Mitglied
- Beitritt
- 26.07.2002
- Beiträge
- 122
Maria und August
Da stehen jetzt überall Häuser.
Neue.
Wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die Idee als Myzel der Kellergewölbe schon lange im Boden verwoben.
Schade um die saftigen Wiesen aus deren Entwässerungsgräben wir kleine Polypen fischten und wie die Quappen im Frühjahr in Weckgläsern zogen.
Trotz des Hanges winzige Lehmgruben an den Grabenrändern. Ausgespült. Die Erde in grauen und ockerfarbenen Schichten unter der Sode aus Schachtelhalm und Sumpfknöterich.
Wir hatten ganz gelbe Hände am Abend. Formten den tonigen Lehm zu Gefäßen die auf den Simsen der Terrasse den Sommer über trocknen durfte.
Kelche, Schüsseln und Becher.
Die sonnigen Monate in ihnen gesammelt.
Den Flug der Schmetterlinge, der Hummeln und Mücken.
Den Duft der brachliegenden Wiese, des feuchten Lehms und der trockenen Schotterwege.
Da tragen die Asphaltbänder jetzt Namen.
Zweigen sich ab, weit unten schon.
An der Bahnlinie.
Homscheidstraße .
Alte Fotos hängen in Köln.
Vergilbt, Abzüge auf dickem Karton.
„Antlitz der Zeit“ heißen seine Mappen.
Durchnummeriert.
Häuser, Menschen, Landschaft.
Auf wenigen Bildern erkenne ich die Wiesen wieder. Größer noch, verlaufen sich in Gartenland mit Obstbäumen und hell verputzten Häusern.
Hier hängen seine Bilder.
Vor Jahrzehnten verboten.
Ein Anschauen geächtet. Als das „Auge der Welt“, die Kamera, nur den bewilligt hieß, der rechter Meinung war.
Er nicht.
Entartet, ein Bild von einer Landschaft, solch ein Quatsch.
Verboten. Genau wie Marias Gedichte und Balladen. Damals, als das Denken schlechthin unerlaubt war.
In der Grundschule haben wir Reime von ihr gelesen.
... Über die Halde zur Mitternacht
geistern die Blassen, die man gebracht,
Tot aus dem schwarzen Grubenschacht
Heimatkunde, vorne der grünberockte Lehrer mit den „Erzfunken“ in der Hand.
Hinten an der Wand, an diesen wackeligen Ständern, die Karte mit den Höhen und Tiefen des Westerwaldes.
Maria lässt mich denken. Ihre Worte klingen nach. Im Wald, auf den Höhen noch Spuren.
Maschinenhäuser, verschlossene Schächte.
Und die Halden, die dem Kennerauge Glanz schenken. Blinkende Stufen.
Auf dem Weg zum Einkaufen schlendere ich an ihrem Haus vorbei. Ein spitzer Eisenzaun rahmt die Beete unter dem alten Baum ein.
Salomonssiegel blüht dort, zaghaft fast im Halbdunkel.
Wegweiser nennen die Alten das Gewächs. Er weißt uns den Weg zu den verborgenden Schätzen im Berg. Dem blanken Erz zwischen den Fels. Dem Reichtum der Steine. Dem Blut und Schweiß der Vorväter und Ahnen.
In Köln, in dem hellen Ausstellungssaal, muss ich an Maria denken.
Maria auf Wegen zu den Grubenfeldern.
Vorbei an den Rändern der Wiesen?
Bilder von der kleinen Stadt sind darunter.
Von Maschinenhäusern und Fördertürmen.
Von Menschen.
„Die Mutter des Künstlers“ steht auf dem Schild unter einem Foto.
Muss schon wieder soviel nachdenken.
Das Bild so traurig. In welchem Buch blättert die alte Frau?
Ihre Hände ganz knittrig.
Ob er Marias Texte las?
Ob sie Sanders Bilder sah?
Darüber steht nichts in den Büchern. Ich finde keinen Hinweis. Auch nicht, als ich mich befrage. Die wenigsten kennen die Beiden. Zumindest die Menschen meiner Generation.
An einem Regentag fahre ich die Strassen und Wege nochmals ab.
Häuser bis fast an den Wald.
Hier sind wir früher Ski gefahren.
Keine Spur mehr von den Gräben im Bauerschließungsland.
Irgendwo hier muss er seine Kamera in Position gebracht haben.
Für das Foto, welches ich in Köln sah.
Und ihre Texte, hier unter diesem Himmel sind sie ihr eingefallen.
In diesem Ort, wo ich das Schreiben lernte.
Und ihre Worte hörte.
Vorne, vom Pult, da wo der grünberockte Lehrer stand.
Die alte Schule finde ich schon nicht mehr.
@merlinwolf 2003