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Maois Geschichte
Der Mann an der Theke hatte seinen Blick nach innen gekehrt. Das Bier vor ihm war kaum angerührt und seine Zigarette verglühte vergessen im Aschenbecher. Ein schweigsamer Mann war in dieser Bar, die eine Zuflucht für Außenseiter war, keine Seltenheit. Die Menschen, die den Weg in diese Bar fanden, dachten mehr als das sie redeten, ignorierten die Hektik der Stadt so gut sie konnten und lebten in der Fülle ihrer inneren Bilder. Auch der Mann an der Theke schien von dem, was hinter seiner Stirn vor sich ging, voll und ganz in Beschlag genommen zu sein. Er schien das letzte Tau des Kontaktes zur restlichen Welt gekappt zu haben, um sich einzig dem Sturm in seinem Inneren anzuvertrauen. Nur die sanfte Klaviermusik, die in dem halbdunklen Raum lag und sich mit den leisen Gesprächen mischte, erreichte ihn. Seine Finger bewegten sich über die Theke und spielten die Akkorde und Melodien auf dem Holz mit. Auf seinem Gesicht begegneten sich ein Kind und ein alter Mann und ich schätzte, dass er in seinen Zwanzigern war. Die schwarzen Haare fielen ihm in die Stirn und auf seinem Gesicht lag ein selbstvergessenes Lächeln. Ich entschied mich dazu, ihn anzusprechen. Möglicherweise konnte ich ein Geschäft einfädeln.
Ich setzte mich neben den Mann an die Theke und griff nach seiner halb heruntergebrannten Zigarette. Er sah mich an, während ich einen tiefen Zug nahm. Ich sah mein Spiegelbild in den Pupillen seiner großen Augen.
"Ein schöner Ort zum Träumen, mit genug Alkohol in Griffweite". Mein Spiegelbild in seinen Augen lächelte mich an.
"Ich träume gar nicht", sagte der Mann wie aus weiter Ferne. "Tatsächlich durchschaue ich die Dinge gerade sehr klar. Möglicherweise bin ich zum ersten Mal im Leben wirklich wach."
"Ja das Gefühl habe ich auch dann und wann." Ich spielte mit dem Rauch der Zigarette und registrierte vergnügt, dass ich offenbar sein Interesse geweckt hatte.
"Wirklich? Wie äußert sich dieses Gefühl bei dir?"
Ich dachte eine Weile nach. Man sagte mir nach, dass ich gut mit Worten wäre und vielleicht stimmte das auch, doch gab es so viele von ihnen, dass die Auswahl schwerfiel.
"In einer magischen Zeit, lange vor den ersten Städten, kannte ich einen Schamanen. Er führte mich im Fackelschein durch das Labyrinth einer Tropfsteinhöhle, in das Innere der Erde. Das Spiel der Schatten an den Felswänden ist meine erste Erinnerung." Ich spürte einen Stich der Sehnsucht an eine tausende Jahre alte Welt, in der ich meine Kindheit verbrachte und von der ich sicher gewesen war, dass sie niemals untergehen würde. "Er konnte aus den Kristallen, die an den Wänden wuchsen, die Zukunft vorhersagen und er sagte mir, dass ich niemals sterben werde. Das sich in den Kristallen brechende Licht des Feuers, so schön, dass man zu träumen glaubt, ist mein Gefühl des wirklich Wachseins. Übrigens, ich bin Prometheus."
"Du bist offensichtlich verrückt, Prometheus. Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen. Ich bin Maoi." Wir schüttelten uns die Hände und für einen Moment flimmerten die Freuden, Wünsche und Schmerzen, die Maois Leben ausmachten, vor mir in der Luft. "Also, was hat dir der Schamane noch über deine Zukunft erzählt?"
"Er sagte, es sei meine Aufgabe die Geschichten der Menschen zu sammeln und durch die Zeit zu tragen."
"Da du ja nicht stirbst, verstehe."
"Ja, da ich ja nicht sterbe. Das Streben, so viele Geschichten von so vielen Menschen wie möglich zu hören, füllt meine Jahrtausende. Es wäre mir eine Ehre, wenn du eine Geschichte mit mir teilst, Maoi. Und ich zahle sogar." Ich holte eine kleine, goldglänzende Schatulle aus meiner Manteltasche, stellte sie auf den Tresen und Strich mit den Fingern über die filigranen Gravuren. "Dieses Artefakt ist eine nie versiegende Quelle des Goldes. Egal wie viel Goldstücke man ihr entnimmt, sie wird nie leerer. Ich habe sie den Göttern des Olymps gestohlen. Das macht mich zum reichsten Menschen auf der Erde. Nur der Fährmann der Unterwelt besitzt ähnlichen Reichtum. Aber dem werde ich, wie du ja weißt, nie begegnen."
"Sie ist wunderschön", sagte Maoi. "Und sie ist voller Gold?"
"Öffne sie ruhig", sagte ich. Maoi löste vorsichtig die Verschlüsse und ich bemerkte zufrieden, dass sich die Schatulle nicht sofort wieder verschloss und Maoi somit, worüber ich mir vorher schon sicher gewesen war, ein gutes Herz besaß. Maois erstauntes Gesicht beim Anblick der Goldstücke brachte mich zum Lächeln.
"Nimm dir ein paar", ermutigte ich ihn. Maoi nahm ein paar der goldenen Münzen mit den Prägungen griechischer Helden aus der Schatulle, woraufhin der Zauber in ihr wirkte und sich die übriggebliebenen Goldstücke wieder vermehrten. Maoi schwieg eine Weile, den Blick auf die Schatulle gerichtet, dann sah er mich an.
"Dafür erzähle ich dir gerne eine Geschichte."
"Als Kind lebte ich mit meinen Eltern und meinen Geschwistern in einem Haus am Rand der Stadt, dort, wo die Wüste beginnt. Eigentlich war es ein Trailer, doch ich nannte ihn unser Haus. An einem Abend, es war der Geburtstag meiner Schwester, machten wir ein Lagerfeuer unter den Sternen. Ich war mir sicher, dass das Feuer die Geister, die nachts durch die Wüste strichen, anlocken würde. Während meine Geschwister schon in den Armen meiner Eltern schliefen, hielt ich meine Augen offen, um die Geister zu sehen und vielleicht ein paar von ihnen zu fangen. Säbelzahntiger und Krokodile beobachteten uns aus der Dunkelheit und im Weltall schlängelte sich ein blaugefiederter Drache mit perlmuttfarbenem Panzer zwischen den Sternen hindurch. All das erschien mir damals vertraut. Erst mit dem Älterwerden zweifelte ich an meinen damaligen Wahrnehmungen. Ich dachte mir, dass es so etwas nicht gab und lediglich die Nacht meiner Fantasie die buntesten Bildern entlockt hatte. Als ich Erwachsen war, vergaß ich vieles und nur meine Träume bewahrten meine Erinnerungen. Heute war einer dieser Abende, an denen ich die verstaubte Wendeltreppe zu meinem Unterbewusstsein hinabsteige, um dort die versteinerten Wesen meiner Fantasie zu treffen und ein paar von ihnen aufzuwecken."
Maoi blickte mit seinem leichten Lächeln in die Ferne. "Das war meine Geschichte für dich, Prometheus. Bewahre sie gut."
Es war tiefe Nacht und ich ging durch die menschenleeren Straßen der Stadt. Ich dachte an Maois Geschichte und an mein Versprechen an ihn, diese niemals zu vergessen. Ich hatte es ihm nicht gesagt, doch er erinnerte mich an Leonardo Da Vinci. Ich ging weiter, zu neuen Orten und neuen Menschen, den nie endenden Strom der Zeit hinab. Dabei summte ich leise ein Lied aus meiner Kindheit und fühlte mich unendlich beschenkt.