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- 02.09.2015
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Manon und der Jäger der Sonne
Es war eine ungewöhnlich kalte Sommernacht in Toulouse. Die Garonne glitzerte im Vollmondlicht und schlug leichte Wellen. Manon stand auf der Pont Neuf und blickte über das Wasser zum Riesenrad, von welchem in der Dunkelheit nur die Konturen erkennbar waren. Irgendwo schlug eine Glocke Mitternacht. Es war spät geworden.
Manon hatte erst seit zwei Wochen diesen Job in dem Bistro. Sie hatte eigentlich um die Morgenschicht gebeten, doch dieses Mal hatte sie nicht nein dazu sagen können, eine Krankheitsvertretung zu übernehmen. Manon fragte sich, wie lange es dauern würde bis man sie hier fände oder besser gesagt witterte. Sie seufzte. Toulouse gefiel ihr und sie wünschte sich, dass sie irgendwann irgendwo ein echtes zu Hause hätte. Sie nicht von einem Ort zum anderen ziehen müsste.
Ein Ruck ging durch Manon. Sie musste gehen. Es war nicht mehr weit bis zu ihrer kleinen Wohnung und sie sollte sich beeilen. Bis auf das Mondlicht und die Straßenlaternen war es dunkel in der Stadt und über der Garonne bildeten sich Nebelschwaden. Ideale Bedingungen, dachte Manon und griff in ihre schwarze Umhängetasche. Sie zog einen Holzpflock hervor. Er war aus Eiche geschnitzt und seine Spitze mit einem Metallaufsatz verstärkt. Es war ein besonders schönes Stück, das sie auf einem Flohmarkt in Marseille erstanden hatte. Vorsichtig schob sie den Pflock unter ihre graue Strickjacke in die Hosentasche, so dass das obere Ende griffbereit herausschaute. Sicher war sicher.
Manon verließ die Pont Neuf in Richtung des alten Schlachthofs, in dessen Nähe sie vorübergehend eine Bleibe gefunden hatte. Es war nicht die beste Gegend von Toulouse, aber sie konnte sich die Zweizimmerwohnung so gerade eben leisten.
Ihr Herz schlug bis zum Hals, während sie den dunklen Straßen folgte. Der alte Schlachthof war hinter den Gittern nur schemenhaft zu erkennen. Ein unheimliches Gebäude aus rotem Backstein, welches ein zweites Leben als Museum für moderne Kunst fristete. Manon schluckte und verdrängte die Erinnerungen an ihre Kindheit und den Schlachthof, auf welchem sie aufgewachsen war. Der Mann, den sie Vater nannte, hatte eine perfide Art von Pragmatismus in der Wahl der Wohnsitze gehabt.
Ihre Blicke musterten beim Vorbeigehen die Ecken und Kanten des Gebäudes.
Dort! Sie blieb stehen. Zwischen den Winkeln bewegte sich etwas. Manon hielt den Atem an und schlich langsam an den Gittern entlang. Wenn es ein Vampir wäre, würde ihn dieser lächerliche Zaun nicht aufhalten und ihr Blut war meilenweit zu riechen. Es war süß und warm, nicht so metallisch wie reines Menschenblut. Sie musterte das Gebäude. Vielleicht hatte sie sich getäuscht, aber in ihrem Magen war ein komisches Gefühl. Ihre Hand umklammerte den Pflock in ihrer Hosentasche. Und dann sah sie ihn wieder. Den Schatten, der leicht gebeugt an der Wand entlang schlich. Ein Streuner, dachte Manon. Vampire, die ohne Meister aufwuchsen und wie Besessene töteten. Sie zog den Pflock hervor und hielt ihn in Brusthöhe in der Hand, während sie sich langsam fortbewegte. Der Schatten war schneller. Rasch kam er näher und für einen Moment sah sie am Zaungitter seine geifernde Fratze. Ihr Körper spannte sich an, als sie die Krallen sah. Sie sprang vom Zaun zurück, hob den Pflock, als auf einmal die Gestalt sich mit einem bestialischen Geräusch in Rauch auflöste. Manons Herz raste und sie stöhnte erschrocken. Hinter den Rauchschwaden sah sie eine Silhouette. Sie umklammerte ihre Waffe, doch dann erkannte sie die Gestalt. Es war ein Mensch. Ein junger, schwarz gekleideter Mann, der mit einer Armbrust bewaffnet hinter den Gittern stand. Manon atmete erleichtert auf.
Der Mann beäugte sie genauso kritisch wie sie ihn betrachtete. Er war schmal, aber er wirkte wendig. Manon schätzte ihn auf ca. fünf Jahre älter als sie es selbst war, also ungefähr Mitte zwanzig.
»Salut.« Er brach die Stille.
»Hej«, antwortete Manon schüchtern und misstrauisch zu gleich.
»Es ist gefährlich hier bei Nacht«, sagte der Mann, »aber das scheinst du zu wissen.« Sein Blick fiel auf den Pflock, den Manon immer noch vor ihrer Brust hielt. Sie entspannte sich.
»Ja«, antwortete sie knapp.
Der Mann schulterte seine Armbrust, trat zwei Schritte zurück, nahm Anlauf, schwang sich über den Zaun und stand wenige Sekunden später direkt vor ihr. Manon wich zurück.
»Keine Sorge.« Er lachte. »Ich tue dir nichts. Ich bin Gaston.«
»Manon.«
»Der hatte ein Auge auf dich geworfen.« Gaston schaute zurück auf das Häufchen Asche hinter dem Zaun.
»Ich weiß.«
»Du hattest schon öfters mit Vampiren zu tun. Der Pflock da. Der ist cool. Achtzehntes Jahrhundert?«
»Keine Ahnung.« Manon steckte den Pflock zurück in ihre Hosentasche. »Flohmarkt.«
Gaston lachte kurz auf, doch dann wurde sein Blick ernst.
»Hier ist ein Nest.«
»Streuner?«
»Ja.«
»Wieviele?«
»So zwei Dutzend. Sie verstecken sich tagsüber in Schlupflöchern in den Brücken. Bei Nacht machen sie das Gebiet um die Pont Neuf unsicher. Der hier war recht weit draußen. So als hätte er etwas gesucht. Jenseits der Touristen.«
Mich, dachte Manon. Er hatte sie gesucht. Aber sie schwieg. Sie kannte diesen Gaston nicht. Es hatte ihn nicht zu interessieren, was sie war. Vor allem nicht, wenn er wirklich das war, wonach er aussah.
»Du bist ein Jäger«, stellte Manon fest.
»Ein Jäger vom Orden der Sonne«, antwortete Gaston und richtete sich die zerzausten blonden Locken, bevor er sich verneigte. »Und du? Welchem Orden gehörst du an?«
Manon schüttelte den Kopf. »Ich habe einfach viel Pech gehabt im Leben. Ich bin keine Jägerin.«
Gaston nickte. »Die Unwissenden schlafen ruhiger.«
»Ja, so mag es sein. Ich muss weiter.« Das Gespräch behagte Manon nicht. Irgendetwas an diesem Gaston gefiel ihr nicht, aber gleichzeitig konnte sie sich kaum von seinen strahlend blauen Augen lösen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur gelernt, jedem zu misstrauen, gleich ob Mensch oder Vampir. Oder eben Jäger.
»Ich gebe dir natürlich Geleitschutz«, sagte Gaston und verneigte sich abermals vor ihr. Manon schwieg, doch dann nickte sie. Bloß keinen Verdacht aufkommen lassen.
Zwei dutzend Streuner, hatte Gaston gesagt. Manon überlegte. Damit würde sie klar kommen. Sie müsste sie aufspüren, am besten am Tage, so dass es für sie kein Entkommen aus ihren Verstecken gab. Es könnte ein einfaches Spiel werden.
»Warum hast du sie nicht längst erledigt?«, fragte Manon. »Zwei Dutzend, das ist nicht viel, Wenn sie wirklich in irgendwelchen Löchern und Nischen schlafen, reicht es doch, wenn man mit einer UV-Lampe hineinstrahlt.«
Gaston lächelte. »Du bist aber tatkräftig. Dafür, dass du keine Jägerin sein willst.«
»Ich will mich nur schützen.«
»Ah, es geht dir also nur um dein Leben.«
Manon biss sich auf die Lippe. Sie sollte aufpassen mit dem, was sie sagte.
»Die Antwort ist«, fuhr Gaston fort, »ich bin selten in Toulouse. Nur auf der Durchreise. Ich habe den einen oder anderen getötet und von anderen Jägern gehört, wie der Bestand in dieser Stadt ist.«
»Es gibt hier andere Jäger?«, fragte Manon vorsichtig.
»Solche wie ich. Einmal hier und einmal da.«
Manon atmete beruhigt durch. Keine weiteren Jäger in der Stadt, jedenfalls keine, die dauerhaft hier lebten. Ein Problem weniger.
»Psst!« Gaston zog Manon in eine Ecke. Ihre Blicke glitten die Häuserwände auf der gegenüberliegenden Straßenseite hoch. Dort oben auf den Dächern war ein Schatten. Er bewegte sich langsam. Er beobachtete sie.
»Das ist kein Streuner«, flüsterte Gaston und brachte seine Armbrust in Stellung. Manon zuckte zusammen. Gaston hatte recht. Der Vampir bewegte sich zu geschmeidig und geübt, als dass er ein Streuner sein könnte. Er war kultiviert, erzogen, wie ihr Vater es immer genannt hatte. Nicht zu einem buckeligen Monster verkommen. Ihr Vater, ein fast zweitausend Jahre alter Vampirmeister.
Ein Pfeil aus Gastons Armbrust schoss in Sekundenschnelle in Richtung des Hausdaches. Der Schatten blieb kurz stehen und verschwand. Konnte das sein? Manon schluckte.
»Mist«, zischte Gaston, »verfehlt. Er wird uns folgen. Es muss ein Batman sein.«
Manon runzelte die Stirn. Sie würde nie verstehen, weshalb die Jäger alle Vampire, die keine Streuner waren als Batman bezeichneten. Die Gabe der Gestaltwandlung hatten nur sehr alte Meister.
»Wir sollten uns trennen«, sagte Manon, »er kann nur einem von uns beiden folgen.«
»Ich lasse dich doch jetzt nicht alleine, bei der Ehre der Jäger!«, rief Gaston aus.
»Ich kann schon auf mich aufpassen.« Manon lächelte und zog ihren Pflock aus der Hosentasche.
»Bist du sicher?«
»Ja!«, antwortete Manon entschlossen. »Außerdem wird er dir folgen. Wenn es kein Streuner ist, dann wird er die Konfrontation mit einem Jäger suchen und nicht mit mir. Du wärst doch eine Trophäe für ihn.«
Manon wusste, dass das nicht stimmte. Der Vampir würde ihr folgen, doch Gaston schienen ihre Worte zu beruhigen.
»Ist gut«, antwortete er, »ich locke ihn zurück zur Pont Neuf. Du wartest hier fünf Minuten und gehst dann direkt nach Hause.«
Manon nickte. Gaston entfernte sich, drehte sich noch einmal um und rief ihr zu: »Sehen wir uns morgen? Mittag? Am Place de la Daurade an der Garonne?«
»Ist in Ordnung. Ich komme.« Und wenn sie nicht käme? Würde er nach ihr suchen oder sie einfach für tot halten? Manon spürte, wie ihr heiß wurde. Warum wollte sie diesen Sonnenjäger so dringend wiedersehen?
Gaston verschwand hinter einer Häuserecke. Manons Blick wanderte die Dächer entlang. Hier irgendwo musste er sein. Doch sie fand ihn nicht. Vielleicht hatte sie sich geirrt und der Vampir folgte tatsächlich dem Jäger. Vielleicht sollte sie wirklich nach Hause gehen.
Manon bog in die nächste Straße ab, als sie plötzlich einen Windzug hinter sich spürte. Abrupt drehte sie sich um. Die Straße war leer. Ihr Blut begann zu brodeln, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Es war das Vampirblut, das ihr Vater ihr über Jahre eingeflösst hatte, damit sie eines Tages der für ihn optimale Vampir werden könnte. Schöner, stärker, schneller als jeder andere in ihrer Familie.
Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich auf die Straße. Der Vampir auf den Dächern, sie hätte schwören können, es sei einer ihrer Brüder gewesen. Aber vielleicht hatte sie sich getäuscht.
Ein Schlag traf Manon zwischen den Schulterblättern und sie sackte zusammen. Sie spürte, wie sie mit ihren Knien auf den Asphalt schlug. Sie rang kurz nach Luft, bevor sie sich instinktiv zur Seite rollte und knapp dem Vampir entkam, der zum Sprung angesetzt hatte und nun selbst auf der Straße kniete. Er schnaubte wütend.
Ein Streuner, dachte Manon. Es war doch ein Streuner! Noch bevor sie ihren Gedanken richtig zu Ende denken konnte, hatte dieser sich gefasst und stürzte erneut auf sie zu. In letzter Sekunde schaffte Manon es, ihren Pflock aus der Hosentasche zu ziehen und schützend über sich zu halten. Der Vampir reagierte dieses Mal zu spät und spießte sich im Anlauf selbst auf. Ein Ascheregen fiel auf Manon nieder und sie hustete im Qualm des sterbenden Vampirs. Ihr Blut kochte in den Adern. Zitternd stand sie auf und fragte sich, ob sie es immer schaffen oder eines Tages so ein Streuner ihr das Leben aussaugen würde. Manon griff nach ihren Pflock, der in der Asche lag und steckte ihn wieder in die Hosentasche zurück. Müde ging sie nach Hause.
Manon stand gegen Mittag des nächsten Tages im Bistro auf der Toilette vor dem Spiegel und richtete ihren geflochtenen, dunkelblonden Zopf, der ihr bis zu den Hüften ging. Ihre Gesichtsfarbe war noch rosig von den Abenteuern der Nacht. Sie sah sich noch einen Augenblick an, lächelte zufrieden und nahm ihre Tasche.
Sie hatte lange mit sich gerungen, ob sie Gaston wirklich treffen sollte. Er gehörte einem der größten Jägerorden an, dem Orden der Sonne. Die meisten Mitglieder wurden schon als Kinder auf ihre Rolle vorbereitet, die Menschheit vor den Wesen der Nacht zu beschützen. Gaston war so jung, dass es nahe lag, dass auch er bereits seit Jahren trainiert worden war. Es war daher vielleicht ein Fehler, ihn zu treffen. Ihr Vater hatte sie immer vor den Jägern gewarnt. Aber schließlich war sie noch ein Mensch. Gaston hatte gar keinen Grund, sie zu töten. Immerhin könnte sie auch für immer menschlich bleiben, wenn ihre Familie sie nicht finden und ihrer Bestimmung zuführen oder sich eben ein anderer Vampirmeister an ihr vergreifen würde. Sie hatte gelernt, auf sich aufzupassen, dachte Manon trotzig und verdrängte, wie knapp sie dem Streuner in der Nacht entkommen war. Wäre es wirklich, wie sie befürchtet hatte, ein Vampir ihres Vaters gewesen, vielleicht sogar Laurent, dem sie versprochen war! Nicht auszumalen! Manon verdrängte den Gedanken schnell und verließ das Bistro Richtung Place De La Daurade.
Manon erreichte die lebhafte Promenade am Ufer der Garonne. Am Place De La Daurade trafen sich die Jugendlichen, Studenten und Straßenmusiker. Manon fühlte sich wohl unter diesen vielen Menschen, die einfach nur die Sonne genossen und in den Tag hineinlebten. Die ein ganz normales Leben führen durften. Sie suchte Gaston. Vielleicht war er ja gar nicht gekommen.
»Manon!«
Manon drehte sich um. Da saß er! Sie hätte ihn kaum wiedererkannt. Er hatte seine Locken zu einem Zopf gebändigt und trug anstatt der schwarzen, sportlichen Kleidung bei Nacht eine kurze, abgeschnittene Jeanshose mit einem blauen, verwaschenen Shirt. Er sah gut aus. Manons Blut fing wieder leicht an zu brodeln.
»Salut!«, sagte sie schüchtern und setzte sich lächelnd zu Gaston.
»Salut, bist du gut heim gekommen?«, fragte er besorgt und drückte ihr auf jede Wange einen leichten Kuss. Manon wurde noch röter.
»Ein, ein Streuner war mir noch gefolgt. War wohl doch keiner von den, ähm, Batmen. Aber sonst war alles gut.«
»Oh, ich habe mir schon Sorgen gemacht. Ich hatte gehofft, der Vampir folgt mir, aber ich konnte niemanden mehr sehen. Ich hätte dich doch begleiten sollen.«
»Schon, gut. Der Streuer ist jetzt Qualm und Asche.«
Gaston lachte. »Wie kommt es, dass du Vampire jagst, obwohl du keine Jägerin bist?«
Manon lächelte. Er betonte das so, als würde er ihr immer noch nicht richtig glauben, dass sie keine war. Sie überlegte, was sie antworten sollte, aber im Grunde, konnte sie ihm die Wahrheit sagen. Sie müsste nur ein entscheidendes Detail weglassen. Irgendetwas in Manon wollte Gaston vertrauen.
»Meine Eltern wurden von Vampiren getötet. Da war ich sechs. Ich bin bei…« Manon zögerte. »… in einer Adoptivfamilie großgeworden.«
»Oh, das tut mir leid. Und jetzt? Studierst du in Toulouse?«
»Nein, ähm. Ich habe mich vor zwei Jahren, äh, kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag mit meinem Vater, Adoptivvater, überworfen. Ich bin, ähm, ich bin quasi weggelaufen und halte mich mit Aushilfsjobs über Wasser. Ich habe keine Schulabschluss. Meine Mutter hat mich zu Hause unterrichtet. Die Adoptivmutter. Meine Familie hat sehr altertümliche Ansichten.«
Gaston griff nach Manons Hand. Es fühlte sich gut an. Manon sah in Gastons blaue Augen. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. Sie war bestimmt für Laurent, einem recht alten Vampir. Über Manons Rücken lief ein Schauer, wenn sie an ihn dachte, den Vampir, der sie wandeln sollte.
»Das tut mir leid. Das mit dem Streit«, sagte Gaston und weckte sie aus ihren Gedanken. »Das war sicher nicht leicht für dich. Vielleicht vertragt ihr euch ja eines Tages wieder.«
»Ich glaube nicht. Wir haben uns schon ziemlich verletzt.«
»Schade. Meine Mutter ist auch tot. Sie ist an Krebs gestorben, schon mit Anfang dreißig. Ich bin bei meiner Oma und meinem Vater groß geworden. Mein Vater hat den Jägerorden in Aix geleitet. Jetzt hat er sich zurückgezogen. Ich gebe mir Mühe, in seine Fußstapfen zu treten, aber es ist nicht immer leicht, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.
Manon lächelte. »Das kenne ich.«
»Hatte dein Vater, Adoptivvater, so konkrete Vorstellungen über deine Zukunft?«
»Ja. Er wollte, dass ich…« Manon überlegte, wie sie es sagen sollte. »Heirate. Einen bestimmten Mann, der viel älter war als ich.«
»Wow, deine Eltern scheinen ja wirklich altertümliche Vorstellungen zu haben. Sie sind sehr religiös oder so?«
»Könnte man so sagen. Und du reist jetzt von einer Stadt zur nächsten?«
»Nein, nur durch Südfrankreich. Ich kontrolliere sozusagen regelmäßig die Hotspots. Nächste Woche muss ich zurück nach Aix. Eigentlich habe ich dort die Autowerkstatt meines Vaters übernommen.«
»Oh, das ist ja etwas ganz anderes.«
»Ja, wobei die Werkzeuge zum Teil gute Waffen sind.«
Manon lachte.
»Ich muss langsam zurück zum Bistro«, sagte sie und merkte, wie sie wieder rot wurde. »Wir könnten uns sehen heute Abend oder morgen hier?«
»Oh, ähm, heute Abend, da habe ich eine Verabredung mit einem aus dem Orden. Aber morgen hier? Gleiche Zeit? Gleicher Ort?«
»Ja, gerne«, antwortete Manon, obwohl sie leicht enttäuscht war, Gaston am Abend nicht zu sehen. Aber sie könnte die Zeit nutzen und nach ihrer Schicht, die Brücken inspizieren.
Am Abend war Manon dann tatsächlich an der Pont Saint-Michel unterwegs. Gaston hatte recht gehabt. Die Brücken hatten viele Schlupflöcher in denen sich Vampire verstecken konnten. Drei hatte sie gefunden und ihre UV-Lampe hineingehalten. Der aufsteigende Qualm bewies ihr, dass sie genau ins Schwarze getroffen hatte. Nun begann es langsam zu dämmern und sie sollte kein Risiko eingehen, sondern sich auf den Weg nach Hause machen. Sie wählte den Uferweg an der Garonne in Richtung der Pont Neuf. Es wurde diesig. Sie musste sich beeilen. Bei einem solchen Wetter kamen die Streuner früher aus ihren Schlupflöchern. Manon holte wieder ihren Pflock hervor und steckte ihn in ihre Hosentasche. Plötzlich vernahm sie Geräusche. Etwa hundert Meter vor ihr, unterhalb der Promenade auf einer Flussterrasse erkannte sie zwei Gestalten. Die Schatten schlugen nacheinander und der eine von beiden war sicherlich ein Streuner. Seine Bewegungen wirkten aufgrund seiner gebeugten Gestalt ungeschickt, aber seine Schläge waren hart. Die menschliche Person wankte.
Gaston, durchfuhr es Manon und sie rannte los. Die beiden Figuren verkeilten sich ineinander. Er wird ihn beißen. Manons Blut begann in ihren Ohren zu rauschen. Sie rannte so schnell sie konnte, doch musste mitansehen, wie die gekrümmte Gestalt die andere schulterte und in die Garonne warf. Manon nahm ohne zu zögern einen Satz über die Brüstung und landete im lauwarmen Fluss. Sie schwamm auf den leblosen Körper zu, der in den Wellen flußabwärts von ihr wegtrieb. Sie war eine gute Schwimmerin und schaffte es, trotz der Strömungen, nach wenigen Minuten schon nach der Person zu greifen. Sie war tot. Manon erkannte in den Nebelschwaden dunkle Haare. Es war nicht Gaston. Sie atmete erleichtert auf und zog den leblosen Körper an das andere Ufer. Sie sah sich um, doch konnte den Streuner nicht entdecken. Instinktiv griff sie nach ihrer Hosentasche. Der Pflock war weg. Sie musste ihn im Wasser verloren haben.
Manon tastete nach dem Puls des jungen Mannes vor ihr. Seine Lippen sahen blutleer im Mondlicht aus. Für ihn konnte sie nichts mehr tun. Sie drehte ihn auf den Bauch und zog an seiner Schulter sein schwarzes Hemd herunter. Dort sah sie, was sie gesucht hatte. Er hatte am rechten Schulterblatt eine schwarze Sonne tätowiert. Das Zeichen des Jägerordens. Ob dieses der Bekannte war, den Gaston treffen wollte? Aber was war mit Gaston? Manon schob den Leichnam zurück in die Garonne. Sie wollte nicht mit ihm gefunden werden oder Spuren von sich an ihm haben. Manon richtete sich zitternd auf. Die Nässe ihrer Kleider und Haare ließ sie frösteln. Sie sollte nach Hause, dachte sie entmutigt. Würde ihr Leben immer so weitergehen?
»Wer bist du wirklich?« Manon drehte sich erschrocken um, als sie die vertraute Stimme hörte. Es war Gaston. Er stand hinter ihr. Seine blonden Locken hingen ihn über die Schultern. »Hast du ihn getötet?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Du hast ihn ins Wasser gezogen.« Gaston stellte sich mit verschränkten Armen auf. Er war zornig.
»Ich habe ihn herausgezogen, aber es war zu spät. Ein Streuner hat ihn getötet und ins Wasser geworfen. War er … war er dein Freund?«
Gaston schüttelte den Kopf.
»Kein Freund, aber er gehörte zum Orden. Das weißt du ja.«
Manon sah ihn aufmerksam an. Seit wann hatte er sie beobachtet? Ihr wurde heiß.
»Welchem Orden gehörst du an?« Gastons Blick wurde härter.
»Ich gehöre keinem Orden an.«
»Wer bist du dann?«
Manon schluckte.
»Niemand«, antwortete sie. »Ich habe die Wahrheit gesagt. Meine Eltern wurden von Vampiren getötet. Ich lebe seitdem auf der Flucht vor ihnen. Sie suchen nach mir.«
Gastons Blick wurde misstrauisch. »Ich habe noch nie davon gehört, dass Vampire ihr Opfer über Jahre verfolgen.«
Ein Schlag traf Manon. Sie merkte, wie sie auf die Garonne zurollte und konnte sich noch so gerade eben abfangen. Sie spürte einen Schmerz in ihrem Kiefer und spuckte Blut. Sie konnte mit ihrer Zunge den Schneidezahn bewegen. Wie gut, dass durch das Vampirblut ihre Wunden schnell heilten. Sie riss sich zusammen und sprang mit einem Satz auf.
»Gaston!«, rief sie entsetzt und rannte auf die beiden Personen zu, die sich auf dem Boden rollten. Eine schlanke, dunkel gekleidete Gestalt mit einer Skimaske über dem Gesicht hatte sich mit Gaston verkeilt. Gaston versuchte sich zu befreien.
Manon sprang den Fremden von hinten an und zog ihn von Gaston weg. Die Gestalt erhob sich, und griff nach Manon. Sie packte sie an den Hüften und warf sie in Richtung eines Baumes, als würde sie ihr Gewicht nicht einmal spüren. Ein Vampir, schoss es Manon noch durch den Kopf. Sie landete unsanft und prallte mit dem Kopf vor den Stamm der Eiche. Für einen Moment wurde alles schwarz vor ihren Augen. Sie hörte Kampflaute und einen unmenschlichen Schrei. Dann wurde es still. Tränen und Blut vernebelten ihre Sicht. Sie hörte leichte Schritte. Jemand strich ihr über das Haar. Manons Atem wurde schneller. »Gaston?«, flüsterte sie, doch ihr wurde auf einmal schlecht. Ihr Kopf fiel zur Seite, sie würgte ihr Abendessen und Blut hervor, bevor sie endgültig zusammensackte und das Bewusstsein verlor.
Manon erwachte und schluckte den unangenehmen Geschmack in ihrem Mund herunter. Ihr Kiefer und ihr Kopf schmerzten. Sie erhob sich zitternd und humpelte zur Garonne. Gaston und der Vampir waren verschwunden. Auf dem Boden waren Blutspuren und sie fand ein paar von Gastons blonden Locken auf der Erde. Jedoch keine Asche. Manons Herz fing an zu schlagen. Ob er Vampir ihn getötet hatte? Warum hatte er sie verschont? Weinend macht sie sich auf den Weg zu ihrer kleinen Wohnung hinter dem Schlachthof. Sie setzte sich mit einer Tasse heißen Pfefferminztee auf die Couch. Tränen liefen ihr über die Wange. Sie würde nie ein normales Leben führen, sondern ewig auf der Flucht sein. Vampire töten und Menschen sterben sehen.
Es raschelte unter dem Kissen neben ihr. Manon lächelte tapfer, als die kleine Fledermaus sich zeigte. Vladi war ihr Haustier, das ihr seit einiger Zeit folgte. Sie hatte zuerst gedacht, dass sich ein Vampir hinter dem kleinen Tier versteckte, jedoch müsste es sich schon um einen sehr alten Vampir handeln, der die Macht besaß seine Gestalt zu ändern. Dafür war Vladi aber viel zu tollpatschig und zudem verschmähte er ihr Blut. Wahrscheinlich war Vladi doch nur eine einfache Fledermaus, die sich gerne bei anderen Nachtwesen aufhielt und sich nun tröstend an sie kuschelte. Manon schlief nach einer Weile schließlich mit Vladi auf dem Bauch auf der Couch ein.
Am nächsten Tag beeilte Manon sich zum Place De La Daurade zu kommen. Vielleicht hatte Gaston den Angriff doch überlebt. Aber sie wartete vergebens auf der Bank. Ihr Blut fing an zu brodeln. Tränen liefen ihr wieder über die Wangen.
Eine Kirchenuhr schlug schließlich irgendwo in der Stadt. Manon musste zurück ins Bistro. Sie passierte einen Kiosk und sah erschrocken auf die Titelseite einer Tageszeitung. Grausamer Fund! Zwei Männer ertranken in der Garonne! Manon griff zitternd nach der Zeitung und las die Zeilen weiter: Heute früh wurden zwei Leichen an der Garonne in Blagnac an das Ufer gespült. Es handelte sich um zwei Männer, ca. Mitte zwanzig, die Kampfspuren aufwiesen. Die örtliche Polizei geht davon aus, dass die beiden Männer in Streit gerieten und bei einer Prügelei in die Garonne gefallen sind, wo sie dann ertranken. Derzeit wird noch untersucht, ob die beiden unter Alkohol oder Drogen standen. Die Identität der beiden Männer ist noch nicht geklärt. Sie tragen jeweils auffällige Sonnentätowierungen auf dem rechten Schulterblatt. Der ermittelnde Staatsanwalt schließt daher eine Streitigkeit unter Bandenmitgliedern einer Rockerbande nicht aus …
Manon schob die Zeitung zurück. Mitglieder ein Rockerbande, dachte sie. Ihr fielen die Worte Gastons wieder ein: Die Unwissenden schlafen ruhiger.
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