- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Man sieht sich
Der Boden unter seinen Füßen schwankte, langsam versuchte er einen Fuß nach dem anderen von einem Glied der Pontonbrücke zum nächsten zu bewegen. Reste eines durch feindlichen Beschuss mehr oder weniger versprengten Pionier Battalions hatten die wackelige Kette von luftgefüllten Tonnen geknüpft, die jetzt langsam auseinander zureißen drohte. Private First Class Benjamin Lemoine sah sich um. Er befand sich nahezu am Ende der Brücke, welches sein Vordermann bereits erreicht hatte. Regentropfen begannen auf seinen Stahlhelm und Regenponcho zu trommeln. Er blickte sich noch einmal um, lud sein Gewehr durch und betrat festen Boden. Das Trommeln wurde stärker.
Er wußte, dass er sich eingentlich Gedanken darüber machen sollte, nicht erschossen zu werden oder wie er seine Füßen trocken halten sollte, plötzlich aber dachte er aber an Aimeé. Vor ein paar Wochen hatte er sie getroffen, als sie gerade (mal wieder) eine französische Kleinstadt befreit hatten. Er hatte schon einige Französinnen getroffen, aber sie war irgendwie anders. Genau beschreiben konnte er es nicht, doch schien ihm ein gewisses etwas an ihr, das ihn zutiefst beeindruckt hatte. Es war von großem Nutzen gewesen, dass er Französisch sprach. Beinahe alle taten das, da, wo er her kam: New Roads, Louisiana. Seine Vorfahren waren Cajuns oder Acadiens, wie sie ursprünglich hießen. Französische Siedler in Amerika. Doch die Sümpfe der Heimat waren weit weg, auch wenn er sich jetzt nur zu gern erinnerte, an die Ernte der endlosen Zuckerrrohr Felder, an den Geruch der Luft, der von den Distillerien der Umgebung, die das Zuckerrrohr weiterverarbeiteten, herrührte. Benjamin Lemoine vermisste seine Heimat. Das hatte er ihr auch erzählt.
„Hey! Coonass!“, tönte es plötzlich hinter ihm. „Leg mal einen Zahn zu!“. Die Worte wurden von der rauhen, aber irgendwie väterlich klingenden Stimme des Seargants hinter ihm durch das Gewirr von Regentropfen zu seinem Trommelfell transportiert. Alle Gedankenballons, die er eben noch gen Himmel geschickt hatte, zerplatzten. Es schien als hätte der Seargant geahnt, dass einer seiner Männer gerade an Gedanken hing, die jetzt vollkommen fehl am Platz waren. Feindliche Scharfschützen hatten die letzten Tage schon für genug Verluste gesorgt.
Lemoine ging schneller. Inzwischen war der gesamte Zug auf der anderen Seite des zu überquerenden Flusses angelangt. Langsam begann man sich in den vor ihnen liegenden Wald zu bewegen. Unter den Bäumen ließ der Regen etwas nach, da er von dem dichte Laub- und Nadelwerk ein wenig aufgehalten wurde. Der Private First Class (seine Beförderung hatte er erst vor wenigen Wochen erhalten) sah sich noch einmal um. Es schien, als hätte er etwas vernommen, nicht laut, eher leise, aber fast nicht zu hören. Es klang wie ein Tier, so, als wäre er wieder auf der Jagd in Alabama und suchte nach einem nicht so ganz geglückten Abschuss: ein verwundetes Tier, das sich zum Sterben einen letzten Ruheplatz ausgesucht hatte. Plötzlich hörte er ein Knacken, dann ein Rascheln, dann nicht mehr viel außer dem Wiederhall eines zwanzigfachen Klickens , denn alle 20 GI’s hatten ungefähr gleichzeitig ihre Gewehre scharf gemacht und richteten sie auf eine Ansammlung von dichten Bäumen und Sträuchern am Eingang einer Lichtung. Umso mehr wunderte sich die Truppe über die wie aus dem nichts erschienene Figur auf der Lichtung. Ein deutscher Offizier, dem Anschein nach, ein abgemagerter 20 Jähriger in der falschen Kleidung, wenn man genauer hinsah. Einen seltsamen Eindruck bereitete auch die Mauser, die sich der junge Mann an die Schläfe hielt.
Man hatte ihnen bereits erzählt, dass der allmächtige Führer Nazideutschlands in den letzten Tagen den Befehl an alle seine Offiziere gegeben hatte, im Falle einer drohenden Gefangennahme sich selbst das Leben zu nehmen. Das etwas surreale Schauspiel allerdings, das sich gerade im Moment vor aller Augen abspielte, war der Beweis für diese Geschichte, surreal, da sich gerade ein paar Lichtstrahlen den Weg auf die Lichtung gebahnt hatten und schräg in das Gesicht der armen Gestalt schienen und die Lichtung insgesamt in ein seltsames Licht tauchten.
Private Benjamin Lemoine merkte, wie er sich in Bewegung setzte. Er wusste nicht warum, aber vermutlich aus Mitleid mit dem Kind, das noch etwa 10 m weit von ihm stand. Waffen und Rucksack hatte er bereits abgeworfen. Seine Schritte wurden schneller, schneller und schneller, obwohl er nur wenige Schritte auf die kurze Distanz benötigte. Wie ein Footballspieler (er selbst war zu seinen High School Zeiten ein Mitglied seines High-School Teams gewesen, hatte es jedoch nie in die erste Mannschaft gebracht) setzte er zum Sprung an, umklammerte den Bruchteil einer Sekunde später –kurz nach dem Absprung- die Taille des „Offiziers“ und riß ihn zu Boden. Dieser hatte gerade die Augen zugekniffen und aus lauter Verwunderung über den unbewaffnet heranstürmenden Amerikaner den Abzug seiner Waffe nicht betätigt. Jetzt lag die Pistole friedlich im Moos neben den ringenden Männern, bzw. neben dem Mann, der einen fast noch Knaben zu Boden drückte. Benjamin lag auf dem Deutschen, der sich fieberhaft gegen den massiven Körper des Privates zu wehren versuchte. Irgendwann ließ er jedoch davon ab und gab in gebrochenem Englisch zu verstehen, dass er sich ergab.
Am Abend schenkten sie ihm eine Tafel Schokolade. Wenige Tage später übergab man ihn der MP, die bereits die zahlreichen Kriegsgefangenen der letzten Tage auf verschiedene provisorische Lager verteilte.
Lt. Colonel a.D. Benjamin F. Lemoine trank eine Tasse Kaffee. Letztendlich hatte er es doch geschafft sich von seiner Reisegruppe zu lösen und diese ihm fremd, aber doch irgendwie bekannt vorkommende Stadt, auf eigene Faust zu erkunden. Aimeé war nicht sehr begeistert gewesen, als er die Kirche, welche die Reisegruppe gerade besucht hatte, verließ und die Stadt auf eigene Faust erkunden wollte. Nach vierzig Jahren Ehe mit 3 verschiedenen Wohnsitzen in drei verschiedenen Ländern machte das aber auch keinen Unterschied mehr. Jetzt saß er an einem weiten, gepflasterten Platz, einer unter vielen Menschen, die das Kaffee-Haus, vor dessen Türe er saß, besuchten. Die Leute hier waren auf Touristen gut eingespielt, beinahe jeder sprach Englisch, auch wenn die meisten teilweise sehr schwer zu verstehen waren und mit der Aussprache einiger Feinheiten des Englischen doch so manches Problem hatten. Die Sonne schien, der August hatte seine besten Kleider an und war zudem noch perfekt auf etwaige Gäste vorbereitet, die an seine Türe klopfen wollten. Lemoine versank in Gedanken, getragen von der augenblicklichen Stimmung um ihn herum.
Seltsam kam ihm dieses Land vor. Noch vor 40 Jahren hatten Sie es in Schutt und Asche gebombt, jetzt sah es so aus, als ob das nie geschehen wäre. Die Leute waren freundlich, jedenfalls meistens, aber wirkten sie doch auf ihn, den Amerikaner, etwas verschlossen, teilweise unhöflich. „Alles in allem ist es ein nettes Land geworden.“, dachte er sich.
Seltsam kam ihm auch dieser Mensch zwei Tische weiter vor. Er schien ungefähr fünf Jahre jünger als Lemoine, trug jedoch dieselben Erscheinungen, die das Alter nun mal mit sich brachte: Graue Strähnen, Haarausfall, braun befleckte Haut, zerfurcht von Falten, die mehr von Sorge als von Alter geprägt waren. Immer wieder hatte dieser Mensch zu ihm herübergeblickt, einmal hatten sich ihre Augen für einen kurzen Moment getroffen, dann aber wieder rasch voneinander abgwendet, um ja nicht den Anschein zu erregen, man wolle sein Gegenüber auch nur im Entferntesten beobachten. Lemoine hatte jetzt genug davon, er zog seinen Geldbeutel aus der Tasche und wollte gerade nach der Kellnerin rufen, als er die eben gemusterte Person plötzlich vor sich wahrnahm.
„Entschuldigen Sie, bitte“, sagte der Mann, „Sind Sie Mr. Lemoine?“
„Ja!“, antwortete Benjamin, „Woher zum Teufel kennen Sie meinen Namen!?“
„Na ja“, vernahm er, „Ich werde nie das Gesicht des Mannes vergessen, der mir das Leben gerettet hat...“