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Marias Kind
Maria warf einen Blick auf ihren Sohn. Er lag bäuchlings auf dem Boden, die Arme überstreckt. Er war jetzt 9 Monate alt. Sie fragte sich, wann er es schaffen würde, über die Türschwelle zu robben. Liam lag auf dem alten, hellen Parkett im Wohnzimmer. Das Kinderzimmer lag direkt nebenan, die Tür stand offen. Maria blickte von ihrem Sohn auf die helle Leiste, die die beiden Zimmer voneinander trennte. Wann schaffte er es endlich? Wann? Das war doch nicht normal.
Sie kniete sich mit einem Spielzeug vor ihm hin. Ein kleines blaues Flugzeug mit gelben Flügeln. Sie hielt es ihm vors Gesicht. „Komm hol es dir!“ sagte sie. Sie wedelte mit dem Flugzeug und machte „brumm, brumm, brumm“ “tschhhhhh“ das kleine Flugzeug fliegt! Brumm brumm brumm!“ Sie setzte sich und robbte ein Stück zurück. Über die Schwelle. „Na komm, nimm dir das Flugzeug!“ Sie sah ihm in die Augen. Keine Reaktion. Er schaute Maria an, wedelte mit den Armen und freute sich. Er schaffte es nicht. Was war das bloß? Enttäuscht stand sie auf. Sie musste etwas unternehmen.
Eine Woche später stand sie im Zimmer eines Arztes. Sie hatte sich entschlossen, zu einem anderen Kinderarzt zu gehen. Der Vorige hatte ihr immer gesagt, dass alles in Ordnung wäre. Sie hatte ihm geglaubt. Hatte. Jetzt schaute sie zu, wie der Arzt ihren Sohn untersuchte. Er ließ ihn in seinen Armen kreisen und machte ein besorgtes Gesicht. „Er muss dringend zur Physiotherapie“ sagte er. „Wenn Andere mit 4 schon klettern können, wird er in dem Alter vielleicht erst gerade Laufen.“
Bumm. Erster Pfeil ins Mutterherz geschossen. Sorge breitete sich in Maria aus. In jeder einzelnen Ader. Es sollten noch mehr Pfeile folgen, die Marias Mutterherz verletzten. Aber das wusste sie noch nicht. Sie wusste nicht, was noch auf sie zukommen würde. Aber sie liebte dieses Kind. Es war Ihres. Und sie würde alles dafür tun, um ihm zu helfen.
Wochen später betrat sie mit Liam auf dem Arm erneut ein Arztzimmer. Den Buggy hatte sie vor der Tür im Flur stehen lassen. Das Zimmer war groß, sehr hell, mit einer grauen Decke und Krankenhauslampen. Wenn man eintrat, lief man durch einen schmalen Flur, dahinter erstreckte sich der große Untersuchungsraum. Ein Fenster am Ende des Zimmers ließ viel natürliches Licht hinein. In der hinteren linken Ecke stand ein Regal mit Spielzeug, an der rechten Wand ein Schreibtisch mit Stühlen. Davor ein Tisch mit Spielzeug. Der Arzt war groß, hatte schütteres braunes Haar und trug eine Brille. Er wirkte unnahbar, vielleicht sogar etwas abweisend. Maria erzählte dem Arzt von ihren Sorgen während Liam versuchte, sich an den Stäben eines Untersuchungstisches hochzuziehen. Er hatte in der Physiotherapie schon einiges gelernt.
Der Arzt sagte Maria etwas von einem Führerschein, es bräuchte Zeit. Er war Spezialist für verhaltensauffällige Kinder und ein Kinderarzt hatte Maria geraten, zu ihm zu gehen. Der Arzt versuchte Maria Mut zu machen. Es wird schon werden, meinte er. Sie solle in 4 Monaten nochmal vorbeikommen. Sie ging wieder und fühlte sich kein bisschen besser. Sie wusste, dass etwas mit Liam nicht stimmte, aber niemand konnte ihr sagen, was tatsächlich los war.
Sie schlug sich durch den Sommer. Versuchte, den Terminen mit Liam und gleichzeitig ihrem zweiten, ältesten Kind Michelle, ihrem Haushalt und ihrem Ehemann Simon gerecht zu werden. Ihr Mann war oft nicht zu Hause, er arbeitete viel. Maria hatte manchmal das dumpfe Gefühl, er würde ihr etwas verheimlichen. Sie konnte sich nicht erklären warum, aber irgendwas war komisch. Er kam manchmal mit so einem zufriedenen, glückseligen Lächeln auf den Lippen nach Hause und wollte nicht mit zu Abend essen. „Ne danke, ich habe schon gegessen.“ sagte er. Maria sah ihn dann stirnrunzelnd an, sagte aber nichts. Sie musste sich um die Kinder kümmern, was ihr Mann machte, wusste sie nicht. Jedenfalls nicht so genau. Sie hatte nicht die Kraft, dem Gefühl nachzugehen und machte einfach weiter.
Sie traf sich mit Freundinnen, ging ins Schwimmbad und zu ihren Eltern, die nicht weit entfernt wohnten. Sie brachte Liam bei, einen Joghurt mit dem Löffel zu essen. Sie nahm eine längliche Rolle, die sie von der Heilpädagogin Frau Weißmann bekam und schaute Liam damit in die Augen. „Guguck, hier bin ich!“
Schließlich kam der zweite Termin. Der Arzt sah besorgter aus. Er fragte Maria, ob sie wissen wolle, wer schuld war daran, dass Liam sich langsamer entwickelte als Andere Kinder. „Ich habe da einen Verdacht, das gibt es eigentlich nur bei Jungs. Wir müssten Blut abnehmen“ sagte er. Maria stimmte zu. Sie wollte es wissen.
An Marias Geburtstag ging sie mit Liam zum Arzt und ließ ihm Blut abnehmen. Es war kein schöner Geburtstag.
Es wurde Herbst. Die Blätter verfärbten sich. Wie jedes Jahr. Es wurde kalt, grau und neblig.
Und dann saß Maria mit ihrem Mann am Tisch des Arztes. Sie hatten etwas gefunden. In seinem Blut. Der Arzt zeigte Maria und Simon einen Zettel mit einer Diagnose. Diagnose Fragiles-X-Syndrom stand dort. Und noch sehr viel mehr medizinisches Kauderwelsch. Der Arzt wand sich. Versuchte, den Eltern vor sich zu erklären, was mit ihrem Sohn los war. Maria hörte etwas von einem Protein, das nicht gebildet werden konnte, sah die Zeichnungen des Arztes von irgendwelchen Zellen im Gehirn. „Wegen dem fehlenden Protein können sich die Nervenzellen des Gehirns nicht richtig miteinander verbinden. Es ist eine Lernbehinderung. Er kann nicht so schnell lernen wie andere Kinder. Seine Intelligenz wird immer vermindert sein. Ihr Sohn wird keine Gefahren einschätzen können. Er wird auf einen Schrank klettern ohne sich bewußt zu sein wie er runterkommt. Wenn er eine offene Gartentür sieht, wird er durch sie hindurchgehen, auch wenn dahinter ein Gleis liegt, auf dem gerade ein Zug fährt.“
Simon sah Maria an. Sie saß da du kämpfte mit den Tränen. Simon wusste nicht, was all das zu bedeuten hatte. Vielleicht wollte er es auch gar nicht wissen. Er fror. „Und wie soll es jetzt weitergehen?“ fragte er den Arzt. Er wollte bloß weg. „Sie müssen sich darauf einstellen, ihren Sohn in eine Sonderpädagogische Einrichtung zu geben. Dort wird er am Besten aufgehoben sein. Und recherchieren sie nicht im Internet. Dort stehen nur grauenhafte Geschichten.“ „Okay vielen Dank. Werden wir nicht machen.“ Maria nahm Simons Hand und ging mit ihm aus dem Gebäude.
Als Maria und Simon ihre Kinder abholten, sagte Simon zu ihr: „Du bist ja ganz schön tapfer. So ruhig.“ „Ja“ sagte sie. „Das bin ich.“ Sie wollte vor ihm stark sein. Sie wollte ihm gefallen, dabei hatte sie ihn längst verloren, ohne es zu wissen. Er sprach mit ihr nicht über seine Ängste, seine Hoffnungen, seine tiefsten Gedanken. Dafür hatte er längst eine stärkere, liebevollere Frau gefunden die ihm zuhörte und ihn verstand. Simon sagte Maria nichts davon. Sie trafen sich heimlich.
Als Maria am nächsten Tag wieder allein war, recherchierte sie doch im Internet. Was sie dort fand, schockierte sie. Es war die zweithäufigste Ursache für eine geistige Behinderung. Ein Gendefekt. Er würde wahrscheinlich Sprachstörungen haben. Auf jeden Fall würde er sein Leben lang behindert sein. Wie sollte sie das schaffen?
Ein Jahr lang brauchte sie, um dem Tief in ihrem Innern zu entkommen. In dieser Zeit wurde sie immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt und sie fragte sich verzweifelt warum gerade sie so ein Leid erleben musste. Warum sie so bestraft wurde. Simon nahm sie in den Arm und versuchte sie zu trösten. Aber er kam nicht an sie ran. Er konnte sie nicht trösten.
Als der Sommer des nächsten Jahres vorüber war, schöpfte sie neue Hoffnung. Liam machte Fortschritte und sie sah ein Licht am Ende des Tunnels.
An einem schönen, warmen Herbsttag ging sie mit ihren Kindern auf die Geburtstagsfeier einer Freundin. Sie fuhr mit dem Fahrrad und einem Anhänger für die Kinder, die gut angegurtet in dem Anhänger saßen. Sie atmete die klare Herbstluft und als sie ankam, fühlte sie sich gestärkt.
Durch die Wohnung der Freundin, die gleich alt wie Maria wurde, zog sich ein langer Flur mit weißen Bodenfliesen und Steinmustern an der Wand. Rechts des Flures ging es in ein großes helles Wohnzimmer. Links in das Bad und in die Küche. Daneben das Kinderzimmer und am Ende das Schlafzimmer der Eltern. Maria begrüßte ihre Freundin, überreichte ein Geschenk und plauderte fröhlich und unbefangen mit den Gästen. Es war laut und Maria fühlte sich voller Leben. Der Flur zog sich durch die ganze Wohnung. Rechts des Flures war das große Wohnzimmer, es waren einige Gäste gekommen. Maria sah ihren Sohn am Ende des Flurs stehen. Sie lächelte. Der kleine Junge lief auf sie zu. Langsam und unsicher, aber voller Kraft und festem Willen. Er lief auf Maria zu und wurde von ihren Armen gehalten.
Alles wird gut, dachte Maria. Alles wird gut.