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Maria finden

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21.06.2001
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Maria finden

Thomas rutschte auf seinen Knien, richtete sich auf, ohne auch nur einen Moment inne zu halten. Maria, rief er in die Nacht hinein, und die Nacht schwieg zurück. Er lief weiter, sein Oberkörper weit nach vorne gebeugt, als wolle er gleich wieder fallen. Plötzlich war da hohes Gras, und hohes Gras, das passte nicht. Maria, rief er. Atemlos schob er die Halme zur Seite. Etwas wie ein leises Winseln drang aus seiner Kehle. Er war hier ganz falsch, hier konnte sie nicht sein, sagte die Stimme in seinem Kopf, die ebenfalls zu weinen schien. Hohes Gras, das stimmte nicht, da war kein Gras gewesen. Er blieb kurz stehen, drehte sich um, wollte wieder zurück, musste wieder zurück, aber auf einmal war da nur Dunkelheit, kein oben, kein unten. Er fühlte seinen Körper nach hinten fallen und seinen Rücken auf dem Boden aufschlagen. Das Gras war feucht. Mariia, rief er.
Ein seltsamer gelber Streifen leuchtete in der Dunkelheit. Er hatte so wenig Zeit. Er richtete sich wieder auf, kroch die ersten paar Meter auf allen Vieren, den ganzen Weg hinaus aus dem hohen Gras. Erst dann stand er wieder auf. Der gelbe Streifen leuchtete von schräg oben auf ihn hinab. Mariiia, rief er. Seine Füße trugen ihn zu dem dunklen Schatten vor ihm. Hinter dem Strauch würde sie sein. Er kannte sie doch. Es war dunkel dort, überall war es dunkel, aber dort schien es noch dunkler zu sein. Er fiel auf die Knie und begann mit seinen Händen zu tasten. Hier war auch Gras, es war auch feucht, aber kürzer. Hier musste er sie finden. Er durfte sie nicht übersehen, und plötzlich hatte er panische Angst, sie bereits übersehen zu haben. Der gelbe Streifen war jetzt rechts neben ihm. Aber er fühlte nur das Gras und die Nässe an seinen Händen. Leise schluchzend stand er wieder auf. Mariiia, rief er. Er taumelte weiter, und als er an der Böschung ankam, kroch er hinauf. Von links kam dieses grelle Licht auf ihn zu, und als er sich ihm zuwandte, starrte er in zwei große leuchtende Augen. Er lief auf das Licht zu.

Das Auto hielt einige Meter vor ihm am Straßenrand. Ein junger Mann stieg aus und rannte auf ihn zu, und erst als er vor ihm stand, fiel Thomas auf, dass es Jürgen war. Das war gut, Jürgen würde ihm helfen, Jürgen war ein echter Freund.
„Hey, was ist los mit dir?“
Jürgen fasste ihn an der Schulter und schüttelte ihn, was Thomas seltsam fand.
„Ich kann Maria nicht finden. Sie hat sich versteckt. Irgendwo da unten ...“
Thomas deutete mit seiner rechten Hand dorthin, von wo er gekommen war, mit der linken wischte er sich das Rotz von der Nase, um kurz darauf zu erkennen, dass es eigentlich Blut war, was da aus seiner Nase floss. Jürgen sah kurz in die Richtung, die Thomas ihm angezeigt hatte, und eine sonderbare Hektik erfasste ihn. Er lief zurück zum Auto, zur Beifahrertür, sprach irgendwas durch das geöffnete Fenster, und kurz darauf stieg Kerstin, seine Freundin aus. Sie hatte ihr Handy am Ohr und sprach mit irgendwem. Jürgen lief an ihm vorbei und sprintete die Böschung hinunter. Er würde sie sicher finden. Jetzt wo sie Licht hatten, konnte es nicht mehr so schwer sein.
Thomas setzte sich auf die Straße, hinein in den hellen Strahl der Scheinwerfer. Sie war sicher hinter einem Baum, oder hinter einem Strauch, der von vorhin war einfach der Falsche gewesen. Auf jeden Fall war sie nicht im hohen Gras, soviel stand fest.
Irgendwann später saß Kerstin neben ihm, sagte ihm, dass der Rettungswagen gleich hier sein würde, und dass wahrscheinlich alles nicht so schlimm sei. Er hatte keine Ahnung, was sie da redete. Maria versteckte sich immer. Manchmal, wenn sie im Wald spazieren gingen, lief sie lachend vor ihm davon, versteckte sich hinter Bäumen und rief ständig: „Du findest mich nicht.“ Und er lief lachend hinterher, und hatte sie jedes Mal wieder gefunden.
Kerstin saß die ganze Zeit neben ihm, sagte nichts und Thomas fragte sich, ob Jürgen Maria vielleicht schon gefunden hatte. Aber er wollte nicht aufstehen, Jürgen konnte das wahrscheinlich viel besser, und er wollte ihn nicht stören.
Als das Feuerwehrauto und der Rettungswagen beinahe gleichzeitig ankamen, stand Kerstin auf und ging auf die seltsamen Menschen mit ihren seltsamen Uniformen zu, die plötzlich die Straße zu bevölkern begannen. Und alle schienen so verdammt nervös. . Einer nach dem anderen rannte die Böschung hinunter. Zusammen würden sie Maria bestimmt finden.
Kerstin kam wieder zurück, mit einem Mann aus dem Rettungswagen an ihrer Seite, der tausend Fragen stellte. Thomas antwortete immer wieder mit Ja und Nein und hatte keine Ahnung, was er gefragt wurde. Der gelbe Streifen stand dabei die ganze Zeit über der linken Schulter des Mannes und leuchtete vor sich hin. Nach der Fragerei begann der Mann mit einem sonderbaren kleinen Ding in seinem Gesicht herumzuleuchten. Kerstin stand wortlos daneben, sagte nichts, und Thomas fragte sich, warum sie so wenig sprach. Irgendwann später drückte der Mann sanft gegen seine Schulter, und sagte etwas von ‚auf den Rücken legen’. Aber Thomas blieb sitzen, streckte seinen Arm aus und zeigt mit dem Finger in den Himmel.
„Seht ihr den gelben Streifen da?“ fragte er mit großen Augen. „Der war vorhin auch schon da. Er leuchtet, aber viel zu schwach. Deswegen konnte ich Maria nicht finden.“
Kerstin sah in den Himmel, auf die schmale, gelbe Sichel des Mondes. Als sie sich dann neben ihn kniete, schienen Tränen in ihren Augen zu sein, und Thomas wunderte sich.
„Sie hat sich versteckt“, sagte er zu Kerstin.
„Ja, bestimmt hat sie sich nur versteckt“, antwortete sie und versuchte zu lächeln.

Jürgen hatte Maria zwanzig Meter vom Autowrack entfernt entdeckt, neben einem Haselnussstrauch. Mit ziemlicher Sicherheit war sie aus dem Auto dorthin geschleudert worden, denn selbst wenn sie nach dem Unfall noch gelebt hatte, wäre es ihr aufgrund der Verletzungen unmöglich gewesen, sich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren.
Oben auf der Straße lag Thomas auf dem Rücken und schämte sich ein bisschen, dass wegen ihrer kindischen Versteckspielchen jetzt so viele Menschen um ihren Schlaf gebracht wurden, nur um ihm suchen zu helfen.

 

Hallo Martin,

bin erst jetzt auf deine Geschichte gestoßen und muss sagen: Gott sei Dank. Ich habe tatsächlich bis zum Ende nicht wirklich gewußt, was kommen würde. Die Geschichte eines Autounfalls aus einer ganz speziellen Sicht. Wie du das Kriechen von Thomas auf der Suche nach Maria im Gras beschreibst, das ist schon sehr gekonnt gemacht. Mir gefällt die Wahl der Worte und das Stimmungsbild, das du damit aufbaust.
Kurzum: Tolle Geschichte.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hallo Martin,

zuerst erschien es mir, als wenn die Story - nur ein ganz klein wenig - holpert, aber mit jedem neuen Satz erklärt es sich; Du hast die Verwirrung gut beschrieben, gibst einem die Möglichkeit, das Geschehen "nachzudenken". Das anscheinend irrationale Verhalten vermag der nachzuemfinden, der sich schon einmal in ähnlicher Position befunden hat.

Die Story habe ich wie einen Wein empfunden: im Rachen schmeckt sie anders als am Gaumen.

Mit einem fröhlichen Gruß
Hannes

 

Hallo Martin,

die Geschichte hat mich wirklich mitgenommen. Anfangs hatte ich mir bereits gedacht das es sich um einen Unfall handeln könnte, aber das er mit einem Todesfall endet...
Schön geschrieben, bewegender Inhalt.

Gruß
waldi7

 

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