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Marias Offenbarung
Gerade jetzt muss ich an Maria denken. Ich schreibe nieder was ich weiss und werde dann einen neuen Weg einschlagen.
Sie war ein sehr aufgeschlossenes Mädchen...damals.
Aber dann sind ihre Eltern verunglückt und sie hat kaum noch gesprochen. So lautete zumindest die offizielle Version.
Irgendwann habe ich mich trotzdem, oder auch gerade wegen ihrer schüchternen Art, mit ihr angefreundet. Anfangs war sie sehr ruhig und zurückhaltend. Unsere rein platonische Beziehung war wie ein stilles Übereinkommen.
Meistens trafen wir uns in dem kleinen Cafe an der Ecke, saßen dort und tranken unsere Cocktails, während wir uns gelegentlich kurz in die Augen blickten; niemand von uns beiden sprach dabei ein Wort. Eigentlich war das auch nicht nötig, denn wir mochten uns auch so.
Sie war schon immer sehr hübsch gewesen. Wenn sie nach dem Vorfall auch weniger Wert auf ihr Äußeres gelegt hatte, so war sie zu unseren Treffen immer sehr gepflegt und mit einer natürlichen Art der Eleganz erschienen. Sie lächelte zwar nur sehr selten, aber wenn, dann war es wie der schönste Sonnenaufgang im Morgenrot; Poesie in ihrer ursprünglichsten Form. Sogar jetzt bekomme ich noch eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.
Nachdem wir ein paar Gläser geleert hatten beglichen wir die Rechnung - jeder für sich selbst, darauf hatte sie stets bestanden - und gingen spazieren. Zu dieser Zeit vertrug ich längst noch nicht so viel Alkohol wie heute und eine wohlige Wärme durchfuhr jedesmal meinen Körper, als sie meine Hand ergriff und wir einfach nur durch den Ort schlenderten.
Es gab keine Probleme die beredet werden mussten, nichts negatives.
Einfach nur sie und ich; Seite an Seite. Irgendwie miteinander vereint.
Dann, nachdem Monate wie Sekunden an mir vorübergezogen waren und ich jegliches Zeitgefühl für unsere tiefe Freundschaft verloren hatte, begann sie zu erzählen.
Es floss aus ihr heraus wie aus einem Wasserfall. All die Sorgen, die sie so lange Zeit im stillen aufgehoben hatte und die an ihrer Seele fraßen wie hungrige Parasiten. Die ungehörten Gedanken und vorallem die Ängste, die nachts Besitz von ihr ergriffen. Immer und immer wieder.
Sie schüttete mir ihre gesamte Seele aus; ließ mich als einzigen Menschen teilhaben an den grausamen Wirrungen ihres Verstandes, und ich nahm es bereitwillig in mich auf.
Ich hörte ihr zu, wie es vermutlich noch kein Mensch zuvor in ihrem Leben getan hatte und ich weinte mit ihr, fühlte mit ihr; und erst jetzt wurde mir schlagartig bewusst, wie sehr ich ihr bereits verbunden war, wie sehr ich sie liebte; wie unglaublich groß meine Abhängigkeit von ihr war.
Dann, als sie fertig war; nach unzähligen traurigen Minuten des Schmerzes und noch immer schluchzte, nahm ich sie in den Arm. Ganz fest. Ich wollte sie niemals wieder loslassen.
Ihre Eltern hatten keinen Unfall gehabt, sie waren auch nicht gestorben. Sie waren ganz einfach fortgegangen und hatten sie allein gelassen.
Eine Tante hatte Maria zu sich aufgenommen und ihre Lehrer darum gebeten, die Geschichte von dem Autounfall zu erzählen. Das Geschehene war ihr unglaublich peinlich.
"Damals, an jenem Tag, ist etwas furchtbares geschehen Markus! Deshalb sind sie gegangen. Ich kann es dir nicht erzählen...noch nicht."
Ich kann nicht genau sagen, was es war. Vielleicht lag es daran, wie sie den Satz ausgesprochen hatte, oder meine Instinkte waren unterschwellig auf irgendein Zeichen ihrer Mimik aufmerksam geworden und hatten Alarm geschlagen.
Jedenfalls hatte ich in diesem Augenblick das erste Mal Angst vor ihr. Nach all den vielen und heftigen Emotionen, die sie zuvor aus ihrem tiefsten Inneren hinausgeschleudert hatte, drang dieser letzte Satz zu unterkühlt zwischen ihren Lippen hervor. Fast schon mechanisch.
Aber...wie gesagt, unter Umständen bildete ich mir das zu dem damaligen Zeitpunkt auch bloß ein.
Eine zeitlang lief alles weiter wie gewohnt. Erneut hatte sie damit angefangen kaum zu sprechen und nach ein paar Wochen hatte ich ihre plötzliche Offenbarung beinahe schon vergessen.
Wir trafen uns niemals zu Hause. Weder bei mir, noch bei ihr; auch ihre Tante hatte ich nie zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich konnte ich mir einfach nicht eingestehen, dass ich mich unsterblich in sie verliebt hatte und so hegte ich nicht die geringsten Zweifel; dachte nicht darüber nach, wie seltsam diese ganze Situation eigentlich war. Mit meinen Freunden hatte ich zu diesem Zeitpunkt längst keinen Kontakt mehr. Ich hatte nur noch Augen für Maria; für dieses wunderschöne, von Mysterien umwitterte Geschöpf meiner bildgewaltigen Phantasien.
Ich wäre wohl auf ewig blind geblieben, wenn nicht dieses grausige Ereignis gewesen wäre. Der dreiundzwanzigste Dezember.
Oh mein Gott, niemals werde ich diesen Tag vergessen!
So viele Jahre sind seitdem vergangen und dennoch wache ich eine jede Nacht auf, das Bettlaken nassgeschwitzt, und flehe in die starre Finsternis meines Schlazimmers hinein nach Hilfe. Dieses Bild hat sich in meine Seele gebrannt und wird sie niemals wieder verlassen. Der dreiundzwanzigste Dezember 1986. Der düstere, vernebelte Nachmittag, an dem alles anders wurde. Sie hatte mich angerufen. Das tat sie sonst nie.
"Wir müssen uns im Park treffen. Es ist sehr wichtig. Ich sitze in einer halben Stunde bei der alten Eiche", hatte sie schwach in den Hörer gehaucht.
Ich hatte mich gleich auf den Weg gemacht; voller Sorge; voller Mitleid; voller Verlangen danach, ihre warme Haut erneut berühren zu dürfen; sie in den Arm zu nehmen, ihren süßen Atem auf meinem Gesicht zu spüren und einfach nur für sie da zu sein. Wie ich sie geliebt habe! So unglaublich naiv bin ich gewesen.
Ich erinnere mich an die unzähligen Weihnachtsdekorationen in den Schaufenstern der Hauptstraße unseres Dorfes. Auf meinem Weg zu der kleinen Grünanlage in Richtung des Waldes ist mir nicht ein Mensch begegnet...damals.
Ich weiss noch, dass es zum ersten Mal seit Jahren wieder intensiv geschneit hatte und alles in ein märchenhaftes Winterweiss gehüllt war. Dicke Flocken landeten leise auf meiner Jacke und bedeckten sie mit der romantischen Anmut klischeehafter, friedlicher Vorstellungen.
Heute weiss ich, dass das Ambiente nichtig ist. Das wahre Böse kann überall lauern. Es versteckt sich in den hintersten Ecken eines scheinbaren Idylls und zerstört dein Leben in Sekundenbruchteilen auf ewig.
Es muss kurz nach vier gewesen sein, als ich durch das rostige Tor hindurchgetreten bin. Es dämmerte bereits.
Ich lief wie ein neugieriges Kleinkind durch die endlose Allee, vorbei an den kahlen Bäumen, die von vereinzelten Grabsteinen längst vergangener Zeiten in ihren Abständen voneinander gefüllt waren. Seit mehr als achtzig Jahren wurde hier niemand mehr bestattet und alles was unter der Oberfläche im verborgenen lag, konnte nicht mehr als zerfallener Staub sein; und so sehr mich dieser Weg auch stets deprimiert hatte, so stellte er doch eine Abkürzung dar. Ich wollte so schnell wie möglich bei ihr sein; bei Maria; meinem schweigsamen Engel.
Ich beeilte mich so sehr ich nur konnte, solange bis ich die Parkbank an der alten Eiche erreicht hatte; und dann kam das Bild...
Der Ursprung meiner schlaflosen Nächte.
Zuerst dachte ich - hoffte und betete ich - es sei bloß Schnee. Nur gefrorenes Wasser. Aber das war kein Schnee!
"Maria", stotterte ich von Panik ergriffen, "was ist mit deinen Haaren? Sie sind...grau!"
Dunkle Schleier legten sich über meine Augen, wollten mich schützen vor dem, was ich sah und vor dem, was ich noch nicht bewusst wahrgenommen hatte. Der verblasste Schatten an ihrem Bein drang einfach nicht vor in die Realität, die ich bislang als normal hingenommen hatte und die drohte, in einen tiefen Abgrund zu stürzen.
Ich sah nur die grauen Haare, sonst nichts.
"Ich werde bald sterben. Ich werde ihn einfach nicht los, verstehst du?" - Sie weinte. So gerne hätte ich sie in den Arm genommen, aber da war noch etwas; noch jemand!
Es - oder möglicherweise er - klammerte sich an ihrem nackten, rechten Bein fest.
Haut, so blass wie der Winter.
Erst als ich das kehlige Geräusch hörte, konnte ich den Wahnsinn nicht länger unterdrücken.
Diese Gestalt, diese kleine Mumie, die so grässliche Formen hatte; mit furchtbar blau glühenden Augen in die meinen blickte, und die sich an Marias Bein festgekrallt hatte; sie schien mit ihrem Körper verwachsen zu sein.
"Ich möchte nie mehr weite Hosen tragen. Er ist ein Teil von mir, Bestandteil meiner dunklen Seele, du kannst ihn nicht töten! Ich werde es tun...ich liebe dich!"
Sie zog das Messer aus einer Seitentasche und alles was dann kam war blau - Oh du schöne Mitternacht! - und laut und voller Geschrei; bizzare Rufe in einer Sprache von der ich niemals mehr etwas hören möchte.
Alles war so blau und so abstoßend.
Maria lag zuckend auf dem kalten, weißen Boden und färbte ihn fast kunstvoll in ein widerwärtiges, buntes Gemälde.
Noch heute werde ich durch das Tal der vergessenen Seelen wandeln. Meine Haare sind grau und dieses ekelerregende Etwas wird mein Leben nicht länger beherrschen.
Zuerst ihn und dann mich.