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Mann-Frau-Verwirrung
Da stand sie also in der Tür ihres gemeinsamen Schlafzimmers, nach zehn Jahren Ehe, und fragte sich ob eine bedeutungslose Affäre nicht besser gewesen wäre als das hier: ihr Mann, der geschminkt und in Frauenkleidern mit gespitzten Lippen vorm Schrankspiegel posierte. Und irgendwie wusste sie es gleich, dass das hier kein verfrühtes Karnevalsoutfit darstellen sollte, sondern sein voller Ernst war.
Sofort erkannte Claudia Vogt, dass diese Kleider nicht ihre waren. Ihr Mann Dennis trug schwarze Strapse, ein Leopardenfell über der Schulter und erdbeerrote High-Heels mit zwölf-Zentimeter-Absätzen. Sein Gesicht schrie vor Lippenstift, Rouge und Kajal. Die blonde Langhaarperücke und die glitzernden Ohrringstecker trugen keineswegs zu Claudias Beruhigung bei.
»Was machst du da?«, fragte sie ihn, am ganzen Körper zitternd, gerade als er sich vor dem Spiegel lasziv den Zeigefinger auf die Unterlippe legte und einen auf kleines unschuldiges Mädchen machte.
Ertappt drehte er sich zu seiner Frau und hielt sich die Arme vor den entblößten Oberkörper. »Ähm … Ich … .« Hilflos blickte er sie an, offenbar unfähig auch nur noch ein Wort aus seiner Kehle zu pressen.
Claudia überlegte, ob sie ihm eine Backpfeife verpassen oder einfach davonlaufen sollte. Sie seufzte auf, wegen des Anblickes ihres verschämt dastehenden Mannes, und dann entschied sie sich für letzteres. Sie stürmte aus dem Zimmer und wenig später aus dem Haus.
Sie brauchte frische Luft, und davon gab es genug an diesem Januar mit den sibirischen Temperaturen. Während sie das Auto stehen ließ und lief, einfach nur lief, lag der Schnee knöchelhoch; die Bürgersteige und Straßen waren ungenügend geräumt wie sie feststellte. Ihre Jacke hatte sie bei all der Irritation auf der Garderobe liegen lassen.
Sie musste wie ein Häufchen Elend auf die Passanten wirken, mit den verschränkten Armen, dem bibberndem Kinn und den roten Wangen. Dabei ging ihr immer wieder Dennis´ Erscheinungsbild als Transvestit durch den Kopf.
Sie beschloss die drei, vier Kilometer zu Silvia zu gehen, ihrer besten Freundin, welche am Rande der Kleinstadt wohnte. Die wusste doch immer eine Lösung. Auch wenn sie dieses Mal vor eine echte Herausforderung gestellt werden würde.
Silvia nahm sie wie erwartet auf, Silvia war eine Seele von Mensch. Sie umsorgte sie sofort, die aufgelöste, durchgefrorene beste Freundin, brachte sie zum Wohnzimmersofa, hüllte sie in eine karierte Wolldecke und setzte Tee auf.
Doch so ruhig sie Claudia aufnahm, so sehr bebte sie auch, nachdem sie von dem Vorfall hörte. »Er hat was?« fragte Silvia. »Du musst ihn zur Rede stellen!« Sie hampelte wie ein amateurhafter Zirkusartist vor Claudia herum, so als habe sie einen Krampf im Bein und wolle diesen loswerden.
»Und was soll ich ihm sagen?«
»Sag … Sag ihm …«
»Siehst du.«
»Ich weiß nicht. Es gibt halt keine Formel für: was sage ich zu meinem Mann, wenn ich ihn eines Tages in Strapse und High-Heels erwische.«
Und nun lief sie auf und ab, griff sich an den Zopf und klopfte mit der Hand auf ihrem Schenkel herum. Manchmal fühlte sich die zarte Claudia wie ein Kind im Vergleich zu dieser starken Frau, die alleine drei Kinder großzog.
Endlich nahm Silvia neben Claudia auf dem Sofa Platz.
»Vielleicht gibt es für alles ja eine ganz einfache Erklärung«, versuchte Claudia es mit konstruktivem Denken. »Ich habe Dennis ja überhaupt keine Chance gegeben etwas zu sagen. Bin sofort abgehauen.«
»Ja, das könnte sein«, murmelte Silvia und legte ihr den Arm um die Schulter.
Claudia schlürfte einen Schluck von ihrem kochend heißen Tee. »Ich bin Vierunddreißig«, sagte sie plötzlich, starr geradeaus blickend, mehr zu sich selbst als zu Silvia.
»Na hör mal, das klingt gerade so, als sei dein Leben vorbei. Du kannst noch so viel machen. Und wenn du dich von ihm trennen willst, dann helfe ich dir das durchzustehen. Aber übereile bloß nichts.«
Claudia hörte die Worte ihrer Freundin nur halb, sie dachte daran, was sie und Dennis bereits miteinander durchgestanden hatten. Sie hatten versucht Kinder zu bekommen, aber das hatte nicht geklappt. Langsam hatten sie sich schließlich von diesem Gedanken verabschiedet, ihre Ehe jedoch hatte standgehalten, irgendwie hatten sie es geschafft sie neu zu formen, wie wusste Claudia selbst nicht.
»Und wenn du heute hier auf dem Sofa übernachten willst …«, bot Silvia nun an.
Claudia nickte.
»Stell ihn doch mal zur Rede. In den Talkshows, die Moderatoren, die sagen das auch immer.«
»Du und deine Talkshows.« Das erste Mal seit der Entdeckung ihres Mannes in Frauenkleidern zwang sich Claudia ein Lächeln ab.
Dennis Vogt war mittlerweile wieder in Männerkleidung gehüllt und wischte sich gerade vor dem Badezimmerspiegel die letzten Reste Schminke ab. Er wartete auf seine Frau, dass sie nach Hause kam, um ihr alles zu erklären. Er wischte und wischte voller Wut auf sich selbst an seinen Wangen herum, bis diese rote Flecken aufwiesen. Anschließend setzte er sich nach unten ins Wohnzimmer und horchte, auf das Geräusch eines sich im Türschloss drehenden Schlüssels, horchte und horchte, bis es Nacht wurde.
In Bezug auf die Ehe mit Claudia gab es zwei Geheimnisse, die er ihr immer offenbaren wollte, sich aber nie getraut hatte.
Zum einen war da seine Bisexualität. In der Jugend fand er einen seiner Freunde ganz toll. Lukas hatte diese lebensfrohe Art gehabt, die ansteckend war, dazu einen blässlichen weiten Mund, von dem er damals nicht die Augen lassen konnte. Irgendwann hatten sich ihre Wege getrennt, da Lukas in der Ferne studieren ging, und Dennis war froh darüber gewesen; er fand Frauen ebenfalls attraktiv und das mit Lukas, so sagte er sich, war bestimmt nur Einbildung gewesen.
Erst in seinem dritten Ehejahr mit Claudia fiel ihm das männliche Geschlecht wieder auf besondere Weise auf. Auf mehrfachen, hitzigen Vorschlag eines guten Freundes hin, hatte er mit Fußballspielen im Hobbybereich angefangen. Und dann war es ein Schock für ihn, als er bemerkte, dass er die Körper der Mitspieler unter der Dusche erregend fand, die Bauchmuskeln und den Hintern des ein oder anderen. Deshalb hörte er zum Ende jener Saison auf, mit der Begründung, dass er beruflich viel zu eingespannt sei.
Und nun konnte er sich allerhand einreden, wie zum Beispiel: das war bestimmt nur ein momentane Verwirrung unter der Dusche, ohne jegliche Bedeutung, ich bin nicht schwul oder bisexuell. Und so hatte er sein ganz normales Eheleben weitergelebt, mit einer Frau, die er nach wie vor erotisch fand.
Doch eines Tages hatten seine verdrängten Männerfantasien überhandgenommen. Es war ein Samstagmorgen, als Claudia beim Fitness war. Er rief sich im Internet eine Seite für Schwulenpornos auf und befriedigte sich anschließend auf ein Video, in dem zwei Männer leidenschaftlich und ungehemmt zur Sache kamen. Danach sprang er voller Scham unter die Dusche und besorgte seiner Frau anschließend eine hübsche, teure Halskette. Von diesem Augenblick an konnte er im Innern aber nicht mehr abstreiten, dass auch das männliche Geschlecht ihn anzog.
Das zweite Geheimnis, das mit dem in Frauenkleider schlüpfen, fand seinen Ursprung erst in ihrem sechsten Ehejahr. Claudia war sich auf der Weihnachtsfeier ihrer Firma amüsieren, und er war froh die Wohnung mal ganz für sich zu haben. So war er im Erdgeschoss umherstolziert, auf der Suche nach seinem geliebten Flaschenöffner der Marke Coca Cola, um sich anschließend gemütlich auf dem Sofa Bier und Fußball in der Glotze zu gönnen. Er ärgerte sich dabei über seine Frau, die nicht nur den Öffner, sondern alles Mögliche immer und überallhin verlegte. Und plötzlich war es ihm, als riefe ihn eine Stimme von oben, aus dem Obergeschoss, ganz leise, flüsternd. Gleichzeitig kamen ihm Bilder in den Sinn, die er nicht verdrängen konnte, von früher … diesem einen weißen Bolero seiner Lieblingstante und … dem schönsten Diskothekenoutfit seiner großen Schwester – ein rotes enggeschnittenes Kleid, darüber die kurze Jeansjacke und an den Füßen silberne glänzende Pumps. Er konnte nicht anders als dieser Stimme zu folgen. Rasch bemerkte er, dass das Geflüster von den Klamotten seiner Frau im Schlafzimmerschrank stammte, sie ihm zuflüsterten, er solle zu ihnen kommen, den Schrank öffnen, es sei doch nichts dabei, nur mal schauen, nicht anziehen … erst mal. Er hatte in ihrem Schrank gestöbert. Erst nahm er ihren BH heraus und hielt ihn sich im Spiegel vor die Brust. Dann kramte er in ihren Höschen, verwarf dann aber die Höschenfantasie, da sie ihm nicht mal als String gepasst hätten. Aber ehe er sich versah, hatte er sich ein gesamtes Outfit von seiner Frau zusammengestellt, welches geordnet nebeneinander auf dem Schlafzimmerbett lag. Eine ganze Weile schaute er mit unentschlossenem Gesichtsausdruck auf die Sachen herab, dann seufzte er und begann seine eigene Kleidung auszuziehen.
Im Nachhinein war es ihm wie ein Blackout vorgekommen, etwas was er ohne Vorhandensein seines vollen Bewusstseins getan hatte. Doch daraufhin tat er es immer wieder, wenn Claudia aus dem Haus war. So hatte er nun zwei Geheimnisse – die Schwulenpornos und, dass er sich manchmal ihre Kleidung zur Anprobe borgte. Später wurde er im Heimlichen ein wahrer Meister, was sowohl Frauenkleidung als auch Schminke als auch die passenden Perücken anging. Dabei zweifelte er niemals an seiner Geschlechtsidentität als Mann; auch wenn er sich häufig fragte, was die Ursache für seinen Transvestitismus war – ob sie nicht vielleicht in seiner Vergangenheit begründet lag – konnte er nie einen konkreten Grund dafür finden. Er bestellte sich eigene Klamotten im Katalog. Dabei musste er aufpassen, dass seine Frau nicht daheim war, wenn diese ankamen oder, dass er sie vorher abfing, bevor sie etwas bemerkte. Und in der Tat war diese ganze Geheimniskrämerei mit einigen Ausreden und Lügen verbunden, die er Claudia nicht ohne schlechtes Gewissen aber gekonnt präsentierte. Die Frauenkleider im Übrigen versteckte er im hintersten Karton ihres Gartenkabuffs.
Am nächsten Morgen, als sie die Haustür aufschloss, hörte Claudia schon wie Dennis die Treppe hinuntergepoltert kam. Sie blieb bei den Schuhen stehen und wartete. Er tauchte im Flur auf, außer Atem, und sah sie mit traurigen Augen an. Sie ging schnellen Schrittes auf ihren Ehemann zu. »Du hast eine kurze Mann-Frau-Verwirrung durchgemacht. Bald wird das auch als aufgeführte Krankheit im Lexikon stehen.« Dann umarmte sie ihn. Aber irgendwie glaubte sie sich diesen Unfug, den sie dort dahinplapperte, selbst nicht.
Er entriss sich aus ihren Armen. »Nein, warte, so einfach ist das alles nicht. Ich habe mir geschworen, dieses Mal ehrlich zu dir zu sein. Dir die ganze Wahrheit zu verraten.«
Claudia verspürte wieder das unkontrollierbare Verlangen einfach wegzulaufen. »Nun gut.« Sie ging auf wackeligen Beinen in die Küche und setzte sich an den Tisch. Ihr Mann nahm ihr gegenüber in der Küchenecke Platz. Irgendwie war ihr das gerade zu viel Nähe über den kleinen Tisch hinweg, sie rückte einen Meter auf dem Stuhl zurück. Dennis sah sie reumütig an. Dann murmelte er vor sich hin: »Wie soll ich nur anfangen?«
»Also gut … « Und dann begann er ihr alles zu erzählen. Von seiner Bisexualität und wie er sie bemerkt hatte und von seinem Hang Frauenkleider zu tragen und wie er auch das bemerkt hatte.
Während Dennis scheinbar ohne Luft zu holen redete, nickte Claudia und schüttelte abwechselnd den Kopf. Aber sie ließ ihn ausreden, unterbrach ihn kein einziges Mal.
Als Dennis geendet hatte, hielt Claudia sich die Hände vors Gesicht, fuhr mit ihnen bis zum Kinn herab und stützte damit ihren Kopf. Sie atmete laut aus, als mache sie irgendeine Mediationsübung.
»Und mit wie vielen Männern hast du während unserer Ehe geschlafen?«, sagte sie. »Ich hoffe du hast dir kein Aids eingehandelt.«
»Ich habe dich nie betrogen, das musst du mir glauben, weder mit einer Frau noch einem Mann. Nur … in meiner Fantasie«
Claudia spielte mit der Zunge an ihren Zähnen herum, das Gesicht vielleicht zehn Jahre gealtert. Sie konnte nicht fassen, dass sie gerade diese Unterhaltung führte, es kam ihr alles wie ein merkwürdiger Traum vor, und vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden war ihr Leben noch in so geregelten Bahnen verlaufen.
Trotzdem sagte sie: »Okay. Ich glaube dir.«
»Danke«, sagte Dennis erleichtert.
»Und wie soll es deiner Meinung nach nun mit uns weitergehen?«
»Ich will um alles in der Welt mit dir zusammenbleiben, mein Schatz. Aber ich will auch diese andere Seite ausleben, also nichts mit anderen Männern anfangen, ich meine das mit den Frauenkleidern und den Dessous, mit Perücke, allem Drum und Dran«.
»Und wie stellst du dir das vor? Sollen wir etwa gemeinsam als Frauen auf die Pirsch gehen, und wenn ich jemand fragt wer denn meine hübsche Freundin sei, sage ich das ist mein Mann?«
»Nein, mein Schatz. Ich würde mich nie mit dir als Frau zeigen. Gestern hast du mich unerwartet ertappt. Das wäre dann etwas wovon du nichts mitkriegen würdest, du würdest mich nicht mal als Frau sehen, und das ist mir auch lieber so. Du würdest es lediglich wissen.«
Toleranz, Toleranz, überlegte sie inzwischen, überall redeten sie davon, aber war sie denn intolerant wenn sie ihrem Mann keine Chance auf ein Weiterbestehen ihrer Ehe gab? Und wie viel Toleranz kann ein Mensch aufbringen? »Und du würdest dann nur zuhause als Frau vor dem Spiegel posieren, wenn ich nicht da bin, oder was machst du dann immer?«
»Ich gehe auch in verschiedene Clubs, in besondere Gesellschaften.«
»Transvestitenclubs?«
»Ja, genau.«
»Stell dir vor, dich sieht und erkennt jemand von der Arbeit, in dieser Aufmachung.«
»Ist mir wirklich fast mal passiert. Konnte mich in der Damentoilette verstecken, bis er weg war. Zwei Stunden.«
»Ich kann das einfach nicht glauben, dass du mir das all die Jahre lang verschwiegen hat. Du hast ja ein regelrechtes Doppelleben geführt.«
»Claudia!.«
»Und ich kann nicht fassen, wieso ich nie etwas gemerkt habe. Von deinen Neigungen und Wünschen. Und weißt du, irgendwie ist das am Schlimmsten. Haben wir denn die ganzen Jahre nur so nebeneinander her … funktioniert?«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen. Ich bin mittlerweile richtig geübt im Verheimlichen dieser … Vorlieben. Und wir haben nicht nur funktioniert, es war mehr als das, besser. Wir waren doch meistens glücklich, außer vielleicht als das mit dem Kinderkriegen nicht so geklappt hat. Aber auch diese Krise haben wir gemeistert.«
»Ich will ja. Ich will das ja mit dir meistern.« Claudia streckte die Hand über den Tisch hinweg aus. Es war eine steife, verkrampfte Hand. Dennis nahm sie und sie lockerte sich allmählich.
Dennis stand auf, beugte sich zu Claudia und nahm sie in die Arme. Er küsste sie auf die Wange, sie ihn auf den Mund. Dennis setzte sich leicht auf ihren Schoß und liebkoste ihren Nacken mit seinen Lippen, wobei es ganz egal war, dass sich normalerweise die Frau auf den Schoß des Mannes setzte, im Allgemeinen die Geschlechterrollen doch überhaupt keine Rolle spielten.
»Zieh die Frauensachen an. Hauptsache du bleibst mir treu«, hauchte Claudia Dennis ins Ohr.
Beide waren aufgewühlt, aber beide waren glücklich in diesem Moment.