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- 02.09.2015
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Englischsprachige Zitate aus:
A Midsummer Night's Dream
William Shakespeare
Manon und das Theater der Vampire
Sternenklare Nächte hatten etwas Magisches. Junge Pärchen lagen Arm in Arm an der Rhône, zählten die Sternschnuppen und flüsterten sich Liebesschwüre zu. Die Alten schwelgten in Erinnerungen an längst vergangene Tage. Pläne für die Zukunft wurden geschmiedet oder man schaute zurück auf ein langes Leben mit Höhen und Tiefen. Vor allem aber wuchs in sternklaren Nächten die Liebe und Zuneigung füreinander.
Jedenfalls stellte Manon sich das so vor. Sie saß auf den Stufen des Amphitheaters auf dem Hügel am Rande der Lyoner Altstadt und blickte in den Himmel. Ihre Augen suchten nach so einer Sternschnuppe. Eine ganz kleine würde ihr schon reichen. Sie müsste nur groß genug sein, ihr einen Wunsch zu erfüllen.
Sie war wieder einmal alleine in einer fremden Stadt, kurz vor einem Neuanfang, der nur allzu schnell in einer weiteren Reise enden würde. Manchmal wollte sie aufgeben. Nach dem Telefonhörer greifen und ihrem Vater erzählen, wo sie war, dass er sie holen und zu Laurent bringen sollte, so dass dieser sie endgültig in einen Vampir verwandeln könnte. Damit sie wenigstens ein Teil von Irgendetwas wäre. Es waren Nächte wie diese, in denen sie sich verlassen fühlte, nicht mehr wusste, ob diese Flucht vor ihrem Schicksal überhaupt einen Sinn ergab.
In ihrer Jackentasche raschelte es und der Kopf einer Fledermaus kam zum Vorschein. Diese riss das Maul auf, als würde sie gähnen wollen. Manon lachte und strich mit dem Zeigefinger über den flauschigen Kopf des Tierchens.
»Ach Vladi«, sagte sie zu ihm. »Du bist der Einzige, der zu mir steht.«
Die Fledermaus hüpfte auf eine Steinstufe, breitete die Flügel aus und faltete sie wieder zusammen.
»Aerobic?«, fragte Manon. Vladi folgte ihr nunmehr seit einem Jahr. Anfangs hatte sie gedacht, dass die Fledermaus ein Vampir wäre. Doch nur wirklich alte Meister entwickelten die Gabe, Tiergestalt anzunehmen. Vladi war viel zu tollpatschig und niedlich für einen solchen. »Du bist mir einer!« Manon sah ihren Begleiter liebevoll an. »Was meinst du? Werden wir heute Nacht noch eine Sternschnuppe finden?« Manon schloss die Augen. Sie wüsste zu gerne, wie es sich anfühlte, jemanden zu lieben.
Ein unmenschliches Knurren näherte sich von den oberen Stufen des Amphitheaters. Manon sprang erschrocken auf. Ihre hüftlangen Flechten wippten wild. Sie Griff nach ihrem Pflock, den sie in der Nacht stets in der Innentasche ihrer Jacke trug. Vladi flatterte hoch und kreiste über Manon, als wolle er sich ein Bild von der Lage machen, sie beschützen. Manons Atem wurde schneller. Ihr Blut begann, in ihren Adern zu brodeln. Sie spürte die Gefahr, die Spannung in der Luft. »Wo bist du?«, rief sie. »Komm raus!« Es war still. Vielleicht doch nur ein Hund? Ein Windzug strich ihr durch die Haare. Vladi war nun verschwunden oder flog so hoch, dass sie ihn nicht mehr sehen konnte. Manons Hand klammerte sich noch fester um den Pflock. Und da war es wieder. Dieses Geräusch. Ein tiefes Grummeln, das nur noch erahnen ließ, dass es aus einer einst menschlichen Kehle kam. Ein Streuner! Die Muskeln in Manons Körper spannten sich an und ihr Blut kochte fast. Sie spürte die Hitze in jeder Zelle ihres Körpers. Das war es, was ihr Vater aus ihr gemacht hatte. Ein Hybride, dessen Blut für Streuner wie süßer Sirup war. Die Gefahr ließ es heiß werden und damit nur noch um so schmackhafter für diese Monster.
Mit einem Kreischen stürzte sich etwas auf Manon. Sie spürte einen Schlag im Gesicht und die Steinstufen des Amphitheaters in ihren Rippen. Durch die Wucht des Angriffs rollte sie einige Meter die Stufen herab. Manon biss sich vor Schmerz auf die Lippen, schmeckte ihr heißes Blut, süß … Der Streuner schnaufte, stand für einen Moment wie hypnotisiert vor ihr. Manon rieb sich mit dem Handrücken das Blut ab und sprang mit einem Satz wieder auf. Ohne nachzudenken stach sie mit ihrem Pflock auf den Angreifer ein, der brüllte, ins Schwanken kam. Sie hatte sein Herz verfehlt. Sein Gesicht war eine geifernde Fratze, aus der die scharfen, spitzen Zähne hervorschauten. Mit einem geübten Tritt traf sie seine Brust, so dass der Streuner nach hinten fiel. Sie durfte keine Sekunde verlieren. Sie stürzte sich auf die Bestie, einem streunenden Vampir ohne Meister und ohne Familie, verroht von der Einsamkeit zu etwas, was nichts mehr von einem Menschen hatte. Blutrünstig und gierig nach ihr schnappte. Doch Manon hatte ihn fixiert und jetzt lag seine Brust frei. Mit einem lautem Schrei stieß Manon den Pflock in das Herz des Streuners, der unter ihren Händen zu Asche zusammenfiel. Rauschschwaden stiegen in den nächtlichen Himmel. Manon hüstelte. Ein pochender Schmerz meldete sich im rechten Knie. Ihre Jeanshose war zerrissen, wieder einmal. »So ein Mist!«, fluchte Manon. »Vla…«
»Bravo!«, hörte Manon eine Stimme hinter sich. »Eine wunderbare Vorstellung, die Ihr uns diese Nacht liefert!«
Erschrocken drehte Manon sich um. Vor ihr stand ein paar Stufen tiefer ein gedrungener Mann mit einer weißen Tunika und einem Lorbeerkranz im lockigen Haar. Er stieg zu ihr auf. »Salve!« Der Fremde verbeugte sich. Als er sich wieder aufrichtete, blitzten lange Zähne aus seinem Mund. Ein echter Vampir! Ihr Blut fing wieder an zu kochen. Ein Hybride war nicht nur begehrte Beute bei den Streunern, sondern auch eine Trophäe für jeden Vampirclan. Jedenfalls würde dieser Caesar-Verschnitt sie nicht blind angreifen und bis zum letzten Tropfen aussaugen. Aber er würde riechen, was sie war. Ein Wesen zwischen Mensch und Vampir, gefüttert mit dem Blut ihres Vaters, bestimmt dazu, durch den Biss eines Meisters zu einem Wesen der Nacht zu werden. In Manons Kopf überschlugen sich die Gedanken. Diesen Mann könnte sie nicht im Kampf besiegen. Alte Vampire verfügten über eine unmenschliche Kraft und Schnelligkeit. Eine ihrer Schwestern hatte als Jugendliche versucht zu fliehen, sie war nicht einmal bis zur Haustür gekommen und dann …
Wo war bloß Vladi? Er könnte ihr zwar nicht wirklich helfen, aber sie würde sich weniger einsam und ausgeliefert fühlen.
»Seid ihr verstummt, holde Maid?«, fragte der Vampir.
»Nein.« Manon versuchte möglichst selbstbewusst zu klingen. »Ihr habt mich nur überrascht, Meister.« Vampirmeister griffen selten sofort an. Sie hatten ihren Spaß daran, mit ihren Opfern zu spielen wie eine Katze mit einer frisch gefangenen Maus.
»Nicht zu viel der Ehre!« Der Fremde schob seine Hand unter die Tunika wie Napoleon. »Ich bin Lucius! Treuer Diener des Maître de Lyon.«
Manons Knie wurden weich. Diese Stadt hatte also tatsächlich einen Vampirmeister, auch wenn es nicht dieser Lucius war. Sie könnte auf keinem Fall hier bleiben. Das stand fest. Vorausgesetzt sie würde diese Nacht als Mensch überstehen.
»Und, wer seid Ihr, wenn ich fragen darf?« Lucius mühte sich, seine Zähne beim Lächeln nicht zu zeigen.
»Ich bin Manon, die Ziehtochter des Großmeisters von Paris.« Manon hoffte, die Wahrheit würde vielleicht Eindruck auf diesen Vampir machen. Immerhin waren schon viele Sippen dem Pariser Clan zum Opfer gefallen. Ihre Brüder und Schwestern kannten keine Furcht und keine Gnade. Besonders nicht Laurent, der Vampir, dem sie versprochen war.
»Ah, der Meister von Paris. Ich bin ihm begegnet vor Jahren. Eine höchst unerfreuliche Erscheinung.« Lucius wischte sich über die Stirn, als wolle er sich von Schweiß befreien. »Und seine Tochter lässt er so alleine durch das nächtliche Lyon wandern?«
»Ich bin nicht alleine!« So ganz gelogen war das nicht. Schließlich flatterte Vladi irgendwo herum. »Und ich weiß mich, zu wehren.« Manon steckte ihren Pflock symbolisch zurück in die Innentasche ihrer Jacke. Dieser Vampir sollte sie ruhig für naiv halten. Er ahnte ohnehin sicherlich, dass sie alleine unterwegs war.
»Oh, ja. Ich sah es. Grandioser Kampf! So ungleich und doch so ästhetisch. Der Meister wird sich freuen, Eure Bekanntschaft zu machen.«
»Es tut mir leid«, antwortete Manon schnell. »Ich muss weiterziehen. Noch heute Nacht. Mein Bräutigam wartet.«
»Ah, versprochen ist sie auch.« Lucius räusperte sich. »Aber der Meister ist schon unterwegs. Heute Nacht findet hier im Theater zu seinen Ehren ein Schauspiel statt! Ich würde mich freuen, Euch als unseren Ehrengast begrüßen zu dürfen.« Manon spürte, wie ihr Blut zu kochen anfing. Das war keine Einladung.
Und dann begann es. Es zischte, Staub wirbelte auf und ein kräftiger Windzug blies durch das Amphitheater. Um ihr herum stand von einer Sekunde zur nächsten eine tuschelnde Heerschar von Vampiren in altertümlichen Kleidern.
»Salve! Brüder und Schwestern!«, rief Lucius und landete mit einem Satz unten in der Arena. Man hätte glauben können, dass er geflogen wäre, doch Manon wusste, dass es mehr ein Schweben war und auch nur funktionierte, wenn ein Vampir von einem höher gelegenen Ort zu einem tieferen wollte.
»Wir haben heute einen Ehrengast!«, fuhr Lucius fort und zeigte auf Manon. Die Gesichter der Vampire wandten sich zu ihr und sie hörte geradezu, wie sie die Luft einsogen, ihren Duft aufnahmen. In ihren Augen stand förmlich »Hybride« geschrieben. Dieses war ein sehr alter Clan. Manon wäre nie nach Lyon gekommen, hätte sie gewusst, dass die Stadt in der Hand einer Vampirsippe war. Ihr Blut brodelte in ihren Adern. Sie musste einen Ausweg finden. Doch wie und vor allem wo?
»Unser Gast bekommt natürlich den Ehrenplatz in der ersten Reihe.« Lucius machte mit seinen Armen eine ausladende Bewegung und zeigte schließlich auf die erste Steinreihe, die nun mit roten Kissen bestückt war. Die Vampire mussten sie mitgebracht und schneller ausgelegt haben als Manon es mit dem bloßen Augen erfassen konnte. Unsicher und achtsam suchte Manon sich ihren Weg durch die Menge. Sie vernahm dabei das leise Schnauben, so mancher leckte sich über die Lippen, aber die Masse hielt still. Sie rissen sich zusammen, dachte Manon. Die Verwandlung eines Hybriden war dem Meister vorbehalten.
In der ersten Reihe angekommen, ließ Manon sich auf eines der Kissen nieder.
»Und, nun«, fuhr Lucius fort, »begrüßt unseren großen Meister. Unseren Durchlaucht Decius Cornelius Nobilior!«
Ein »Ah« ging durch die Menge. Einige applaudierten. Lucius blickte in den Himmel. Ein Steinadler flog über die Menge hinweg, ließ sich neben dem Römer nieder und entfaltete sich blitzschnell als ein schlanker, dunkelhaariger Vampir. Sie schätzte ihn dem Aussehen nach um die Zwanzig. Manon schluckte, als der Jüngling auf sie zukam. Die Iris seiner Augen war gelb wie bei allen uralten Vampiren. Manon wurde es heiß, als Decius sich höflich verbeugte. »Sieh an«, sagte er und atmete tief ein. »Was haben wir hier, Lucius, treuer Freund? Ein Hybride? Welch Überraschung in dieser lauen Sommernacht!«
Lucius trat neben seinen Meister. »Darf ich vorstellen, Durchlaucht. Manon, die Ziehtochter des Großmeisters aus Paris ist heute unser Gast.« Dabei betonte Lucius das »heute« in einer Art, die Manon schaudern ließ. In seinen Augen stand die Gier nach ihrem Blut deutlich geschrieben.
»Es ist mir eine Ehre, Madame«, sagte Decius und griff nach Manons Hand für einen Kuss. Sie versuchte, nicht allzu sehr zu zittern und lächelte den Meister von Lyon an, als dessen Lippen ihren Handrücken berührten. Bloß mitspielen, dachte sie, so lange es geht. Gleichzeitig ging ihr Blick suchend über das Amphitheater. Irgendwo musste doch das Mauseloch sein, durch welches sie fliehen könnte! Doch sie entdeckte nichts. Decius setzte sich neben Manon, deren Blut immer heißer wurde. Schweißperlen drohten sich auf ihrer Stirn zu bilden. Vladi, wo bist Du?, dachte Manon unruhig. Ihm war doch wohl nichts zugestoßen.
»Lucius«, rief Decius. »Ne ad ludos incipere!«
Manon schluckte. Das würden doch jetzt nicht wirklich Gladiatorenspiele werden, vielleicht auch noch mit Menschen?! Vampiren traute Manon alles zu. Für einen Moment flammte die Erinnerung an ihre Kindheit auf, den »Festmahlen« ihrer Familie und wie sich in einer Abstellkammer versteckt hatte, um …
»Mesdames et messieurs!« Lucius verbeugte sich vor dem Publikum, das klatschte und mit den Füßen auf dem Boden trampelte. »Sehen Sie heute in unserem Amphitheater ›Ein Sommernachtstraum‹ von unserem alten Freund William Shakespeare!«
Manon atmete erleichtert auf.
Eine Gruppe von Vampiren betrat die Arena, gekleidet in weißen Kleidern und ebenfalls mit Lorbeerkränzen auf den Köpfen. Lucius klatschte in die Hände und ließ sich ebenfalls neben Manon nieder, so dass sie von den beiden eingekeilt war.
Ein Vampir mit grauem Bart trat einen Schritt vor: »Now, fair Hyppolyta, our nuptial hour Draws on apace. For happy days bring in Another moon …«
»Ich habe gehört, Euer Vater habe Euch Laurent de Toulouse versprochen«, flüsterte Decius in Manons Ohr.
»Ihr kennt meinen Vater?« Woher wusste dieser Decius von dem Versprechen? War er Freund oder Feind ihrer Familie? Ihr Vater hatte sie von den Geschäften der Vampire stets ferngehalten. Und Marie, nach ihrer Verwandlung – Manon wurde übel bei dem Gedanken, was mit ihrer Schwester in der Nacht geschehen war.
»Mich wundert, Euch hier so alleine zu finden.« Decius lächelte sie zuckersüß an und zeigte seine blitzenden Fänge.
»Ich bin auf Reisen, um etwas von Frankreich zu sehen. Mein Begleiter, er ist heute unabkömmlich.« Manon spielte nervös mit ihren dunkelblonden Flechten. Sie erinnerte sich, wie bei einem Bankett Laurent neben ihr gesessen und seine Finger durch ihr Haar strich, es teilte und zu Zöpfen flocht. Anschließend seine Lippen auf ihre Halsschlagader drückte. Ein Schauer lief ihren Rücken herab.
Ein Krabbeln weckte Manon aus ihren Gedanken. In der Arena war das Stück vorangeschritten. Ein Vampir mit einem Blumen geschmückten Eselskopf hüpfte durch die Gegend und schrie »Ih-ah«. Das Publikum grölte und pfiff. Decius schlug sich lachend auf die Knie. Aber Manon war wie elektrisiert von dem flauschigen Gefühl auf ihrer Haut. Vladi! Er war zurück! Er bahnte sich seinen Weg nach oben und schließlich spürte sie sein Köpfchen nah an ihrem Hals.
»Up and down, up and down,
I will lead them up and down;
I am fear’d in field and town.
Goblin, lead them up and down.
Here comes one.«
»Dieser Puck ist grandios! Nicht wahr?« Decius stieß Manon an, als wären sie seit langem Freunde. »Gefällt Euch das Spiel?«
Manon nickte eifrig. »Ganz großartig! Woher habt Ihr diese Schauspieler?«
»Ach!« Decius winkte lächelnd ab. »In den Jahrtausenden da findet man so manchen. Aber wisst Ihr, wer in meiner Sammlung noch fehlt?«
Manon schüttelte den Kopf. Hoffentlich kein Hybride. Sie sah sich schon mit einem Eselskopf in diesem Theater stehen.
»Julia Roberts!« Decius gelben Augen funkelten. »Ich fand sie niedlich damals in den hohen Stiefeln. Und diese Locken! Jetzt aber als reife Frau gefällt sie mir umso besser. Das ist bei Frauen wie mit dem Wein! Gut, dass ich noch gewartet habe.«
»Das ist ihr sicherlich eine Ehre, in Eurer Gruppe zu spielen.« Hoffentlich war das nicht zu dick aufgetragen, dachte Manon und glaubte fast ein leises Kichern von Vladi in ihrem Kragen zu hören.
»Und geht Euer Laurent mit Euch ins Theater?« Decius sah sie aufmerksam an.
Manon zuckte zusammen. Er wollte wissen, wie es um ihre »Beziehung« stand. Laurent und Theater! Vielleicht eines, in dem viel Blut floß. Er war dann doch eher die Kategorie Gladiatorenkampf. Manon schüttelte den Kopf. »Laurent …« Wie jedes Mal, wenn sie seinen Namen aussprach, wurde ihr Mund ganz trocken. Vladi spitzte die Ohren und versteckte sich wieder unter ihrem Pullover.
»Jack shall have Jill; Nought shall go ill: The man shall have his mare again, and all shall be well«, rief der Puck und verneigte sich tief vor dem Publikum.
Lucius schwebte seicht zur Bühne. »Silentium! Fratribus et Sororibus. Am Museum wurde ein kleiner Snack vorbereitet. Bitte entfernt der Lautstärke wegen nicht die Knebel und Fesseln und bleibt auf den ausgelegten Planen! Wir wollen hier alles ordentlich hinterlassen.«
Die Menge applaudierte und es wurde unruhig um Manon herum. Es bildeten sich tratschende Gruppen, die meisten eilten zum Eingang des Museums an der Seite des historischen Amphitheaters, andere blieben sitzen und tranken Blut aus mitgebrachten Flaschen.
Decius hatte sich erhoben und zu Lucius gestellt. Sie waren offensichtlich im Gespräch vertieft. Für einen Moment war Manon unbeobachtet. Vladi flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln.
»Wir müssen die Chance nutzen«, flüsterte Manon ihm zu und drängte sich durch einige Gruppen von Zuschauern, die sie neugierig beäugten. »Wir tun einfach so, als würden wir Richtung Museum gehen.« Vladi machte ein Geräusch, das nach Zustimmung klang und krallte sich an eine ihrer Flechten, um nicht von ihrer Schulter zu fallen.
Manon drückte ihren Rucksack mit den wenigen Habseligkeiten, die sie hatte, fest an sich. Ihre Blicke gingen unruhig hin und her. Sie hatte Angst, dass Lucius oder Decius plötzlich hinter ihr auftauchen könnten, während sie sich mit dem Strom der Vampire über die Stufen Richtung Museum treiben ließ. Als sie den Vorhof des Museums passierten, rannte Manon einfach los. Vladi baumelte an ihrer Flechte wie an einer Liane und gab ein Quietschen von sich. Schließlich flatterte er hoch und schwebte über Manons Kopf.
»Dort entlang!«, rief Manon und zeigte auf eine lange Treppe, die den Hügel hinabführte. »Wir müssen in die Stadt! Unter Menschen!«
Manon setzte sich im Sprint den Rucksack auf. Sie schaute nach oben. Vladi! Wo war er schon wieder? Aber er würde auf sich aufpassen. Sie musste weg von hier. Unter ihr sah sie bereits die Lichter der Lyoner Altstadt. Es war Samstag und eine laue Sommernacht. Die Straßen müssten trotz der späten Stunde voll mit Touristen und Feierfreudigen sein.
Etwas huschte an ihrem Bein vorbei. Manon zuckte zusammen. Eine schwarze Katze sprang die Treppen herab, als würde sie ebenfalls vor etwas fliehen. Erleichtert atmete Manon aus. Dann kam sie ins Stolpern. Mit einem Blick erhaschte sie noch die ausgebrochene Stufe, über die sie gefallen war, verlor aber bereits ihren Halt. Mit rudernden Armen fing sie sich so gerade eben auf, ihre Finger schmerzten und Blut zeigte sich unter ihren Händen. Sie wischte sie an ihrer Jacke ab. Erst jetzt merkte sie, dass die schwarze Katze direkt vor ihr saß. Manon wurde kreidebleich. Das Tier richtete sich auf, wurde größer und Lucius stand vor ihr. Seine Augen funkelten in der Nacht.
»Na, na, wohin des Weges?«, fragte er viel weniger freundlich als er es noch im Theater gewesen war.
Manon tastete nach ihrem Pflock. Sie war noch nie gegen einen so alten Vampir angetreten. Aber sie würde nicht kampflos aufgeben. Auch wenn es an ein Wunder grenzen würde, ihn zu besiegen, so einfach sollte er es nicht haben. Manon sprang vor und traf mit ihrem rechten Fuß den völlig überraschten Lucius an der Schulter. Lucius rollte seitwärts die Treppe herunter. Der alte Vampir stand aber sofort wieder auf den Beinen und war in nur einem Bruchteil einer Sekunde wieder direkt vor Manon. Er griff nach ihrer Kehle und hob sie an.
»Du denkst wohl, du kannst fliehen«, zischte er. Seine langen, spitzen Zähne schauten aus seiner Mundhöhle. »Das wird dem Meister nicht gefallen.«
Manon rang nach Luft. Sie versuchte, sich auf ihre Füße zu konzentrieren. Auszuholen! Doch ihre Beine baumelten wie gelähmt. Lucius’ Finger gruben sich immer tiefer in ihre Kehle. Manon wurde langsam schwarz vor Augen, als sie so gerade eben noch eine Gestalt mit einem wehenden Ledermantel und einem langen, roten Bart erkennen konnte. Laurent! Manon wurde schwindelig. Ein Schlag traf ihren Peiniger und sie fiel hart zu Boden, als dessen Griff sich abrupt löste. Tränen schossen in ihre Augen. Verschwommen sah sie die weiße Tunika von Lucius mit Laurents schwarzen Ledermantel verschmelzen. Und dann hörte sie einen dumpfen Schrei, Qualm stieg auf und Asche fiel scheppernd auf die Stufen.
Manon stöhnte, als eine kräftige Hand sie am Arm hochzog. Gelb funkelnde Augen sahen sie grimmig an. In ihnen stand ein »Du-kommst-mit-mir« deutlich geschrieben. Sollte dieses das Ende ihrer Flucht sein? Manon wurde mit einem Schlag bewusst, was es hieß vom Regen in die Traufe zu kommen. »Laurent«, sagte sie leise, noch immer fast ungläubig. Das durfte einfach nicht wahr sein. Wie hatte er sie gefunden? Oder war er die ganze Zeit auf ihren Fersen? Geschwächt von der Tortur schwankte sie. Laurents Arm legte sich um ihre Hüfte, zog sie näher an sich. Manon konnte nun das Leder seines Mantels riechen. Er packte mit seiner anderen Hand in ihr Haar und ließ diese an einer ihrer Flechten hinabgleiten. Manons Atem wurde schneller, ihr Blut fing wieder an, zu brodeln. Die Erinnerung kam zurück. Seine Lippen auf ihrer Halsschlagader. Marie, wie sich die Zähne ihres neuen Meisters in ihren Hals gebohrt hatten, wie sie geschrieen hat vor Schmerzen. Laurent würde ihr das Gleiche antun. Er würde …
Ein Kreischen durchschnitt die Luft. Mit einem Schlag war Manon hellwach. Laurent hielt sie noch immer im Arm, aber sein Blick ging zum Himmel. Flügelschlagen! Kräftige Schwingen tauchten aus der Dunkelheit auf. Der Steinadler! Decius! Manon ging in Deckung, als der Adler seinen Angriff flog. Laurent stieß sie von sich, so dass sie einige Stufen der Treppe hinabrollte. Schnell sprang sie auf und konnte noch sehen, wie der Adler mit seinen Krallen und seinem Schnabel den hünenhaften Vampir attackierte. Blut floss von Laurents kahlen Kopf in seinen roten Bart. Erstarrt betrachtete Manon für einen Moment die Szenerie. Dann rannte sie los. Doch sie kam nicht weit. Auf den Stufen stand auf einmal eine junge Frau in einem langen, weißen Kleid. »Wo ist Lucius?«, fragte sie mit einer hohen Stimme. Ihre Zähne blitzten im Mondlicht. Manons Herz schlug schneller. Sie konnte nach Lucius’ Würgegriff kaum atmen. Die Frau setzte sich in Bewegung und stand einen Augenaufschlag später vor Manon.
»Wo ist Lucius?« fragte sie erneut. »Er ist dir gefolgt.« Die Augen der Vampirin waren noch trüb. Sie konnte noch nicht alt sein. Vielleicht hatte Lucius sie zu dem gemacht, was sie jetzt war.
»Ich, ich weiß nicht.« Manon schob langsam die Hand in ihre Hosentasche. Sie hatte hoffentlich den kleinen Ersatzpflock bei ihrem Sturz von der Treppe nicht verloren. Mit ihren Fingern ertastete sie das spitz gefeilte Holz. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn.
»Du lügst!« Die Vampirin schnaubte und verdrehte die Augen. »Ich spüre, ihm ist etwas geschehen. Aber du, du kannst ihn nicht getötet haben, Mensch.« Mit diesen Worten griff die junge Frau nach Manons linken Arm. Ohne nachzudenken, holte Manon den Pflock aus ihrer Hosentasche hervor und warf sich mit aller Kraft auf die Vampirin. Diese verlor ihren Halt. Riss Manon am Arm mit. Ineinander verkeilt rollten sie die Stufen hinab. Manon spürte die spitzen Zähne an ihrem Hals. In ihrer Faust hielt sie den Pflock. Mit der anderen Hand versuchte sie, sich von dem Griff der Vampirin zu befreien. Dann bohrten sich die Zähne der jungen Frau in ihren Hals. Manon schrie auf. Strampelte. Kam für einen Augenblick frei. Rutschte ein weiteres Stück die Treppe hinab. Ihre Angreiferin gab ein schrilles Geräusch von sich. Manons Blut floss aus dem Mund der jungen Vampirin. Manon stand mit zittrigen Beinen auf. Ihre Hose war nun vollkommen zerrissen, ihre Knie blutig und ihre Rippen schmerzten. Ihre Halsschlagader pochte. Die Vampirin leckte sich mit der Zunge über die Lippen, schnellte auf sie zu. Panisch griff Manon nach ihrem Pflock. Sie spürte wie die Arme der jungen Frau sie umschlagen, ihr Mund wieder nach ihrem Hals suchte, erneut zubiss … Manon schob die Hand mit den Pflock zwischen sich und ihre Angreiferin, die eifrig saugte. Der Schmerz war unerträglich. Manon japste nach Luft. Mit einem Schrei schob sie ihren Pflock in die Brust der Vampirin, drückte die Angreiferin gleichzeitig von sich. Diese schwankte, sah Manon für eine Millisekunde ungläubig an und zerfiel in Asche. Rauchschwaden stiegen auf. Manon atmete aus und ein. Sie konnte es kaum glauben. Sie war frei. Aber da waren noch Laurent und Decius. Wenn sie Glück hatte würde es ein langer Kampf werden, aber dennoch sie musste Lyon so schnell verlassen wie sie gekommen war.
Manon rannte um ihr Leben und kam erst zur Ruhe als sie die Altstadt von Lyon erreicht hatte. Um ihr herum tauchten Menschen auf. Pärchen gingen eng aneinander geschmiegt durch die Gassen und Traboules, einige betrunkene Männer rissen Witze vor den Tavernen und von irgendwoher hörte sie die Leier eines Spielmanns. Manon atmete tief durch. Ihr Hals schmerzte noch von dem Würgegriff Lucius’ und dem Biss der Vampirin. Sie hatte sie getötet. Eine echte Vampirin. Es erschien ihr unwirklich. Aber sie lebte noch. Sie lehnte sich an eine Hauswand und schaute auf den Hügel, der das Amphitheater verbarg. Wer den ungleichen Kampf wohl gewonnen hatte? Laurent oder Decius? Was wäre ihr lieber? Manon verdrängte den Gedanken, den sie nicht zu Ende denken wollte. Eilig rannte sie Richtung Bahnhof. Sie würde einfach in den nächsten Zug springen. Gerade als sie die Gleise erreichte, fuhr ein TGV ein. Manon wartete gehetzt bis die wenigen Fahrgäste ausgestiegen waren, bevor sie rasch ihren Fuß in das Abteil setzte. Auf einmal spürte sie ein Zupfen in ihren Haaren. Sie drehte sich um und sah einen kleinen, schwarzen Flügel.
»Vladi! Oh, Vladi. Wo warst du?« Sie nahm das Tierchen aus ihren Haaren und streichelte sein flauschiges Fell. »Vladi, wenn Du wüsstest, was alles passiert ist.« Mit Vladi in der Hand ließ Manon sich auf einen Sitz fallen. Sie müsste sich noch eine Geschichte für den Schaffner ausdenken. Sie hatte viel zu wenig Geld dabei. Der Zug fuhr los und sie schaute nach draußen, beobachtete wie sie Lyon hinter sich ließ, mit seinen Vampiren, dem Steinadlermeister und Laurent. »Ich habe einen Vampir getötet. Sie war noch jung und unerfahren.«, flüsterte sie Vladi zu. »Aber dennoch eine echte Vampirin.« Vladi breitete auf ihrer Hand seine Flügel aus und sah Manon mit seinen gelben Augen an. »Was meinst du, Vladi …« Manon streichelte das kleine Tierchen über den Kopf. »Lebt Laurent noch? Wird er mich finden?« Die Fledermaus flatterte auf Manons Schulter, schmiegte sich an sie und leckte über ihren blutigen Hals. Aus dem Augenwinkel meinte Manon dabei ein kleines Lächeln zu sehen, aber das bildete sie sich wahrscheinlich nur ein. Fledermäuse konnten nicht lächeln. »Wo bist du nur gewesen, Vladi? Ich hatte so Angst! Lass’ mich bitte nie wieder allein.« Manon lehnte sich zurück. Die Atemzüge schmerzten noch immer ein wenig.
Und dann geschah es doch! Am Horizont blitzte eine kleine Sternschnuppe auf. Manon schloss die Augen und wünschte sich etwas tief in ihrem Herzen.
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