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Mann am Ende des weißen Fernlichtkegels
Ich sah den Mann, nachdem die Sonne untergegangen war, die Baumkronen der Allee allmählich ihre Farbe von dunkelgrün zu zart grau wechselten und der Asphalt weit vor dem Wagen nur noch von meinem Fernlicht beleuchtet wurde.
Er schlenderte auf der rechten Seite der Fahrbahn, schlenderte mehr, als dass er ging, die Hände in den Taschen, soweit ich das aus der Entfernung beurteilen konnte – das Ende meiner Lichtkegel schlug dem Mann quasi gerade so in die Hacken, bevor er gänzlich im Schatten verschwand.
Im Radio wünschte mir ein Moderator eine gute Nacht und eine sichere Heimfahrt, und ließ mich dann mit einem dieser neuen Popsongs zurück, die ich nie kannte. Daher suchte ich für den Zeitraum von ungefähr einer Minute nach einem anderen Sender. Irgendetwas langsameres. Für Männer, die nicht gerne so schnell sind.
Und ich fuhr auch nicht sonderlich schnell an diesem Abend, doch trotzdem fuhr ich in einem Tempo, dass der Geschwindigkeit eines schlendernden Mannes am Straßenrand wenigstens ebenbürtig hätte sein sollen.
Aber ich weiß noch, dass ich kurz die Stirn runzeln wollte – ich wollte die Stirn runzeln, um mir selbst zu bestätigen, dass mir ein Denkfehler unterlaufen sein musste – denn als mein Blick den Mann am Ende meines Fernlichtkegels wiederfand, war dieser mir innerhalb meiner einminütigen Sendersuche keine Wagenlänge näher gekommen.
Die Nacht war mittlerweile so schwarz geworden, dass ich seinen Schemen kaum noch erkennen konnte. Aber er war da. Sein Mantel, beige und lang bis zu den Fersen, schwang mit jedem seiner Schritte und entblößte mal die eine mal die andere Wade.
Ich fixierte die Gestalt für eine Weile – nur sie allein – und wären nicht die hohen Bäume am Straßenrand gewesen, gleichmäßig an mir vorbeiziehend, und die gestrichelte Fahrbahnmarkierung, Linie für Linie unter meinen Wagen tauchend, ich wäre überzeugt gewesen, dass meine Reifen still standen. Ich näherte mich dem schlendernen Mann nicht.
Also trat ich etwas mehr auf das Gaspedal. Für gewöhnlich fahre ich bei Nacht nicht mehr über hundert, weil ich Angst vor Wildwechsel habe und meine Reflexe nicht mehr das sind, was sie mal waren. Aber eine schwer zu erklärende Ungeduld gewann Überhand über meinen rechten Fuß. Ich wollte den Spaziergänger überholen.
Bei hundertundzwanzig Stundenkilometer verlor ich den Mut. Der Mann schlenderte. Fast gemütlich. Gerade so gemütlich wie hundertundzwanzig Stundenkilometer auf einer Bundesstraße. Fortwährend am letzten Zipfel meines Fernlichtkegels.
Ich gab auf und fuhr wieder etwas langsamer. Ich musste zu diesem Zeitpunkt schon etwas übernächtigt gewesen sein, die Arbeit in der Werkstatt war ermüdend, denn ich schob das Fernbleiben des schlendernden Mannes, auf eine optische Täuschung meinerseits. Eine Zigarette im Fahrtwind zu rauchen, verhalf mir schon desöfteren, auf langen Autofahrten wach zu bleiben. Und deshalb rauchte ich mehrere Zigaretten am Stück, bis ich den Gestank von Rauch im Wagen selber nicht mehr ertragen konnte. Es waren wenigstens fünfzehn Minuten vergangen.
Der Mann im beigen Mantel. Schlendernd. Am Ende meines verfluchten Fernlichtkegels.
Ich fuhr rechts ran. Um diese Zeit sah man selten noch Gegenverkehr in dieser Gegend. Mein Wagen war fast das einzige Licht der Nacht. Fernlicht, Mond und Sterne. Und ich ging ohne Laterne. Weil ich mir etwas die Beine vertreten wollte. Das redete ich mir zumindest ein. Doch ich müsste lügen, Wenn ich jetzt erzählen würde, dass ich nur ein paar auflockernde Runden ums Auto gedreht wäre.
Ich entfernte mich von meinem Wagen. Und es war mir so viel unheimlicher, den Mann dort hinten nun ohne das schützende Glas meiner Frontscheibe zu sehen.
Ich blieb im Licht, das sich zu meiner rechten und linken immer breiter weitete, als würde es mich zu einem anderen Ort leiten wollen. Irgendeinem Ort - such dir einen aus. Nur nicht weiter in diese Richtung.
Und wie ich so zu Fuß auf den nächtlichen Wanderer zuging, näherte ich mich ihm zum ersten Mal tatsächlich. Ich konnte seine Stiefel bereits auf dem Asphalt auftreten hören. Gleichmäßig in der Stille, aber aufdringlich als würde jemand in einer Kirche pausenlos mit der Zunge schnalzen.
Der Mann bewegte sich kein Stück vom Fleck, obwohl seine Beine sich abwechselnd hoben und seine – wahrscheinlich aufgrund der Kälte – nahe zum Kopf gezogenen Schultern hin und her wippten. Ich war bereits so nahe, dass ich die schwarzen Haare über seinem Kragen erkennen konnte, die abstanden wie steifes Bürstenhaar. Und ich blieb stehen. Denn der Mann ging wirklich nicht auf dieser Straße. Es sah so aus, als wenn ein Mensch versuchen würde, das Schlendern eines Menschen nachzuahmen, während er mit beiden Beinen seine Position nicht verlässt. Beispielsweise um sich über jemand anderen lustig zu machen, der besonders obeinig geht. Oder um ein erschöpftes Kind zum Weitergehen zu animieren.
Und das Licht meines Wagens ging aus.
Wieso war das Licht ausgegangen? Hatte die Batterie so schnell den Geist aufgegeben? Alles was ich sah waren endlos hohe, schwarze Wände, da meine Pupillen sich nicht so schnell an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Die Absätze des Mannes schlugen immer noch auf den Fußboden ein und so blieb mir zumindest noch ein geringes Gefühl der Orientierung.
Ich versuchte mich ein wenig zu beruhigen. Ein erwachsener Mann hat keine Angst vor der Dunkelheit. Und da wir zwei nun offensichtlich beide im Dunkeln standen, vermutete ich, dass dieser Fremde vielleicht wohl genau so hilflos dreinblickte wie ich und ebenso ängstlich war.
"Hallo?", sagte ich. "Entschuldigung. Aber brauchen sie vielleicht Hilfe?"
Die Stiefel setzten auf und ab, als würde es als Antwort genügen. Ich kam mir ein wenig blöd vor.
"Soll ich sie irgendwo hinbringen? Ins nächste Dorf vielleicht oder zum Bahnhof? Geht es ihnen gut?"
Stiefelabsatz, Stiefelabsatz, ein Kind schnalzt mit der Zunge, während seine Eltern im Kirchenschiff ein Teelicht anzünden, Stiefelabsatz.
"Kann ich sie mitnehmen?"
Und dann wurde mir ganz mulmig zumute, denn ich hörte eindeutig, dass die zungenschnalzenden Sohlen sich nun in meine Richtung bewegten.
"Sprechen sie mit mir! Ist alles in Ordnung mit ihnen?"
Doch der Mann hatte nicht vor, mehr mit mir zu sprechen als notwendig und steuerte stattdessen in der Dunkelheit hörbar langsam auf mich zu.
Und ich rannte weg. So schnell wie meine Kniegelenke es zu ließen. Ich rannte zu meinem Wagen zurück, hoffte zumindest, in die richtige Richtung zu laufen. Doch solange ich den Asphalt unter mir und die Schritte des Fremden hinter mir hielt, musste ich ja irgendwann bei meinem Auto landen.
Doch die klackenden Absätze des Mannes blieben dicht hinter mir und näherten sich sogar, obwohl sie noch genau so träge wie zuvor im gleichen Takt auftraten. Als würde der Mann jetzt viel größere Schritte mit albern langen Beinen machen.
Meine Augen gewöhnten sich an das Mondlicht und mein Wagen stand am Straßenrand mit geöffneter Tür, so wie ich ihn zurückgelassen hatte. Ich sprang auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu. Der Motor war ausgegangen.
Ich drehte den Zündschlüssel zurück und dann wieder auf seine ursprüngliche Position. Ein Schnaufen in der Karosserie und dann das monotone Brummen meines Gefährts. Und die Schweinwerfer wachten endlich wieder auf.
Mein Verfolger war weg. Die Straße leer. Und im Radio spielte ein viel zu langsamer Song, der nicht zum aufgewühlten Takt meines Herzschlags passte. Dann legte ich den Gang ein und gab Vollgas. Ich wollte einfach nur nachhause, mich zu meiner Frau ins Bett legen und die Decke weit über den Kopf ziehen.
Ich liege bereits seit zwanzig Minuten reglos in unserem Ehebett und kann nicht einschlafen. Meine Frau ist nicht daheim. Sie hat mir einen Zettel hinterlassen, dass sie zu ihrer Schwester in den Süden gefahren ist, um ihr beim Umzug zu helfen. Das Fenster ist angekippt. Es wird immer kälter im Zimmer.
Und ich habe das Licht im Schlafzimmer wieder angemacht, als ich die Schritte draußen gehört habe. Sie kommen gerade nicht wirklich näher, aber sie sind da draußen und hören einfach nicht auf, den Boden zu berühren. Ich wollte eigentlich die Polizei rufen, aber ich habe das Gefühl, dass die Schritte doch näher kommen, sobald ich zum Hörer greifen will oder mich auch nur überhaupt irgendwie rege. Ich weiß nicht, ob ich die Haustür abgeschlossen habe und ich traue mich nicht, aus dem Bett zu steigen und nachzusehen.
Langsam wünsche ich mir, dass ich diesen Fremden doch nicht gefragt hätte, ob ich ihn mitnehmen kann. Vielleicht sollte man manche Leute am Straßenrand nachts nicht mitnehmen. Allerdings ist es jetzt auch einerlei. Er ist mitgekommen.
Ich habe mich soeben auf die Seite gedreht und die Haustür unten ist aufgegangen. Er steht im Flur. Ich höre seine Stiefel auftreten.