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Marlboro
Das Flugzeug nähert sich langsam dem unteren Ende der Wolkendecke, Wolkenfetzen wechseln sich mit kurzen Ausblicksmöglichkeiten auf die deutsche Hauptstadt ab. Als der Pilot per Lautsprecher die baldige Landung ankündigt, kommt Leben in die Kabine des Flugzeugs. Schlafmasken werden heruntergezogen, Menschen strecken sich und eine Stewardess beginnt durch die Reihen zu gehen und Müll einzusammeln. Er jedoch starrt weiterhin so unverändert aus dem Fenster wie er es den ganzen Flug über schon getan hat. Es geht ihm gut. Dank eines Erbes hat er mehr als genug Geld auf dem Konto und in der Tasche, ist jung, selbstbewusst und neugierig. Neugierig auf alles, was da kommt. Im neugierigen Zustand ist er aus sozialer Sicht immer in Höchstform: Aufgeschlossen, hilfsbereit, tolerant. Eigentlich mag er sich, so wie er ist. Aber es gibt ein paar Dinge, die er gerne anders hätte oder gehabt hätte. Vielleicht ja jetzt. Jetzt, in seinem neuen Leben in Berlin. Bisher hat er nur positives über diese Stadt und seine Idee, sich ins Ungewisse zu stürzen, gehört. “Sean, du bist jung, hast Zeit und Kraft. Ich, beziehungsweise wir, werden dich auf jeden Fall unterstützen”, hatte sein Vater mit einem stolzen Lächeln im Gesicht, das ihn in seiner Wahrnehmung eigentlich nur zu Unrecht heroisierte, gesagt. Aber er hatte ja zumindest teilweise doch Recht. Sean war 19, erfolgreicher Absolvent einer High-School mit gutem Ruf und auch die zugestandene Unterstützung hatte er nach dem überraschenden Tod seines Großvaters letztendlich nicht in Anspruch nehmen müssen. In seiner Kindheit und Jugend hatte er ihm täglich lange Besuche abgestattet und bei Haushaltsdingen aller Art geholfen. Vermutlich war auch genau deswegen ein Teil seines Vermögens ihm und nicht seinem Cousin vermacht worden. Wie viele neureiche, amerikanische Jugendliche es wohl gibt, die sich nach ihrer Schulzeit nicht für ein Studium, sondern für ein Jahr Pause und anschließend auch noch für einen Neuanfang jenseits des Atlantik entscheiden? Wahrscheinlich nicht sehr viele, denkt er bei sich und starrt weiter aus dem Fenster, vor dem die Wolken nun endgültig verschwunden sind und das Flugzeug zum letzten Abschnitt der Landephase ansetzt. Eigentlich hatte es wenig klare Gründe für eine derartige Zäsur gegeben. Freunde hatte er mehr als genug gehabt, Geld sowieso und auch an Studiums- und Jobmöglichkeiten hätte es ihm mit seiner Abschlussnote nicht gemangelt. Es ist alles mehr eine Laune gewesen und eine Antwort auf die Frage, was er denn in Zukunft mit seinem Leben vorhätte. Oder hatten ihn vielleicht doch die kleinen Dinge zu seinem Entschluss gebracht? Nachdenklich schaut er auf die größer werdenden Gebäude. Nein, das glaubt er nicht.
Als er aus dem Flugzeug aussteigt, überkommt ihn ein Anflug kindlicher Nervosität und Anspannung. Niemand wartet auf ihn, im Gegenteil, alle haben ihn mit ihren rauschenden Abschiedsfesten losgeschickt. Die einzige Person, die mit seiner Ankunft rechnet, ist der Vermieter seiner neuen kleinen Wohnung mitten in Kreuzberg; der kulturellen Schlagader dieser Stadt. Der Mietvertrag ist bereits unterzeichnet, es geht nur noch um eine Einweisung. Eigentlich weiß er nicht so recht, wozu sie noch gut sein soll, schließlich hatte er die Wohnung schon drei Monate zuvor einmal besucht, als er auf einem kurzen Berlin-Trip ein wenig mit seiner neuen Heimat liebäugelte. Die Wohnung hat ihm gefallen: Zwei Zimmer, mehr brauchte er nicht, eine gut ausgestattete Küchenecke und ein geräumiges Badezimmer. Preislich sprengt sie zwar jeden Rahmen für einen jungen Menschen wie ihn, aber schon nach dem Blankoscheck seiner Eltern und spätestens nach dem erworbenen Erbe war auch diese Frage von der Reise-Agenda verschwunden gewesen. Trotz dieses Kenntnisstandes ist er irgendwie auch ganz froh über das bevorstehende Briefing; der Vermieter kann ihm bestimmt ein paar lokale Tipps geben. Angekommen ist er in Tegel, einer von zwei Flughäfen Berlins, wie er weiß. Auch von einem anderen, neuen Flughafen hat er immer wieder gelesen, wo genau dieser liegt und warum es keinerlei Flüge dorthin zu buchen gibt, hatte er jedoch nicht verstanden.
Bevor er den Flughafen verlässt und sich nach den öffentlichen Verkehrsmitteln umsieht, wechselt er noch Geld. Nicht zu viel, der Punkt “Enthaltsamkeit üben” steht ganz oben auf der doch sehr überschaubaren Liste seiner guten Vorsätze. Er ist nie ein Typ für Vorsätze gewesen. Oft hatte er von seinen Freunden zu hören bekommen, wie sehr sie sich darüber ärgerten, irgendwelche Vorsätze nicht eingehalten zu haben. Meistens schwang neben dem Selbstmitleid jedoch auch ein deutlich erkennbarer Unterton von Selbstironie mit, weswegen er ihren Ärger nie zu ernst genommen hatte. Er selbst käme sowieso nie auf die Idee, sich langfristige Vorsätze zu konstruieren. Wenn er sich doch mal etwas vornimmt, bricht er diesen stillen Pakt mit sich selbst genauso schnell wieder wie er ihn auch besiegelt hat. Vieles in seinem Leben handhabt er auf diese Weise. Spontan. Wenn es nötig ist. Oder eben aus einer Laune heraus, auch wenn er nicht viele davon kennt. Dass er emotional sehr viel monotoner als die meisten Menschen um ihn herum verläuft, ist ihm in den letzten Jahren immer wieder aufgefallen. Natürlich erfährt er das volle Spektrum, jedoch liegen alle Gefühle stets unter der Glocke einer Mentalität des Achselzuckens. Langsam schiebt er seinen kleinen, schwarzen Rollkoffer durch die Menschen vor dem Gebäude. Hier und da kann er ein paar englische Wortfetzen aufgreifen, mal in dem ein oder anderen Akzent. Als er hört, wie sich eine ältere Frau mit starkem deutschen Akzent mit einer jung und agil aussehenden Frau unterhält, bleibt er stehen und fragt nach dem schnellsten Weg zur Robert-Koch-Straße. Die Frau mit dem deutschen Akzent versucht gebrochen, ihm mit einer fadenscheinigen Wegerklärung zu helfen und empfiehlt ihm schließlich, erst einmal mit der Linie 109 bis zum Zoologischen Garten zu fahren. Dankend verschwindet er erneut im Getümmel des Flughafens und hält nach den Busstationen Ausschau. Die geringe Flughafengröße wird nun überraschend zu einem Freund und lässt ihn innerhalb weniger Minuten ein Schild mit einem großen H darauf passieren, vor dem mehrere Busse parken. Etwas unsicher blickt er in die Windschutzscheibe von einem. Am unteren linken Rand ist ein Zettel mit der 109 vermerkt. Immer noch unsicher hievt er seinen Koffer zuerst und danach sich in den Bus und nimmt auf einem Sitz unweit der mittleren Tür Platz. Als er nach rechts schaut, blickt er unweigerlich in die Augen seines verschwommenen Ichs in der Fensterscheibe. Er mag sein Spiegelbild nicht. Das liegt nicht daran, dass er hässlich ist, sein Aussehen bewertet er als solide und auch viele seiner Freunde haben ihm diesen Eindruck bestätigt. Es liegt mehr daran, dass Spiegelbilder für ihn immer etwas Bannendes an sich haben: Jedes Mal bemerkt er zuerst, dass er eigentlich gar nicht so schlecht aussieht. Dann entdeckt er ein paar unsolide Dinge in seinem Gesicht wie eine Haarsträhne, ein paar Mitesser oder vielleicht sogar einen Pickel. In seinem Unterbewusstsein formt sich daraufhin ein bizarrer Widerspruch zwischen seiner ersten Erkenntnis und dem plötzlichen Entdecken der Ungereimtheiten, der schlussendlich in einem unwohlen Zustand des Gezwungenseins, die Ungereimtheiten näher zu betrachten, endet. So ist zumindest seine Interpretation immer gewesen. Ein dumpfes Geräusch zischender Luft reißt ihn von seinem Spiegelbild los. Vor ihm schließen sich die beiden Türen und der Bus setzt sich in Bewegung.
Interessiert und gleichzeitig doch abwesend starrt er die vorbeiziehenden Gebäude an. Obwohl das meiste sich nicht zu sehr von seiner früheren Heimat unterscheidet, scheint ihm vieles doch aus einer anderen Welt zu stammen. Er vermutet, dass das an der neuen Sprache liegt; er fährt jetzt nicht mehr an “drugstores”, sondern an “Drogerien” vorbei. Ganz ähnlich, aber doch verschieden. Deutsch soll schwer sein, das hat er sich zumindest sagen lassen. So wie er das einschätzt, ist im Vergleich zu Englisch jedoch jede Sprache schwer. Vielleicht ist er deswegen etwas, das man allgemein als “a simple man” bezeichnen würde. Umgänglich. Mittelmäßig schlau. Durchschnittlich attraktiv. Braucht nicht viel zum Glücklichsein. Einfache Sprache, einfache Menschen eben. Wenn er aber genauer darüber nachdenkt, fallen ihm auf Anhieb mindestens ein Dutzend englischsprachiger, komplizierter Menschen ein. Und die anderen Fahrgäste scheinen größtenteils auch nicht wie emotionale Wälzer - trotz der komplizierten Sprache, in der sie denken. Ein plötzlicher Impuls in seiner Muttersprache lenkt seine Aufmerksamkeit aus seinem Kopf zurück auf das Innenleben des Busses.
“This bus terminates here. Please leave the bus”
Die ersten Buchstaben, die er nach dem Verlassen des Busses liest, leuchten rot, obwohl es noch helllichter Tag ist: "Risa". Er wendet seinen Blick von den Neonröhren ab und wirft einen Blick durch eines der Fenster. Drinnen sitzen hauptsächlich Menschen mit arabisch wirkendem Hintergrund und fingern orangene Klumpen von roten Tabletten. Auf jedem Tisch steht entweder eine Ketchup- oder eine Mayonnaiseflasche. Er horcht in sich hinein, bemerkt ein leichtes Magenknurren und beschließt, hier seinen ersten deutschen Restaurant-Besuch vorzunehmen. Zwar ist ihm durchaus bewusst, dass er mehr vor einer Fast-Food-Filiale als vor einer wirklichen Gaststätte steht, aber das stört ihn nicht. Niemand schüttelt schließlich mehr den Kopf, wenn er sich falsch ernährt und außerdem ist es billiger, so vermutet er zumindest. Obwohl Geld sein geringstes Problem ist, möchte er so wenig wie möglich davon ausgeben. Denn es ist jetzt sein Geld, sein eigenes. Nicht das seiner Eltern. Vielleicht ist das Freiheit, denkt er bei sich, während er den Laden betritt: Viel Geld zu haben, sich aber trotzdem billig und ungesund zu ernähren.
Nachdem er sich fünf der orangenen Klumpen, die sich als Halal-Chicken herausgestellt haben, bestellt und sein rotes Tablett erhalten hat, beschließt er, im oberen der beiden Stockwerke zu essen. Von hier aus hat er eine gute Sicht auf die Bahnhofsanlage: Zuerst wird die Straße durch vier Mittelinseln in vier Bussteige geteilt. Dahinter erhebt sich schwarz ein Bahnhofsgebäude inklusive eines angebauten Rumpfes, in dem sich ein McDonalds befindet. Sowohl auf dem vordersten Bussteig als auch unterhalb des mit einer Glasfront ausgestatteten Anbaus befinden sich U-Bahneingänge. Dazwischen liegen mehrere Imbissbuden, die er nun näher inspiziert. Schmutzig und schmuddelig scheinen sie zu sein, bei manchen funktionieren die Reklameschilder nicht mehr richtig und hinter einer hängt auf einem Fahrradständer eine heruntergekommene Person, deren Hose komplett zerfleddert ist. Etwas verdutzt schaut er genauer hin und bemerkt, dass dieser Unbekannte anscheinend dort seine Notdurft verrichtet. Ungläubig blinzelt er einmal. Das ist also seine neue Heimat. Billiges Chicken und Obdachlose, die auf die Straße kacken. Schnaubend schüttelt er sich das Runzeln von der Stirn. Dann soll es halt so sein.
Er beschließt, nicht direkt zu seiner neuen Wohnung zu fahren, sondern seine neue Mitwelt, mit der eben in einen so komischen Erstkontakt getreten ist, einmal näher zu betrachten. Der Vermieter erwartet ihn schließlich erst abends. Das Wort “Mitwelt” passt gut in seinem Kontext, das Wort “betrachten” meint im selbigen aber jedoch nicht wirklich einen aktiven Prozess: Schon zuhause hatte er es stets geliebt, seine Kopfhörer aufzuziehen und einfach sinnlos durch die Umgebung zu streifen. Irgendwann hatte er jeden Winkel dieses Zuhauses mit einem Streifzug bedacht gehabt und realisiert, dass er jung ist und dementsprechend irgendwo eine Verpflichtung besitzt, nach Abenteuern zu suchen. Dann hatte er noch eine ganze Menge Geld geerbt und fertig ist das Profil seines ungewöhnliches Abenteuers gewesen: “Der neureiche junge Mensch, der nicht in die Staaten imi-, sondern aus den Staaten emigriert”, hatte eine gute Freundin gegluckst, “Sean, du bist schon ein Querschläger. Wie aufregend!” Ja, aufregend, so hatte er auch gedacht. Bestimmt würde sein neues Leben in Europa aufregend werden; die großen Gefühle auf ihn einstürmen, nicht gebremst durch eben jene Glocke der heimatlichen und vertrauten Umgebung. Er horcht tief in sich hinein, während er an einem imposanten Torbogen vorbeiläuft, der ihm jedoch nur entfernt ins Auge fällt. Ja, doch, ein wenig aufgeregt ist er schon, ein großes Gefühl kann er jedoch nicht ausmachen. Woher sollte es auch kommen, ändert sich doch auch nichts großes: Er ist jetzt zwar weit von seiner Heimat entfernt und muss zum ersten Mal für sich selber sorgen, die reiche Basis bleibt aber. Finanziell würde er auch weiterhin nicht in Bedrängnis geraten. Aber sozial, sozial muss er neu anfangen. Wahrscheinlich wird das schon für die großen Gefühle sorgen.
Als er am Abend schließlich vor dem Klingelschild seiner ersten eigenen Wohnung steht, überkommt ihn doch noch einmal die Neugierde, die er während des Landeanfluges gehegt hatte. Ist Neugierde schon ein großes Gefühl? Nein, so fühlt es sich nicht an. Natürlich, logisch, so fühlt es sich an: Der Mensch geht ins Ausland, also ist er neugierig. Achselzuckend fischt er den Schlüssel, den er bereits bei seinem letzten Besuch erhalten hat, aus seiner Hosentasche und schließt die Wohnungstür auf. Vor ihm offenbart sich der geräumige Flur einer mitteleuropäischen Altbauwohnung. Ein Stil, den er aus seiner Heimat nicht kennt, den aber bereits von Beginn an gemocht hat.
Nachdem er die Einweisung hinter sich gebracht und seine Wohnung im dritten Stock erst einmal mit der im Vergleich zur Größe der Wohnung geringen Anzahl der Dinge aus seinem Koffer eingerichtet hat, öffnet er erstmalig die Balkontür und kramt ein Päckchen Zigaretten, das er bei seinem ersten Berliner Streifzug gekauft hat, aus der Brusttasche seines grünen Hemdes. Die Einweisung ist gut gewesen. Der Vermieter ist ein Kerl mittleren Alters, der ihm mit einem Augenzwinkern angeboten hat, ihm seinen Sohn vorzustellen, der ihm gleichen Alter ist und ein hervorragendes Englisch spricht. Auf diese Weise könne er bestimmt Freunde in der Stadt gewinnen.
Er reißt die Plastikverpackung auf und steckt sich eine in den Mund. Seine ersten deutschen Zigaretten. Er schaut auf die Marke. Marlboro. Die gleichen, die er schon zuhause geraucht hat. Er erinnert sich daran, wie er angefangen hat zu rauchen. Zuerst nur auf Partys, weil es gut zur Stimmung gepasst und ihm außerdem einen vermeintlich coolen Touch verliehen hatte. Bald schon hat er gemerkt, dass ihm eine Zigarette hier und da auch im Alltag gut tut. Dass ihm das Brennen des scharfen Rauches in der noch jungfräulichen Lunge gut tut und dass es ihn für einen Moment aus den immergleichen Tagen reißt, die ihm doch als so gegensätzliches Modell zu dem Lebensabschnitt “Jugend” porträtiert worden waren. Immer noch starrt er auf das Zigarettenpäckchen. Marlboro also. Ihn überkommen sowohl ein heftiger Schwindel als auch eine leichte Übelkeit. Blass sinkt er an der Glastür hinab. Marlboro. Marlboro und Geld. Marlboro, Geld und Sicherheit. So wie immer. Sein Leben ist eine Linie, nur die Farbe des Papiers, auf dem sie verläuft, hat sich geändert. Innerhalb dieser Linie gibt es keine großen Sinuskurven, keine großen Einbrüche, keine großen Steigungen. Die Linie verläuft schnurgerade wie sie auf den Bildschirmen toter Patienten auch verläuft. Gerade und sicher. Er sollte dankbar dafür sein. Während eine Träne seine rechte Wange befeuchtet, wischt er sich den Schweiß von der Stirn.