Eis stand. Wenn sie die Eisfläche verließ, wurde sie von ihrer Großmutter immer lächelnd empfangen. Auf dem Nachhauseweg redete Marlen nur vom Tanzen auf dem Eis, der schönen Musik, die gespielt wurde, vom nächsten Mal und den neuen Figuren, die sie dann ausprobieren wollte.
Die Jahre vergingen sehr schnell und immer im Winter, wenn die Eissaison eröffnet wurde, ging Marlen auf die Eisbahn und holte sich das Glück, das sie während des restlichen Jahres nie verspürte.
Zu ihrem zehnten Geburtstag wünschte sich Marlen ein neues Paar Schlittschuhe, da die alten zu klein geworden waren und die Eislaufsaison schon begonnen hatte. Trotz der zu kleinen Schlittschuhe und der aus diesem Umstand resultierenden Schmerzen in den Füßen, lief Marlen weiter. Sie wusste ja, dass sie bald wieder schmerzlos laufen konnte, mit den neuen, größeren Schlittschuhen. Und wie immer stand ihre Großmutter geduldig am Rand der Zuschauertribüne und wartete darauf, bis Marlen ihren Tanz beendet hatte. Kurz vor ihrem Geburtstag erkrankte Marlen’s Großmutter schwer, für alle ganz plötzlich und unerwartet, doch wie sich später herausstellte, trug sie die Krankheit schon lange in sich, schweigend hatte sie die Schmerzen erduldet und keinem etwas davon gesagt.
Marlen’s Welt brach zusammen, als ihre Großmutter an ihrem Geburtstag verstarb, es gab niemanden, der sie trösten konnte, so sehr man sich auch darum bemühte. Das neue Paar Schlittschuhe lag, noch verpackt und unberührt, in einem großen Karton vor Marlen’s Bett. Nachdem ihre Großmutter beerdigt worden war und ihre Augen keine Tränen mehr hatten, öffnete Marlen sehr zögernd den Karton, legte das Seidenpapier, in das die Schlittschuhe eingehüllt waren, zur Seite, berührte die spiegelblanken Kufen, streifte mit ihren Fingern über das neue Leder und legte sie dann, nach ein paar Minuten, sorgfältig zurück in den Karton, den sie wieder verschloss und unter ihr Bett schob.
Marlen tanzte nie wieder auf dem Eis, aber immer wieder in ihrem Leben holte sie den Karton mit ihren letzten Schlittschuhen hervor, legte Abschiede dazu, Bruchstücke ihres Lebens und verschloss ihn wieder sorgfältig.