Marie
Meine kleine Tochter ist heute wieder bei mir.
„Papi, lass uns raus gehen, es ist so ein schöner Tag!“
„Ach, Marie endlich bist du da, ich habe mich schon die ganze Woche auf dich gefreut!“
„Mami wollte wieder nicht hereinkommen. Sie sagt sie hätte Angst vor dir!“
„Und, hast du etwa auch Angst vor mir?“
„Nö, natürlich nicht, du bist doch der liebste Papi auf der ganzen weiten Welt!“
Ich nehme Marie in meine Arme und drücke sie an mich.
Jeden Samstag kommt mein Töchterchen zu Besuch – die restlichen Tage verbringt sie bei ihrer Mutter.
„Marie, du hast ja ein wunderschönes Kleid an, pass ja auf, dass du es nicht schmutzig machst, wir gehen nämlich jetzt hinunter in den Botanischen Garten.“
Ich nehme Marie an meine Hand und wir verlassen das große Haus durch den Haupteingang.
Schon nach nur wenigen Metern sind wir auch schon am Botanischen Garten angelangt. Meine Kleine bleibt vor jeder neuen Blume stehen und ich soll ihr jedes Mal den Namen der Pflanzen nennen.
„Diese Pflanze nennt man Sonnenblume, dies ist eine Asteraceae.“
„As-ter-a-cea-e“, spricht meine Tochter leise vor sich hin, es scheint, als ob sie die Wörter in sich aufsaugen wolle.
Marie ist sehr klug, ich achte sehr auf ihre Bildung, sie soll es einmal besser haben als ich. Mir hat nie jemand ernsthaft etwas zugetraut.
Meine Tochter ist der Inhalt meines Lebens, ja was wäre ich nur ohne sie?
Hand in Hand gehen wir am See entlang, wir schauen den Enten zu, wie sie versuchen Brotkrummen von der Erde zu picken, welche Rentner auf Parkbänken ihnen zuwerfen.
Auf einmal schaut mich Marie forschend an und unerwartet fragt sie: „Papi, bist du traurig?“
Ich fange unwillkürlich an zu lächeln: „Ich bin niemals traurig wenn du bei mir bist!“
„Das ist schön Papi!“, und sie lächelt mich an, und die Sonne geht in meinem Herzen auf.
Meine Tochter hat zwei zuckersüße Grübchen, eigentlich sind Grübchen nur eine Bindegewebsschwäche, aber die weiß Marie noch nicht, es gibt wichtigere Dinge die ich ihr beibringen will, meiner kleinen, süßen und aufgeweckten Marie.
„Papi, jetzt gehen wir aber in den Zoo!“
„Ja, Marie jetzt gehen wir in den Zoo.“
Die wenigen Kilometer gehen wir beide zu Fuß, Marie beklagt sich nie.
Unterwegs erzählt sie mir ihre Geschichten, kleine Geschichten und ich erzähle ihr meine Geschichten, große Geschichten.
Manchmal denke ich mir selber eine aus und manchmal erzähle ich ihr aus den Büchern die ich als Kind gelesen habe.
Marie selber kann erst seit kurzem lesen, ich habe es ihr selbst beigebracht, ich bin sehr stolz auf meine Kleine.
„Papi, glaubst du, dass ich den „kleinen Prinzen“ auch einmal treffen werde?“
„Ganz bestimmt Marie, ja vielleicht besucht er gerade jetzt wieder unseren Planeten.“
„Papi, was heißt das eigentlich so genau, nur mit dem Herzen sieht man so richtig gut?“
„Das heißt, dass man mit seinem Herzen, das Wesen eines Menschen viel besser einschätzen kann, als es mit dem bloßen Auge möglich ist. Das Herz sieht Dinge, die für die Augen unsichtbar sind.“
„Das ist schön Papi“, meine Marie schließt für eine Weile ihre Augen und plötzlich strahlt sie: „Ich kann Mami sehen, obwohl sie gar nicht vor mir steht!“
„Ja Marie, so ergeht es auch mir…“
Nun sehen wir auch schon den Eingang des Zoos, ich kaufe für mich eine Eintrittskarte, Marie braucht keinen Eintritt zu zahlen, sie kommt immer umsonst in den Zoo.
Wir Beide waren schon unzählige Male hier, doch Marie ist immer noch Feuer und Flamme.
Wir gehen an dem Gehege der Lamas entlang, wir schauen den spielenden Erdmännchen zu und als wir am Vogelgehege vorbei gehen, bleiben wir vor dem lachenden Hans stehen. Marie liebt diesen Eisvogel, er hat so einen schönen Namen sagt sie.
Unser Zoobesuch wäre jedoch nicht vollendet, wenn wir nicht auch die Raubkatzen besuchen würden. Als wir vor dem schwarzen Panther stehen, zitiere ich das berühmte Gedicht von Rilke und Marie wird ganz traurig, weil sie weiß, dass Rilke Recht hat, sie würde den Panther am liebsten sofort freilassen.
„Papi, es wird Zeit, dass du mich zurück zu Mami bringst.“
Ihre großen braunen Augen schauen mich an, ich weiß dass sie Recht hat, es ist schon spät, aber ich will sie noch nicht gehen lassen: „Wir gehen ja gleich, aber vorher schauen wir noch am Spielplatz vorbei, oder hast du darauf etwas keine Lust?!“
„ Au ja, Papi!“
Marie freut sich schon auf die anderen Kinder und eilig machen wir uns auf den Weg.
Am Spielplatz angekommen, steigt Marie zu allererst auf die große Elefantenrutsche, sie kreischt vor Vergnügen als sie hinabrutscht.
Ich setzte mich auf eine Bank, sowie es andere Eltern auch tun, und schaue meiner Süßen beim spielen zu, genau so wie es andere Eltern auch tun.
Marie hat auf einmal keine Lust mehr zu rutschen und sie setzt sich mit ein paar anderen Kindern in das kleine Karussell. Eines der Kinder gibt dem Karussell ordentlich Schwung und meine Tochter lacht als sie sich immer schneller dreht.
Die Fliehkraft drückt meine Kleine nach außen, ob sie wohl weiß, was Fliehkraft überhaupt bedeutet? Ich werde es ihr wohl eines Tages erklären müssen.
Die Kinder jauchzen vor Vergnügen, doch dann wird einem der Kleinen übel und das Karussell wird gestoppt.
Auch Marie ist etwas grün um die Nase, etwas tollpatschig steigt sie aus und schnappt nach Luft.
Mein Blick schweift über den Sandkasten, dort sitzt ein kleines, braun gelocktes Mädchen und baut eine Sandburg. Sie scheint ebenso alt wie Marie zu sein und schon kommt schon meine Tochter herbeigelaufen. Sie setzt sich neben das fremde Mädchen und Marie hilft ihr dabei die Sandburg noch zu verschönern.
Ich schaue ihr dabei fasziniert zu.
Eine braun gelockte Frau geht plötzlich auf den Sandkasten zu: „Anna, komm. Wir müssen gehen. Die Frau nimmt ihre Tochter an die Hand und zieht sie aus dem Sandkasten.
Unsere Blicke treffen sich, als sie an mir vorbei geht, sie schaut mir misstrauisch und auch etwas ängstlich in die Augen, doch bevor ich etwas sagen kann, kommt auch schon Marie auf mich zu.
„Papi, wir müssen jetzt wirklich los, sonst wird Mami noch böse!“
Sie hat Recht und wir verlassen den Zoo, es ist schon später Nachmittag als wir uns auf den Weg zu Maries Mutter machen.
Wir sind nur noch wenige hundert Meter entfernt, als wir an einem kleinen Bauernhof vorbei kommen. Der Besitzer des Hofes steht an der Straße und vor ihm auf dem Boden liegt ein Karton aus dem leises Miauen zu hören ist.
Meine Marie beugt sich über den Karton und ist begeistert: „Ach, wie süß die sind, schau Papi wie süß die Katzen Babys sind!“
Marie streichelt die Katzen, es ist eine wahre Freude ihr dabei zuzuschauen.
Der Bauer fragt mich: Sind sie vielleicht an ein Katzenjunges interessiert? Unsere Katze hat nämlich vor ein paar Tagen geworfen und jetzt wissen wir einfach nicht wohin mit all den Kleinen.“
Ich schaue zu Marie. „Ich hätte sehr gerne ein Kätzchen für meine Tochter.“
„Zwei Papi, zwei Kätzchen, bitte!“
„Nein ich hätte sogar gerne zwei, wenn dies möglich ist, am liebsten die kleine Schwarze und die Gescheckte!“
„Nun gut, ich hoffe nur, dass ihre Tochter sich auch gut um sie kümmern wird.“
„Oh, darauf können sie sich verlassen ...“
Aber tun sie mir bitte einen Gefallen, ich habe erst noch etwas zu erledigen und würde dann gegen Abend noch einmal bei ihnen vorbei schauen um die Katzen abzuholen, ich hoffe ich mache ihnen nicht zu viel Arbeit?!“
„Selbstverständlich, klingeln sie einfach an der Haustür meine Frau wird dann schon aufmachen. Na dann bis heute Abend!“
Marie und ich gehen weiter.
„Danke Papi, vielen, vielen Dank. Ich habe auch schon einen Namen für die Katzen, wie wäre es mit „Castor“ und „Pollux“?“
„Das sind zwei besonders schöne Namen, du bist klug Marie, sehr klug!“
Meine Tochter und ich gehen weiter und halten kurz vor Ladenschluss an einem Blumenladen. Ich kaufe einen Strauß Tulpen, eine Sonnenblume und eine Jutetasche und wir machen uns wieder auf den Weg.
„Papi, jetzt sind wir gleich bei Mami!“
Ich werde traurig, denn Marie hat Recht.
Gemeinsam lassen wir das große Tor hinter uns und laufen den Kiesweg entlang, mir wird ganz flau ums Herz als wir letztendlich vor ihr stehen.
„Hallo Mami“, sagt Marie leise.
„Hallo Schatz“, sage ich leise, dann lege ich den Strauß Tulpen auf ihr Grab.
„Mami schläft hier.“
„Ja Marie, Mami schläft hier.“
Marie geht nun ein paar Schritte an die Seite: „Und dort schlafe ich ...“
„Ja, dort schläfst du.“
Ich stehe vor Maries kleinen Grabstein. Heiße Tränen fließen über meine Wangen als ich die Sonnenblume auf ihr Grab lege.
„ Hier schlaft ihr Beide...“
„Papi, es hat nicht weh getan ....
Papi, jetzt musst du aber gehen, du wirst zurück erwartet. Lass mich hier bei Mami, ich werde dich bald wieder besuchen kommen. Ciao Papi!“
„Ciao, Prinzessin“.
Ich verlasse den Friedhof und gehe zum Bauernhof. Dort hole ich die Katzenjunges ab. Ich gehe nun zur alten Brücke am Fluss und achte darauf, dass mich niemand sieht. Ich nehme die Katzen aus dem Karton und stecke sie in meine Jutetasche, ich knote sie zu, und gehe knietief ins Wasser. Die Katzen wehren sich als ich sie unter Wasser tauche, sie kämpfen um ihr Überleben, aber ich lasse ihnen keine Chance, nach ein paar Minuten gibt es keine Gegenwehr mehr, sicherheitshalber halte sie jedoch noch weiter unter Wasser.
Mit bloßen Händen grabe ich ein Loch und lege die toten Katzen hinein, mit meinen Schuhen bedecke ich ihre kleinen Körper mit Erde.
Ich nehme den Bus und mache ich mich schleunigst auf den Weg zurück ins Sanatorium, ich komme gerade noch rechtzeitig bevor mein Fehlen beim Abendessen jemanden aufgefallen wäre.
Das Essen ist mal wieder fad, ich muss an Marie denken.
Endlich kann ich zurück in mein Zimmer, sehr zu meiner Freude sitzt Marie bereits auf meinem Bett und hält die Katzenjunges in ihren kleinen Armen.
„Danke Papi, jetzt kann ich immer wieder mit ihnen spielen!“
Ich bin glücklich.
„Marie, ich liebe dich!
Bald schenke ich dir du auch eine kleine Freundin zum spielen, schon sehr bald!“