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Marc und Jack
Mein Name ist Marc. Ich habe mich schon oft gefragt weshalb meine Eltern mich so genannt haben, denn besonders spannend ist mein Leben nicht. Ein Günther würde zu mir passen, oder Heinrich, denn um ganz ehrlich zu sein, mein Leben ist eigentlich sogar noch schlimmer als unspannend, es ist schlichtweg langweilig, öde, einseitig und absolut nicht erwähnenswert. Vielleicht aber sollte ich besser sagen, es war so. Ich bin heute 28 Jahre alt und seit vier Jahren weiss ich von meiner Schizophrenie. Vor fünf Jahren traf ich das erste mal auf Jack. Damals dachte ich noch er sei ein echter Mensch, der irgendwie Zugang zu meiner Seele erhalten hat, vielleicht aber redete ich mir das auch nur ein. Wie auch immer, seit Jack da ist geht es mir besser, anderen Leuten hingegen geht es seitdem sehr viel schlechter. Einige von ihnen leben heute nicht mehr, oder sie sind in solch schlechter physischer Verfassung, dass sie sich wünschen nicht mehr am Leben zu sein. Diese Nebenwirkung meiner Krankheit ist das eigentliche Problem. Wissen sie, es ist nicht so als das Jack einfach erscheinen würde und mein natürliches Ich für einen gewissen Zeitraum sozusagen ausschaltet. Wenn er kommt dann ändert sich meine Stimmung, ich weiss dann dass ich Jack bin, ohne dabei mein Bewusstsein als Marc zu verlieren. Mein Denken geht dann plötzlich in eine andere Richtung und alles was ich mache, tue ich sowohl als Jack als auch als Marc. Wir agieren niemals getrennt voneinander. Übrigens, während ich dies hier schreibe ist Jack gerade nicht da, er kommt immer erst dann wenn ich nicht weiter weiss, oder wenn ich mich über eine Sache aufrege. In letzter Zeit rege ich mich sehr häufig über Dinge auf, weil ich will das Jack kommt. Man kann sogar behaupten, dass ich ein richtiger Meister darin geworden bin, spontan wütend zu werden. Mit der Zeit lernst du deinen Gemütszustand zu steuern, insofern habe ich hierdurch auch eine Möglichkeit gefunden ihn herbeizurufen, wann immer ich will. Des Rätsels Lösung ist ganz einfach nur Aggressivität. Früher habe ich mich aufgeregt, wenn mich mein Chef auf der Arbeit kritisiert hat. Später wurde ich dann schon furchtbar sauer, wenn ich ganz knapp die Bahn verpasst habe, oder wenn mich einer im Supermarkt gefragt hat, ob er an der Kasse vor mich könne, weil er nur zwei Teile habe. Richtig aus der Fassung hat es mich auch immer gebracht, wenn kleine Kinder nicht den nötigen Respekt vor Erwachsenen zollen können, oder wenn es älteren Menschen scheinbar nicht nur scheissegal ist, dass die Ampel rot ist, sondern sie sogar noch dermaßen quer über die Strasse kriechen, dass ihr ohnehin schon langsames Tempo noch durch einen doppelt so weiten Laufweg zur Ewigkeit mutiert. Ich explodierte wenn diese ganzen, auf Eigentum bedachten Jugendlichen in ihren scheiss Runterrutschhosen und auf ihren verkackten Holzbrettern die Treppen und Geländer unserer Stadt zerstörten, die ich von meinen Steuergeldern bezahlt habe. Aber heute, heute lass ich mich nicht mehr von solchen Kleinigkeiten aus der Fassung bringen. Ich will nicht das Jack nur für wenige Sekunden erscheint, um mein gegenwärtiges Problem zu lösen. Ich möchte vielmehr das Jack ständig da ist, daher brauche ich wirklich weitreichende Probleme in meinem Kopf. Es genügt nicht mehr kurzfristige Wut für eine Person zu empfinden, ich muss imstande sein langfristig möglichst viele Menschen zu hassen. Das kann ich aber nur erreichen wenn ich Marc bin. Dann habe ich die Möglichkeit sehr viele negative Erfahrungen über Kleingeister wie die Putzfrau in meiner Firma, den eigenen Nachbarn und meine Kollegen zu sammeln. Es braucht eine gewisse Zeit, ich nehme alles in mich auf, jede aus Faulheit nicht gewischte Ecke, jede geklaute Zeitung und das viel zu spät geputzte Treppenhaus, jede sarkastische Bemerkung. Es ist die Wiederholung die in all diesen Ereignissen sitzt, der Teufel der im Detail steckt. Jeden Tag empfinde ich tiefere Abscheu, jede Woche freue ich mich mehr auf Jack. Nach einer Zeit bin ich glücklich morgens die Putzfrau zu sehen, ich kann es kaum erwarten meine Kollegen zu treffen und ja, mittlerweile grüße ich sogar völlig ernst gemeint meinen Nachbarn. Das alles tue ich natürlich bloß in Kooperation mit Jack, der inzwischen so oft da ist, dass ich ihn wieder als ständigen Begleiter durch meine Welt der Verachtung bezeichnen kann. Ich will diese Welt nicht verlieren, wie es schoneinmal geschehen ist. Ich will Jack nicht erneut vermissen müssen. Er darf diese Menschen nicht auch noch umbringen, dafür hasse ich ihn mittlerweile. Er möchte doch mein bester Freund sein, weshalb hat er dann meine verfluchten Eltern getötet, meinen verfickten drecks Onkel verstümmelt? Wir haben uns danach so lange Zeit immer nur sporadisch gesehen. Ich habe mir das alles mühsam aufgebaut in den letzten Monaten, Jack wird mir das nicht wieder kaputt machen. Er ist auch nicht immer perfekt, er lässt zum Beispiel ständig seine nur halb ausgedrückten Kippen im Aschenbecher liegen, schlimm genug das ich ihn überhaupt rauchen lasse. Außerdem schläft er immer in seinen Klamotten und er rotzt auf die Strasse. Er ist ein asozialer, ich bin mir schon seit langem im klaren darüber, aber ich liebe es wie er meinen Kollegen in den Kaffee pisst, wie er der Putzfrau Polenwitze erzählt und ich vergöttere ihn dafür, dass er meinen Nachbarn die Treppe runtergestoßen hat. Aber bitte Jack, bringe diese Menschen nicht auch noch um! Es wird schwer sein wieder bei null anzufangen, vielleicht unmöglich, weil du dann fast nie mehr da bist. Aber ich werde dich vermissen, durch dich bin ich erst groß geworden. Eventuell aber lerne ich durch den Neuanfang auch mich zu zügeln, unauffällig zu bleiben. Dann brauchen sich meine Gefühle nicht mehr zu stauen, dann bin ich endlich Mensch. Während ich dies hier schreibe ist Marc diese verklemmte Heulsuse übrigens nicht anwesend. Wir aggieren jetzt unabhängig voneinander.