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Marionettenmord
Nun lag sie da, gefesselt, in einer Pfütze voll Blut, das Gesicht zu einer angsterfüllten Grimasse entstellt – ein Rosenkranz um ihren Hals. Sie war mit dem Küchenmesser erstochen worden, den sie meistens zum Zwiebel schälen benutzte. Der Mörder hatte die Waffe mit dem schwarzen Holzgriff, ordentlich neben der Einstichstelle an ihrem Hals gelegt, mit der Spitze Richtung der Füße des Opfers und hatte das daran klebende Blut akkurat entfernt, so als wolle er Zeugnis von der gut ausgeführten Arbeit ablegen, und für die Ermittler hatte es genau diesen Anschein. Aber auch wie er ihre Schuhe hingelegt hatte, so ordentlich neben ihren Füßen, erweckte den Anschein eines gewissen Respekts, den der Täter, für die vollbrachte Tat, sich selber zollte. Den Kriminalbeamten vermuteten, dass der Mörder sich schon seit Langem mit Mordgedanken getragen haben musste: Es handelte sich um einen Akt explodierenden Hasses!
Die Mordkommission hatte die Villa der Frau abgeriegelt und im Haus waren die Ermittler eifrig ans Werk gegangen, um den Tatort korrekt abzusichern. Im Raum, wo der Mord stattgefunden hatte, versuchte die Spurensicherung jeden erdenklichen Beweis sicher zu stellen. Die Kriminalbeamte gingen davon aus, dass es sich hier um einen Mord aus Rache handeln musste – zweiunddreißig mal hatte der Mörder zugestochen -, also konnte es sich hierbei nicht um einen in Panik geratenen Einbrecher handeln, der das schreiende Opfer im Affekt tötet. Die Dame war hingerichtet worden, daran bestand keinen Zweifel. Die Profiler – mit Schutzkleidung, Latexhandschuhe und Schutzbrille ausgestattet -, nahmen jedes noch so kleine Beweisstück in Augenschein und suchten, wie es üblich ist, auch unter den vom Zigarettenrauch vergilbten Fingernägeln des Opfers, mit einem eigens dafür vorgesehenen Abriebtupfer, nach DNA-Spuren des Täters. Hauptkommissar Gerd Lindner war mit seinen fünfundfünfzig Jahren ein erfahrener Ermittler und mehrfach ausgezeichnet. Das einzige was ihn an seiner Arbeit störte, war die Tatsache, dass er schon ganz früh, aufgrund seines zehrenden, kompromisslosen Engagements graue Haare bekommen hatte und dass seine Frau oft vergebens mit dem warmen Essen auf ihn wartete. Trotz seiner großen Erfahrung schien er von der Tat beeindruckt und war sich sicher, dass er den Täter bald zu fassen bekommen würde, denn er ging davon aus, dass dieser aus dem näheren Umfeld des Opfers stammen müsse, da keine Einbruchsspuren festgestellt werden konnten. Zum Erstaunen der Kriminalbeamten war im Haus nichts gestohlen worden und auch die wertvollen Bilder wurden nicht angerührt. Die Laboruntersuchung förderte keine nennenswerten Ergebnisse an den Tag. Die Dame lebte allein und von ihr kannten die Nachbarn nur ihren Namen. Eleonore von Almstedt war adelig und nie verheiratet gewesen. Sie hatte viel Geld und protzte gern damit. Ganz zu Anfang, als sie ihr Haus gerade neu bezogen hatte, fand sie Gefallen daran ihre Nachbarn einzuladen und ihnen zu zeigen wie gut es ihr ging. Ihr gönnerhaftes Getue, so äußerten sich einige der Befragten, hätte die Leute abgestoßen und nach kurzer Zeit war Frau von Almstedt, die sich die Allüren einer grande dame gab, von allen gemieden worden. Sie hatte sich zurückgezogen und von ihr wusste man nur, dass sie sich etwas Gemüse und Obst nach Hause liefern ließ. Ganz selten hatte sie das Ehepaar Lena und Olaf Kraus empfangen, er war Pastor der Adventistengemeinde, in der Frau von Almstedt immer wieder gerne hin ging. Hauptkommissar Lindner versuchte blitzschnell die Puzzleteile des Falles zusammen zu setzen, um unverzüglich handeln zu können, aber gerade seine Erfahrung lehrte ihn, dass er zur Aufklärung dieses Falles jedes noch so winzige Detail einer genauen und peniblen Analyse unterziehen musste, natürlich hoffte er auch auf ein wenig Glück dabei.
In den nächsten Tagen ging er mit seinem Team noch einmal alles durch, aber umso mehr er sich mit der Tat befasste, desto mehr verdichtete sich sein Verdacht, er müsse etwas im Haus des Opfers übersehen haben. Er beschloss noch einmal zum Tatort zurück zu kehren, um sich umzusehen. Kurz nach Elf rissen Gerd Lindner und sein Assistent Hans Krämer die Türversiegelung am Hauseingang auf. Lindner ging voraus und blieb im Wohnzimmer stehen. Dort bestaunte er die Bilder alter deutscher Maler und die Vitrine mit dem Meissner Porzellan. Nichts schien sein Interesse zu wecken. Auf dem Nachtschränkchen der Verstorbenen lag ein Gebetsbuch. Aus purer Neugier warf Lindner einen Blick darin und sah dort eine Widmung: „An meine liebe Mama! Deine Tochter Juliane“ Der Hauptkommissar rief seinen Assistenten und sagte: „Hans, wirf mal einen Blick auf die Widmung.“ Polizeioberkommissar Krämer sagte verblüfft: „Das gibt es doch gar nicht! Das Opfer hat eine Tochter!“
„Und uns ist es bisher entgangen!“ sagte Lindner verärgert, während er am Knopf seines beigen Trenchcoats nervös herum spielte. „Gib das bitte gleich durch, wir müssen es sofort überprüfen. - Ich frage mich, wieso die Tochter nie hier gesehen wurde, es ist schon etwas merkwürdig.“
„Vielleicht lebt sie im Ausland – weiß nicht – oder sie hat sich mit der Mutter nicht verstanden.“ erwiderte Krämer, der mit seinem Handy die Kollegen in der Zentrale zu erreichen suchte – der Empfang war schlecht und er schritt Richtung Haustür. Hauptkommissar Lindners rauhe Stimme ereilte ihn gerade in dem Moment als er die Zentrale erreichte, er sagte: „Wir müssen die Tochter vorladen, sie kann uns sicherlich weiterhelfen. Ob sie jemals ihre Mutter besucht hat?“ Krämer konnte nicht antworten, er hatte Polizeikommissar Weingruber am anderen Ende und diesem gab er Lindners Anweisungen durch. Der Polizeikommissar versprach unverzüglich zu recherchieren. Lindner rief laut: „Wieso hat sie keine Bilder von ihrer Tochter? - Erstaunt dich das nicht?“ Krämer steckte sein Mobiltelefon ein fasste sich nur kurz an die Stirn und erwiderte fast schreiend: „Keine Ahnung, vielleicht war das gar nicht ihre Tochter. Es könnte auch gut sein, dass das Gebetsbuch jemand anderem gehörte – wir können uns nicht auf scheinbar klare Fakten verlassen - stell dir vor, sie hat überhaupt keine Tochter, vielleicht weil sie keine Kinder haben konnte und hat sich die Widmung selber hinein geschrieben.“ Der Hauptkommissar schaute seinen zu ihm schreitenden Assistenten mit grimmiger Miene an, schnaufte zunächst, runzelte die Stirn und sagte belehrend: „Dann wäre sie ja ziemlich krank! - Du hast wohl zu viele Kriminalromane in letzter Zeit gelesen!“ Polizeioberkommissar Krämer sah ein, dass seine Vermutung nur eine ziemlich gewagte Spekulation darstellte und versuchte erst gar nicht Argumente zur Stützung seiner These vorzubringen. Nervös fuhr er mit Zeigefinger und Daumen über seinen blonden, schmalen Schnurrbart, um sich dann mit einer gewohnten Handbewegung über die Stirn zu streichen, dabei verschob er seinen grünen Trachtenhut mit Gamsbart nach hinten und ein Büschel blonder Haare kam zum Vorschein. Hauptkommissar Lindner sagte: „Nun, ich glaube, das wir hier erst einmal fertig sind.“ Als sie wieder in der Zentrale eintrafen, saß Polizeikommissar Weingruber – den Kopf auf die zum Schraubstock geformten Armen liegend -, über seinen grauen Schreibtisch und telefonierte angespannt, sein Blick schien sich an einem Punkt des Schreibtisches fest gebohrt zu haben. Sie hörten wie er höflich sagte: „Haben Sie vielen Dank Frau Bartel, Sie haben mir sehr geholfen.“ Er legte auf, hob langsam seinen Blick und fast verwundert nahm er die Ankömmlinge wahr, dann kniff er die Lippen zusammen und sagte enttäuscht: „Das war eine Nachbarin des Opfers, sie meinte der Obstlieferant könne etwas damit zu tun haben. Sollen wir der Spur nachgehen?“
„Selbstverständlich!“ erwiderte Lindner durstig nach Erkenntnissen. „Und was haben Sie noch heraus gefunden?“ Weingruber kratzte sich am Kinn und sagte schwer: Es tut mir leid, aber die Frau hatte gar keine Tochter, sie hatte einen Sohn, das hat unser Zentralcomputer heraus gespuckt.“ Lindner schaute überrascht und sagte: „Das wird ja immer interessanter! - Einen Sohn?“
„Ja, einen Sohn, er heißt Siegfried!“ erwiderte Weingruber fast stolz dies herausgefunden zu haben.
„Und wo finden wir den Mann?“
„Das ist das Problem! Der Typ wohnt zwar hier in der Stadt, er ist aber nicht aufzufinden.“ erwiderte Weingruber irgendwie betroffen. „Von ihm nicht die leiseste Spur.“ Lindner geriet außer Kontrolle und schimpfte laut: „Verdammt noch einmal! Wissen wir zumindest wie er aussieht?“ „Klar, sollen wir ihn zur Fahndung ausschreiben?!“ Lindner runzelte die Stirn und wandte sich dezidiert an seinen Assistenten: „Krämer, Lassen Sie sich ein Foto von dem Sohn des Opfers ausdrucken und knöpfen Sie sich noch einmal die Nachbarn vor, vielleicht fällt dem einen oder anderen etwas zu dem Typen ein. Und vor allem, überprüfen Sie alle möglichen Datenbanken, ich will sämtliche Informationen über den Kerl.“
In einem abgelegenen Waldstück in Stadtnähe, saß Siegfried von Almstedt in seiner verlassenen Gartenhütte, hatte sich bereits seine dritte Flasche Bier aufgemacht und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Für diesen besonderen Tag hatte er seinen roten Lieblingspullover angezogen, die Haare trug er ungekämmt wie immer und seine schwarze Jeans war vom Blut des Opfers verschmiert. Der Mörder kostete seinen Triumph aus und mit jedem neuen Schluck fühlte er sich übermenschlich stark. Er hatte es endlich geschafft, die Frau, die ihn jahrelang geknechtet und gnadenlos unter ihrem Joch gehalten hatte, zu töten..., er hatte das wahr gemacht, was er ihr mal in einem seiner zahllosen Wutanfälle gewagt hatte zu sagen: Ich verspreche Dir, ich werde dich irgendwann umbringen. Daraufhin hatte sie ihn mit Psychopharmaka vollgepumpt, weil sie nur auf diese Weise seine Wut im Zaum halten und ihn wie eine Marionette lenken konnte. Er erinnerte sich, wie sie nach dem Tod seiner Schwester, depressiv wurde. Einen Vater hatte Siegfried nicht und er „durfte“ seine Großeltern, Eltern nennen. Opa Friedrich und Oma Else - die Eltern seiner Mutter -, spielten dieses Spiel mit, weil für sie ihre Tochter eine Schande darstellte, da sie - ganz jung noch - ein uneheliches Kind auf die Welt gebracht hatte, das nach ein paar Jahren an einer Sepsis gestorben war – das Kind hieß Juliane. Nach dem Tod ihrer Tochter war Eleonore von Almstedt psychisch krank geworden und deswegen musste Siegfried – der jedes mal wenn jemand seinen Namen nannte, an sein tragisches Schicksal erinnert wurde -, als Kind in Mädchenkleider herumlaufen, mit Puppen spielen und seine Haare lang tragen. Siegfried von Almstedt war zu einem Wrack herangewachsen, er war psychotisch und mehr als zehn Jahre hatte er in einer Einrichtung für psychisch Kranke verbracht. Aufgrund der intensiven Therapien, hatte der behandelnde Psychiater ihn schließlich entlassen. Er brauchte nur noch zwei mal die Woche die Einrichtung aufzusuchen, um an Freizeitaktivitäten teilzunehmen und er hatte sogar eine eigene Wohnung. Die Gartenhütte am Stadtrand gehörte früher den Großeltern, er ging hin und wieder dorthin, weil er als Kind ebendort schöne Stunden in Freiheit verbringen durfte, die Freiheit vor seiner Mutter, die ihm seit seiner Einschulung zwar nicht mehr damit drangsalierte in Mädchenklamotten herumzulaufen, aber ihn dafür mit ihrer sadistischen Kontrollwut traktierte: „Siegfried! Putze dir die Zähne! Siegfried! Wackele nicht mit den Füssen wenn du am Tisch sitzt! Siegfried! Rede nicht mit vollem Mund! Siegfried! Gib der Mama einen Kuss! Siegfried! Sei immer lieb zu Oma und Opa! Siegfried! Zeig der Nachbarin, wie schön du dein Gedicht aufsagen kannst! Siegfried! Mache dich nicht dreckig!. Siegfried! Halt den Schnabel! Siegfried! Du saublöde Marionette!...“ Dieser Junge war aufgrund dieser Tortur tatsächlich zu einer willenlosen Marionette herangewachsen, aber er hatte sich selber in den Momenten wo er diese zerfressende Wut gegenüber seiner Mutter verspürte, immer wieder gesagt (und jetzt erinnerte er sich mit Freude daran), dass er sie irgendwann umbringen würde. Und es war ein wunderbares Gefühl sich als Kind mit diesen Worten zu betrinken, es war der Vorgeschmack der Rache... ein Sieg des geduldigen Wartens über das ihm auferlegte Schicksal. Es verging kein Tag, an dem er sich nicht mit diesem erlösenden Mantra im Rausch getröstet hätte. Die Vorstellung, eines Tages sich rächen zu können, das hatte ihm Kraft gegeben. Und jetzt, wo er sein Vorhaben abgeschlossen hatte und eine Tavor Tablette nach der anderen mit dem abgestandenen Bier hinunter schluckte, schrie er: “Siehst du! Ich bin nicht mehr deine saublöde Marionette! Ich bin nicht mehr deine saublöde Marionette! Ich bin nicht mehr deine saublöde Marionette! Ich bin nicht me-hr dei-ne sau-blö-de Mario-ne-tte!....“ Sein Schreien wurde immer schwächer, verkam zu einem Röcheln und verstummte.
Der Wind an diesem Novembertag war eisig und wehte mit solch beeindruckender Stärke, dass die Tannenbäume, die den Weg zur Gartenhütte säumten, sich respektvoll über sie beugten, als wollten sie Siegfried von Almstedt in Schutz nehmen. Im Hintergrund war eine Polizeisirene zu hören. Hauptkommissar Lindner, gefolgt von dem Rest der Wagenkolonne, legte eine Vollbremsung hin. Er und sein Assistent stiegen aus ihrem silbernen Mercedes 300 E aus und verfolgt von ihren eigenen Leuten, stürmten sie die kleine Gartenhütte. Siegfried von Almstedt lag bewusstlos am Boden, auf seinem Gesicht ein entspanntes, zufriedenes Lächeln.